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Kein Abschied fur immer

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Wenige Wochen vor seinem Tod am 30. Jänner 1968 übersandte Franz Theodor Csokor der Redaktion der „Furche“ den nachfolgenden Essay. Es ist der Text eines Vortrages, den der angesehene österreichische Dichter und Präsident des österreichischen PEN-Zentrums auf Einladung der Deutschen Akademie in Darmstadt gehalten hat.

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Wenige Wochen vor seinem Tod am 30. Jänner 1968 übersandte Franz Theodor Csokor der Redaktion der „Furche“ den nachfolgenden Essay. Es ist der Text eines Vortrages, den der angesehene österreichische Dichter und Präsident des österreichischen PEN-Zentrums auf Einladung der Deutschen Akademie in Darmstadt gehalten hat.

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Wollte man diese nach den unmittelbaren Erfahrungen unserer Generation mit der Weltgeschichte höchst aktuell gewordene Frage präzise beantworten, so gerät man bei der Wahl des Standortes schon in Verlegenheit. Es beschäftigte sich nämlich fast jeder der richtungweisenden Romane unserer Epoche bis zu Lampedusas „Gattopardo“ (Der Leopard) nicht mit der Zeit, darin wir leben und .lebten. James Joyce und Hemingway in ihren Hauptwerken ausgenommen: So muß Robert Musils Torso „Der Mann ohne Eigenschaften“ mit seinem „Kakanien“, dem Österreich vor 1914, ebenso als historischer Roman gewertet werden wie Faulkners „Absalon“ aus dem Sezesr sionskrieg oder Heimito von Dode-rers um den Brand des Wiener Justizpalastes von 1927 gelagertes Buch „Die Dämonen“, von seiner geschlossensten Erzählung „Der Umweg“ ganz zu schweigen, die eine historische war.

Zwei der epischen Pfosten der Dichtung des neunzehnten Jahrhunderts sind historische Romane gewesen und auch ungefähr gleichzeitig entstanden: Gustave Flauberts „Sa-lämmbo“, dem Leo Tolstois „Krieg und Frieden“ folgte. Den beiden Autoren blieben die Jahre währenden Studien gemeinsam, die Flaubert in dem Raum des zerstörten Karthago betrieb, und Tolstois Reise über die Napoleonischen Schlachtfelder von Rom bis Moskau, wobei er sich unter anderem in dem später zu so trauriger Berühmtheit gelangten Braunau am Inn aufhielt. Aus eigener Kriegskenntnis rekonstruierte er an Ort und Stelle die Geschehnisse für sein Werk, das er nach siebenmaliger Überarbeitung vollendete. Und Flaubert gelingt durch archäologische Autopsie die glaubhafte Wiedererrichtung der Millionenstadt Karthago, von der heute nur dürftige Trümmer vorhanden sind, wenn er sich in seinem Stil dazu auch der Farben und Formen Delacroix' bedient. Und der „mittlere russische Adel“, aus dem später die Erhebung der Dekabristen kam (Tolstois ursprüngliches Vorhaben war ein Dekabristen-roman), wie die Männer um den einäugigen Feldherrn Kutusow, der der „Großen Armee“ des Korsen den Untergang bereitete, und der Kreis der namenlosen „Gottesleute“, diese drei Welten, die in Tolstois „Krieg und Frieden“ ständig wechseln — sie sind die tektonischen Elemente eines in der Vergangenheit heimischen Kunstwerkes, dem sie durch eine solche Gliederung zu unmittelbarster Gegenwärtigkeit verhelfen. Und mit dem vorletzten Träger des literarischen Nobelpreises Ivo Andric wurde ein Meister des aus der Chronik entwickelten historischen Romanes preisgekrönt, der damit eine Tradition seines Volkes fortsetzte: Jugoslawiens nationale Epen um die Schlacht am Amselfeld, die das serbische Zarat vernichtete (dieses nationale Epos besingt wie das deutsche im Nibelungenlied eine Niederlage) und die ihr folgende türkische Fremdherrschaft. Es waren Dichtungen, die die „Guslaren“, diese wandernden Homere des Balkan, noch in unserem Jahrhundert nach mündlichen Überlieferungen auf Straßen und Plätzen zum Ein-Saison-Instrument der Gusla sangen, sie schufen die Atmosphäre für Ivo Andric' Hauptwerke „Die Travniker Chronik“ (in der deutschen Übersetzung „Veziere und Konsuln“ genannt) und „Die Brücke über die Drina“. Es sind Romane bei Andric, deren Held die Zeit wird, die wechselnde Zeit, darin die Menschen auf- und untergehen wie die Gestirne, und ihr Ende gleicht ihrem Beginn unter Schmerzen und Blut aus dem Mutter- schoß und in dem Erdenschoß, doch dazwischen liegen Leid, Angst, Sehnsucht, Einsamkeit und zuweilen auch Liebe und Güte — so lösen sie einander ab durch die von Geschichte lärmenden Jahrhunderte, doch die Stadt bleibt, darin sie hausen, und die Brücke, die sie schufen, um einander begegnen oder auch überfallen zu können.

Was uns den historischen Roman als ausgeleiert empfinden ließ, galt eigentlich der Romanform als solcher, die uns nach allen Richtungen erschöpft schien, sowohl im zeitlichen Ablauf des Hintereinander wie in der kausal bedingten und verknüpften Darstellung. Hier war — und das besonders im historischen Roman — eine routinemäßige Gleichförmigkeit eingerissen, ähnlich der literarischen Geschichtsmalerei eines Piloty oder eines Matejko, dessen schriftstellender Nachbar Henryk Sinkiewicz heißt. Auch Gelehrte begannen nun zu dichten wie Dahn und Ebers, die ihre Prosawerke mit wissenschaftlichem Ballast überfrachteten. Bedeutende Ausnahmen wie C. F. Meyer ändern nichts daran. Zugleich suchte eine aus der Französischen Revolution geborene nationalistische Massenbewegung, die auch auf andere Erdteile übersprang, in der nun romantisch ausschwärmenden Dichtung nach Zeugen und Heroen, so daß sich der Roman von der Erziehung zur Hui.ianität bald anderen Idealen zuwandte, die sich nicht so sehr den toleranten Menschen als die zweckbedingte Form, in die der Mensch nun für seine neue Aufgabe gebracht werden sollte, zum Ziele setzten. So wurde es möglich, daß pun auch die utopischen Romane aufblühten, gewissermaßen als nach der Zukunft ausgerichtete historische Romane, die von Musterstaaten mit einer verbesserten sozialen Struktur träumten, von einer Menschheit der Phalansterien mit einem an Stelle der Religionen getretenen Entwicklungsglauben, den die Hegeische Spirale verbürgte. Wir wissen heute, wie sehr es anders kam und daß es in der Geschichte der Menschheit zwar eine dauernde Veränderung gibt, aber keine Entwicklung, es sei denn, man stelle hinter jede Errungenschaft eine Schildwache, soll sie nicht das nächste Geschlecht schon vergessen. Das Näherdringen der Geschichte an den einzelnen stigmatisiert unsere Zeit. Die heute von ihr gestürzten Werte hatten einst Herr-schergeneratiönen, Staatslenker und Feldherren zu Geschichtsträgern geformt, die „Masse Mensch“ wurde damit noch nicht beschäftigt. Es bedürfte zweier Weltkriege und der durch sie in die Breite getriebenen Gotteskrise, um diesen Schutzdamm zu zerstören. Nun blickte jedermann, wie mir der Dramatiker Georg Kaiser während unserer Exdlzeit sarkastisch schrieb, der Geschichte persönlich ins Glasauge. Das Pathos der Vergangenheit und ihre darin verkündeten Menschenbruderschaftsbegriffe gingen ebenso in Scherben wie die mit so vielen Opfern erkaufte Erklärung der Menschenrechte. Denn jene über uns verhängte Geschichte erreichte nun jeden einzelnen von uns und machte ihn mitschuldig an sich; sie roch nach Blut und Brand, sie regnete als Feuer vom Himmel herab und wirbelte im Dampf verkohlenden Menschenfleisches aus den Krematorien zum Himmel. Die Gireuel des Söldnerkrieges aus „Salämmbo“, das Erlebnis des Fürsten Andrej auf dem Napoleonischen Schlachtfeld in „Krieg und Frieden“ — sie wurden Wirklichkeit an unserer eigenen Haut. Wo war für uns die Methode gegeben, die eigene Erfahrung zu gestalten, welche Worte galt es für das Unsagbare zu wählen, welche Begriffe, um das Unausdenkbare sichtbar zu machen? Wie konnte man in dieser Gegenwart Erlittenes gleichnishaft in die Vergangenheit versetzen?

Hermann Broch hat das nach dem makabren Erlebnis durch die eigene Haft versucht, als er eine alte Skizze „Die Heimkehr des Vergil“ zu einem großen Roman ausbaute. „Der Tod des Vergil“. Der sterbende Dichter kehrt heim aus Athen, wo er sich sein Grab gewünscht hätte, auf italische Erde nach Brundisium. Dort, bei der Landung, begegnet er im Hafenviertel der Wirklichkeit in ihrer brutalsten, häßlichsten Form. Das Gefühl der Unzulänglichkeit seines Werkes ihr gegenüber läßt in Vergil den Wunsch der Vernichtung der Handschrift seiner Aeneis reifen, den ihm Octavianus Augustus aus selbstischen Motiven nicht erfüllt. Dieses seltsame Buch, halb Bericht, halb monologisierende Beichte bei einem Minimum an fortschreitender Handlung, erfüllt von Reflexionen und Konfessionen seines Helden, der sich vor dem ihm unfaßbaren Phänomen des Todes innerlich auszuloten trachtet, läßt dadurch das fast zweitausendjährige Alter seiner Figuren vergessen, die zeitlos in unser Bewußtsein hineinragen, nicht nur Vergil, auch sein Gegenspieler: der Kaiser. Die Autopsie des Autors in seinem Werk löscht die Vergangenheit aus, man fährt in das Bergwerk einer Menschenbrust ein und spürt „Tua res agitur“.

Ein Zeitgenosse Brochs, der Dichter Robert Musil, hat gleichfalls in einer historischen Erzählung, in der Renaissancenovelle „Die Portugiesin“ etwas Ähnliches gewagt. Und auch die Josefsromane Thomas Manns in ihrer großen Konzeption und Mal-pedusas hinreißender „Leopard“ sind zu einer Gattung des historischen Romanes zu rechnen, der eine Wirkung in die Zukunft gesichert scheint wie den eingangs genannten Werken Tolstois und Flauberts. Und nicht zu vergessen ist hier der skurrile Romain seit dem „Simplizissimus“ und dem „Don Quijote“ über De Costers „Til Ulen-spiegel“ immer wiederkehrend, der in dem epischen Spätwerk Amolt Bronnens, „Aisopos“, den denkwürdigen Abschluß eines hochbegabten, doch nach verhängnisvollen politischen Irrfahrten knapp vor seinem Hingang der humanistischen Philosophie der Vorsokratiker sich nähernden Autors bedeutet. Und um noch einen verewigten Dichter mit den zwei mir wesentlichsten Büchern seines Werkes zu nennen, Kasimir Edschmid — wie gegenwärtig macht er uns in seinem Roman „Der Marschall und die Gnade“ in einem beinahe zweihundert Jahre zurückliegenden ungestümen Milieu, das sich freilich bis heute wenig geändert haben dürfte, den Marschall Simon Bolivar, der der Washington Südamerikas hätte werden können, wäre er nicht Bolivar und seine Heimat nicht Südamerika gewesen, so daß er als Emigrant eben des Landes starb, das er zuerst von der spanischen Fremdherrschaft befreit hatte! Und wie uns nahe wirkt in Edschmids anderem Buch „Wenn es Rosen sind, werden sie blühen“ das aus der Zeitbefangenheit seiner Freunde und Feinde geschaute Genie Georg Büchner, der jene, die sein revolutionärer Elan ins Verderben riß, über der Sorge für sein eigenes bedrohtes Werk fast vergaß und wenige Tage vor dem Selbstmord seines Freundes Weidig im Kerker in seinem Züricher Exil dreiundzwanzig jährig einer tückischen Krankheit erlag!

Natürlich bedingt eine solche neue Sicht der Geschichte als Eingreifen jenseits des einzelnen gelegener unberechenbarer Kräfte im historischen Roman eine „Relativität der Zeit“ an Stelle des chronologischen und kausal bedingten Ablaufes, wie er sich beim Drama etwa in der Helena-Handlung des zweiten Teiles von Goethes „Faust“ manifestiert, wo sich Antike und Proto-renaissance der Kreuzritterherrschaft auf dem Peloponnes vermengen. Manchmal werden auch wissenschaftliche Terminologien zugezo-.eenJ;l,e£w>),rj$renn Bx£eh:,.Jniv; seine Romanitrilogie „Die Schlafwandler“ Essays über den Wertzerfall einbaut. Oder das Tempo der in farbiger Verkürzung gehaltenen Diktion wird gesteigert, beispielsweise in der schon genannten Erzählung „Die Portugiesin“, darin dem sonst peinlich klaren und nüchternen Robert Musil ein dichterischer Rausch der Sprache glückt, wie er ihn später nicht mehr erreicht hat. Und was den eingangs erwähnten Torso „Der Mann ohne Eigenschaften“ betrifft, der heute zu Weltruhm gelangt ist, so urteilt Musil darüber im Nachwort: „Dieses Buch ist unter der Arbeit und unter der Hand ein historischer Roman geworden, er spielt vor fünfundzwanzig Jahren. Er ist immer ein aus der Vergangenheit entwickelter Gegenwartsroman gewesen, jetzt aber ist die Spanne und Spannung sehr groß ...“

Schon durch diese wenigen Beispiele hoffe ich also den historischen Roman als gültig auch noch für uns erwiesen zu haben. Wesentlich bleibt nur dabei, Vergangenes durch die Intensität und die Bezüglichkeit auf uns zu einem gegenwärtigen Anliegen zu wandeln. Der historische Roman von heute und morgen hat sich demnach nicht auf einen darin behandelten Einzelfall zu beschränken, er sollte vielmehr jenen als Ergebnis seiner Zeit aufzeigen: daraus lassen sich ohne doktrinäre Gewaltsamkeiten die Parallelen zu unseren Tagen spüren. In „Krieg und Frieden“ geschieht das durch die drei Welten, die Pierre in seiner Menschwerdung durchleben muß, die des mittleren Moskauer Adels, des Feldlagers Kutusows und der „Göt-tesleute“, in „Salämmbo“ durch die Schilderung der Ausrottung des Söldnerheeres und des Martertodes seiner Führer, die an die Schrecken der Vernichtungslager von Auschwitz und Maidanek anklingt, und im „Tod des Vergil“ aus den Dialogen des Dichters mit dem an sein Sterbelager geeilten Octavianus Augustus, der auf die Glorifizierung seines über den Tod des Cicero und über zweitausend ermordeten Politikern errichteten Friedensstaates mit dem geschlossenen Janustempel und der Ära Pacis durch die Aeneis nicht verzichten will.

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