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KANN MAN FILME LESEN?

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Was heißt „lesen“? Im Lexikon wird dieser Begriff mit „den Sinn geschriebener oder gedruckter Zeichen erfassen“ definiert und vom „germanischen Stammwort .sammeln' abgeleitet“ ; Goethe schreibt vom Lesen, das dies „eine schwere Kunst sei, die Zeit und Mühe kostet. Das Geheimnis des richtigen Lesens ist: zu fühlen, was der Autor sagen will. T)tes ist nur möglich, wenn wir schöpferisch lesen, das heißt, wir müssen das, was in den Worten gesagt ist, durch unsere Phantasie ergänzen.“ Erst unsere Phantasie also schafft aus Buchstaben, Worten, Sätzen und Satzgebilden einen Sinn, den wir in Emotion um-setwn, in Bilder, in Weltgebilde — die jeder Lesende verschieden und andersartig als sein Mitlesender für sich allein aufbaut; denn die Vorstellungswelt jedes Menschen ist verschieden von der seines Mitmenschen — und jeder muß daher beim Lesen andere Raumgebilde empfinden und schaffen.

Was ist aber Film? Für den Menschen von heute der große Geschichtenerzähler, der ihm die Erlebnisse verschafft, die ihm der Alltag schuldig bleibt. Und ein bequemer Geschichtenerzähler — man geht einfach ins Kino und löst sich eine Karte; man braucht nicht einmal selbst zu träumen, man kann sich die Träume kaufen: „Im Kino reißt die Kamera unseren Blick mit sich fort in die Räume der Filmhandlung, des Filmbildes. Es ist, als sähen wir alles von innen heraus, ab wären wir umgeben von den Gestalten und Geschehnissen des Films. Sie müssen uns nicht mitteilen, was sie empfinden, wir sehen ja, was sie sehen, und sehen es so, wie sie es sehen. Wir betrachten alles unter ihrem Blickwinkel, wir haben keinen eigenen Standpunkt ...“ (Bela Baläzs). Oder mit anderen Worten: Die schon in bewegtes Bild umgesetzte Handlung drängt sich dem Zuschauer auf, zwingt ihn, alle eigenschöpferischen Gedankengänge und Vorstellungsversuche aufzugeben und sich willenlos den Erlebnissen hinzugeben, die ihm von der Kinoleinwand fix und fertig ins Nervenzentrum geliefert werden — und nicht nur einem Zuschauer, sondern allen, die den Film sehen, in gleich uniformiertem Schema. Sie alle werden genau das gleiche sehen und während eines Ablaufes von 90 Minuten die gleichen Empfindungen, Regungen und Stimmungen miterleben. Die Phantasie wird nicht gebraucht, sie ist abgeschaltet — und die Seele registriert daher wie ein Aufhahmeapparat, gleichgeschaltet mit soundsoviel anderen...

Buch und Film sind daher einander völlig diametral entgegengesetzt wirkende Kommunikationsmittel und die Frage, ob man Filme lesen könne, schon von vornherein ein eindeutiges Paradoxon. Man kann Filme nicht lesen, sondern nur sehen, denn sie zwingen einen eindeutig fixierten Standpunkt auf, den man beim Lesen nicht neu schaffen, variieren kann.

Zur Zeit des Stummfilms, als man infolge des Fehlens des gesprochenen Begleitwortes gezwungen war, alles nur durch optische Gestaltungsmittel auszusagen, wäre es überhaupt undenkbar gewesen, die Filmgrundlage — das Drehbuch — als eigenständiges literarisches Opus auszugeben. Wohl hat es derlei Versuche gegeben, doch war dies mehr eine exklusive Modeerscheinung für wohlhabende Snobs: Die Drehbücher besonders anspruchsvoller Filme (wie etwa zu Wienes „Kabinett des Doktor Caligari“, Wegeners „Golem“, Murnaus „Faust“ und Rutt-manns „Symphonie einer Großstadt“) erschienen in winzigen Auflagenhöhen als numerierte Liebhaberausgaben in kostbaren Luxusdrucken. Man erwarb sie als bibliophile Kostbarkeiten — doch man las sie nicht. Die letzte Form des Versuches, Kinotexte für einen größeren Leserkreis zu publizieren, entstand 1913 in dem „Kinobuch“ von Kurt Pinrhus; seither hat es — zumindest in Deutschland1 — keine systematische Publikation von Filmtexten für einen größeren Leserkreis mehr gegeben *.

Seit Ende des zweiten Weltkrieges ist auch der Film in ein anderes Stadium getreten. Seit der Stummfilmzeit, der seligen „Kintopära“, hat sich in immer zunehmenderem Maße der künstlerische Film breiteste Schichten der Intelligenz erobert: das Kino ist heute keineswegs nur mehr eine Sache der Unterhaltung oder ein Genuß für Snobs. Die modernen Regisseure bedienen sich des Films als einer Sprache. Filmautoren, wie Ingmar Bergman, Alain Resnais, Cesare Zavattini, Marguerite Duras und Federico Fellini — um nur einige bekannte Namen zu nennen —, sehen zwischen Schreiben und Filmen keinen qualitativen Unterschied. So schrieb der französische Filmkritiker Andre Bazin: „Der Film ist in das Zeitalter des Drehbuchs eingetreten.“ So ist für Robert Bresson („Das Tagebuch eines Landpfarrers“ und „Ein zum Tode Verurteilter ist entflohen“) der Film kein Schauspiel (spectacle), sondern eine Schrift (ecriture); Alain Resnais („Letztes Jahr in Marienbad“) sagt, daß er seine Filme „geschrieben“ habe wie einen Artikel für „Les Temps Modernes“, und für den Schweden Bergman ist „der Film vor allem Theater“. Solche Filme, also Werke mit ausgesprochen epischer Struktur, die das Wort bewußt verwenden und die Vorgänge auf der Kinoleinwand verfremden, sich distanzieren und als provozierend erscheinen lassen, sind mehr ein literarisches als ein optisches Oeuvre — sie kann man lesen, ja, sie sollte man lesen: „Ihre Lektüre wird möglicherweise bald ebenso zur Übung des gebildeten Zeitgenossen gehören wie das Lesen von Dramen. Man wird lernen, die literarische Würdigung des Textes zu kombinieren mit der Vorstellung vom Bild auf der Leinwand. Die modernen Filme verlangen vom Zuschauer, daß er ihre Strukturen und Dialoge von der Leinwand abzulesen vermag wie die eines literarischen Textes. Die Lektüre des schriftlich fixierten Films ersetzt das Ansehen so viel und so wenig wie die Lektüre eines Dramas den Theaterbesuch — der Zuschauer aber, der zugleich ein Leser ist, sieht mehr, sieht genauer und tiefer.“ (Enno Patalas)

In anderen Ländern hat man die Bedeutung der gedruckten Textbuchvorlage zur Unterstützung des Filmzuschauers schon länger und früher erkannt. In den USA erschienen bereits 1943

und 1945 zwei Bände Filmtexte mit den Titeln „Twenty Best Film Plays“ und „Best Film Plays of 1943—1944“, die bedeutende amerikanische Filmwerke von 1930 bis 1945 an Hand ihrer Drehbuchunterlage aufzeichneten und dem Publikum vorlegten, darunter so für die Filmgeschichte bedeutsame Werke, wie „Little Caesar“ (1930), „Es geschah in einer Nacht“ (1933), „Fury“ (1936), „Stagecoach“ (1939), „Die Früchte des Zorns“ (1940), „Mrs. Miniver“ (1942), „The Ox-Bow Incident“ (1942) und „Casablanca“ (1943). In Italien existiert seit 1955 eine Buchreihe mit dem Gesamttitel „Dal Soggetto al Film“ („Von der Idee zum Film“), die alle Entwicklungsphasen vom Ursprung bis zur Fertigstellung großer Filme in Texten, Drehbuchabdruck und Bildern festhält; darunter befinden sich — bis heute sind insgesamt 24 Bände erschienen — die kompletten Vorlagen zu „Die Nächte der Cabiria“, „Die weißen Nächte“, „Der Schrei“, „La dolce vita“, „Rocco und seine Brüder“, „Barabbas“, „Boccaccio 70“ und „Liebe 62“. In Frankreich ist der Abdruck von Filmdrehbüchern schon eine normalisierte Erscheinung auf dem Buchmarkt; es gibt ganze Serien von gedruckten Filmtexten und Textbüchern, angefangen von gesammelten Großbänden, wie „Oeuvres de Ingmar Bergman“ (mit den Texten von vier seiner wichtigsten Filme), über die Reihe „Domaine Cinema“ mit den Drehbuchtexten zu „Chronique dun Ete“ und Bunuels „Viri-diana“, vierteljährlich erscheinend, bis zu den allmonatlichen, durchschnittlich 54 Seiten umfassenden Heften „L'Avant-Scene du Cinerna“, die seit Februar 1961 in 24 Folgen die kompletten Szenarien zu bedeutenden Filmen (darunter „Zero de Conduite“ von Vigo, „Lohn der Angst“, „Kind Hearts und Coronets“, „Jules und Jim“, „Verbotene Spiele“, „Die Satansboten“, „Das Loch“, „Leon Morin, Pretre“, „Der Prozeß“, „Les Doulos“ und andere) veröffentlichten.

Und wie steht es im deutschsprachigen Raum mit derartigen Filmtexten? Mit bisher sechs Veröffentlichungen auf dem Gebiet des gedruckten Drehbuchtextes beginnt sich auch hier eine Bestrebung abzuzeichnen, die — hoffentlich — nicht nur das Interesse eines kleinen, filminteressierten Kreises findet, sondern darüber hinaus auch einem größeren Leserforum den Begriff moderner Filmkunst aufzuschließen imstande sein wird. Initiator und Eröffner dieser neuen Bewegung, „Filme zu lesen“, ist der junge Münchner Kritiker und Filmpublizist Enno Patalas, der mit einem dem Film gewidmeten Band der „Spectaculum“-Reihe des Verlages Suhrkamp „Texte moderner Filme“ den Boden vorbereitete, auf dem nun hoffentlich reiche Saat aufgehen wird. Patalas zählt in dem Buch sechs Möglichkeiten auf, Filmtexte wiederzugeben: das Expose („Hiroshima, mon amour“), das Treatment („Wilde Erdbeeren“), die Dialogliste, das Drehbuch („Citizen Kane“, „Senso“ und „Die Nächte der Cabiria“), die Filmnovelle (ebenfalls „Hiroshima, mon amour“) und das Protokoll vom fertigen Film („Lola Montez“). Mit dieser Verschiedenheit der Texte wurde auch dem unterschiedlichen literarischen Charakter der sechs aufgezeichneten Filme am ehesten entsprochen. Die Auswahl — neben mehr filmischen Texten sind mehr „literaturnahe“ gestellt, um die Einübung in das Lesen von Filmen zu erleichtern — ist vorzüglich, sie gibt Gelegenheit, die Partituren wichtiger und bedeutender Filme kennenzulernen, die teils noch nicht in Österreich zu sehen

waren, teils gerne, zumindest im Geiste, „wiedergesehen“ würden, wozu leider allzu selten Gelegenheit ist.

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Daß Alain Robbe-Grillets Text zu „Letztes Jahr in Marienbad“ (Carl-Hanser-Verlag, München) nunmehr in deutschsprachiger Übersetzung als Buch erscheinen werde, war vorauszusehen; das Drehbuch zu dem außergewöhnlichen und viel diskutierten Film — Drehbuch und Roman zugleich — ist in seiner Konzeption schon als eigenständige Dichtung zu bezeichnen. Im Buch wie im szenen- und wortgetreu umgesetzten Film wird die herkömmliche Technik des linearen Handlungsablaufes durch eine neue Stilform ersetzt: Die Zeit wird nicht als objektive, sondern als subjektive Erscheinung aufgefaßt und die Zeitlosig-keit des Geschehens bewußt durch eine Kombination optischer und akustischer Effekte, durch mimische und gestische Stilisierung und durch die Sonderbarkeit des Dialogs hervorgerufen. Hier liegt die fast vollkommene Verschmelzung von Roman und Film, Literatur und Bildbewegung vor: „Resnais hatte so vollständig wie möglich die von mir vorgesehene Montage, die Bildbegrenzungen und die Bewegungen der Kamera beibehalten, nicht aus Prinzip, sondern weil er sie auf die gleiche Weise empfand wie ich... wir hatten sogar die Absicht, unsere Namen gemeinsam unter das Ganze zu setzen, ohne dabei Drehbuch und Inszenierung voneinander zu trennen.“ (Robbe-Grillet)

Und zum Abschluß und gutem Beginn einer internationalen Maßstäben annähernden Popularisierung von künstlerischen Filmtexten erschien kurz vor Jahreswechsel zum erstenmal in Taschenausgabe eine Textbuchreihe, „Cinemathek“, herausgegeben von Enno Patalas im Marion-von-Schröder-Verlag, Hamburg, in der die ersten vier Bände, „Wie in einem Spiegel“ (von Ingmar Bergman), „Schweigen ist Gold“ (von Ren6 Clair), „Viridiana“ (von Luis Bunuel) und „M“ (von Fritz Lang) bereits vorliegen. Jährlich sollen vier Bände, die ein ausführliches Vor- und Nachwort, das vollständige Drehbuch und zahlreiche Bildhinweise enthalten, gedruckt werden. Wer die Filme der neuen ausgezeichneten Reihe gesehen hat, kann sie in allen Details wieder miterleben — und wer die Filme nicht kennt, wird sie sich beim Lesen deutlich vorstellen können. Die fachlich fundierten Einleitungen kommentieren knapp und treffend die Bedeutung der gedruckten Filmwerke und geben einen Überblick über die Persönlichkeit und das Gesamtschaffen seines Regisseurs.

Kann man also doch Filme lesen? Im Sinne eines literarischen Werkes wohl kaum; der Filmunkundige schafft sich damit ein subjektives Eigenbild, das mit dem tatsächlichen Film nur Wort- und Handlungsgleichheit besitzt, im Optischen — also im eigentlichen Sinn „Filmischen“ — vom Vorbild aber differiert. Als Ergänzung und Auffrischung des Gedächtnisses und als Vorbereitung und Studium neuer Filme und neuer Filmkunst — welche Möglichkeiten für Filmunterncht in Schule uttlwtFilm-akademien ergeben sich au? diesem Aspekt! — wird däV-Lesen gedruckter Filmdrehbücher nicht nur wertvoll, sondern vielleicht einmal sogar unerläßlich sein ...

• Auf die Form des Fümromans, d. h. der literarischen Vorlage, nach der später ein Film — eventuell von der Handlung des Romans sogar ziemlich abweichend — entstanden ist (z. B. die Romane Selma Lagerlöfs), sei in diesem Rahmen ebensowenig eingegangen wie auf jene etwa obskure Form der Literatur, die sich des Filmt als Grundlage bemächtigt und dessen Handlung in Romanform wiedererzählt (zum Beispiel die Filmromane Thea von Harbous ..Metropolis“ und „Das Nibelungenbuch“). Selbstverständlich existiert diese Form bereits seit der Geburt des Films, also schon über 60 lahre, und wird auch kaum ein Ende finden, obwohl weder der darnach gedrehte Film mit der Vorlage noch im zweiten Falle der „Filmroman“ mit Literatur verglichen werden kann.

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