Karl-Markus Gauß - © Foto: Imago / Skata

Karl-Markus Gauß: (Selbst-)Erkenntnis durch Schreiben

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Am 16. März erhält Karl-Markus Gauß den Leipziger Buchpreis zur Europäischen Verständigung. Auch sein neues „Journal“ bietet eine umfassende Kulturkritik an Österreich und der Welt.

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Am 16. März erhält Karl-Markus Gauß den Leipziger Buchpreis zur Europäischen Verständigung. Auch sein neues „Journal“ bietet eine umfassende Kulturkritik an Österreich und der Welt.

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Die „Journals“ von Ralph Waldo ­Emerson, dem bedeutendsten US-amerikanischen Kulturkritiker des 19. Jahrhunderts, enthalten mehr als drei Millionen Wörter, geschrieben von 1819 bis 1882. Emerson notierte sich zu diesem Projekt: „Dieses Buch ist meine Sparkasse. Ich werde reicher, weil ich hier meine Einnahmen einlege. Teilbeträge haben mehr Wert für mich, weil passende Teile da schon warten, die durch Addition zu runden Summen werden.“

Die Metapher lokalisiert den wahren Reichtum nicht auf der Bank, sondern im Journal. Einträge in Tagebüchern sind einträglich, weil kleinere Beträge zusammenkommen und etwas Größeres ergeben: Bei Emerson werden Lesefrüchte aller Art, von der kanonisierten Weltliteratur bis zum zeitgenössischen Populärroman, Begegnungen und Reisen sowie persönliche Reflexionen zu runden Summen addiert. Die Addition ergibt in dieser Sparkasse nicht nur ein Mehr, sondern etwas Neues, etwas Ganzes. Erst die angesparte Akkumulation der Einträge, so zeigen Emersons publizierte Texte, ergab die beeindruckende kritische Synthese seiner Zeit.

Thematische Vielfalt

Die Journale von Karl-­Markus Gauß, die er seit dem Beginn des Jahrtausends publiziert, sind nicht mit jenen Emersons vergleichbar, die Zeit seines Lebens unveröffentlicht blieben. Der vor uns liegende neue Band basiert, so werden wir im Epilog informiert, auf 20 Heften des Zeitraums 2014 bis 2019. Aus ihnen wurde schließlich das Journal „gebaut“. Aber die generische und thematische Vielfalt deutet ebenfalls auf intellektuelle „Einnahmen“: Erst zusammen ergibt sich Einsicht in das Gemeinsame der heterogenen Phänomene und es wird daraus eine Summe – Zeitkulturgeschichte.

Gauß ist noch kaum mit Emerson verglichen worden, was u. a. mit den von ihm fokussierten Teilen der Erde zu tun hat, die geografisch und ideologisch weit von der Neuen Welt entfernt liegen. Ihre herausragende Stellung als Essayisten, ihr Hang zur Aphoristik und ihre radikale Kulturkritik machen eine parallele Lektüre aber durchaus aufschlussreich.

Der Titel dieses Journals, „Die Jahreszeiten der Ewigkeit“, hat eine metaphysische Komponente, auch wenn diese im Text selbst zunächst herabgesetzt wird. „Sie gefiel mir nicht, diese Ewigkeit“, schreibt der Erzähler rückblickend auf seine Kindheit, „die Zeit war mir lieber, und ich bin, solange es nur ging, ihr Anhänger geblieben, der sie gegen die Ewigkeit verteidigen will.“ In einer Zeit, in der uns (etwa von Googles Chefingenieur Ray Kurzweil) durch „elektronisch zusammengebastelte Übermenschen“ das „ewige Leben“ hier unten droht, „geht“ es allerdings nicht mehr so richtig und das religiöse Moment wird interessanter.

Der ­Atheist Gauß ist unzufrieden mit der ideologischen Genossenschaft, in der er sich befindet. Das Thema zieht sich durch das gesamte Buch. Der Autor macht sich sogar die Mühe, Marxens meist verdrehtes ­verschwörungstheoretisches Diktum von der „Religion als Opium des Volkes“ berichtigend zu ergänzen: „Die Religion ist der Seufzer der bedrängten Kreatur.“ Emersons terrestrische Metaphysik, die nicht bezweifelte, dass Jesus ein göttliches Wesen war, weil ja doch jeder Mensch göttlich ist, ist hier nicht weit.

Populismus und Trumpismus

Ein großes Thema von Gauß’ Buch ist das transatlantische politische Doppelphänomen Kurz/Trump und der beiden Regierungen eigene Populismus. Dass „Pop sich zum Populismus erweitern“ würde, war etwas, das sich Gauß „als Junger keineswegs vorstellen konnte“. Schon Emerson haderte mit diesem Widerspruch. Der populistische, trumpistisch anmutende Präsident des 19. Jahrhunderts, an dem Emerson sich abarbeiten musste, hieß Andrew Jackson (dessen Bild Trump auch prompt im Oval Office aufhängen ließ). Auch Gauß ist klar, dass es bei Trump um ein weiterreichendes Problem geht, das sogar in die alte Welt reicht: „Der Affekt, der Trump an die Spitze gespült hat, ist längst in allen Sphären der Gesellschaft Europas zu verspüren, selbst bei jenen, die dem amerikanischen Rabauken nicht trauen.“

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