Jáchym Topols Roman "Nachtarbeit" schärft die böhmische Ortskenntnis des Lesers.
Ein tschechisches Provinznest 1968 - versoffene Männer und heimliche Geschichten, in denen die triste Geschichte herumvagabundiert: Der SS-Mann Kunert geistert durch den Wald, ein Soldat hat sich aufgehängt, das Mädchen Kvíta wurde als aufgedunsene Wasserleiche gefunden. Eine archaische Dorfgemeinschaft ohne Idylle, immer ist jemand zu Denunziation und Verrat bereit. Und ein Frauenleben, das sich in Verse fassen lässt: "Bis sechse stutz ihnen die Flügel, bis zwölfe verpaß ihnen Prügel, bis sechzehn nimm sie an die Zügel, nach zwanzig füllt wer den Schoß, und du bist sie gerne los." Und die alte Vettel mit der Nadel, die die geheimen Abtreibungen durchführt. Die Töchter wissen nicht, dass schon ihre Mütter bei ihr waren. Mit einem Wort: "Ein zauberhaftes Land, mein Böhmen, ganz ehrlich, und ich schwör's: die Kombination aus Katholizismus und Kommunismus in der allerdegeneriertesten Form."
So hat Jáchym Topol, Dissident von Jugend an, daher Heizer und Lagerarbeiter, zugleich eine Kultfigur des literarischen und musikalischen Underground vor 1968 und heute der bekannteste tschechische Autor seiner Generation, Zásmuky zur Bühne seines letzten Romans gemacht. Das gleichermaßen reale wie imaginäre Zásmuky im Nordosten Böhmens, wo Polen nicht weit, aber eine unbekannte Welt ist; und das nahe Deutschland unvorstellbar. Schon Prag, mit Neid und Hass betrachtet, scheint unendlich weit. Von dort sind der dreizehnjährige Ondra und sein Bruder Kamil hierher gekommen. Ihr Vater ist Erfinder und bastelt an einer geheimnisvollen Maschine, die das Wetter beeinflussen können soll. Jetzt, nach der russischen Invasion, wollte er die Kinder in seinem Heimatdorf in Sicherheit bringen, während die Mutter auf Entzug ist.
Aber versprengte russische Einheiten tauchen auch hier auf. Die Jungen lauern ihnen mit Schleudern hinter der Böschung auf. Ondra muss unter ihnen seine Mutproben bestehen, um anerkannt zu werden. Er verliebt sich in die Wirtstochter Zuza. Aber das alles sind nur Fragmente einer Geschichte, die ein frei mäandrierender Sprachfluss schemenhaft zutage fördert. Man kann schon die Orientierung verlieren in diesem Text, denn er zerfällt in viele Texte, und nicht immer ist klar, in welchen man da beim Lesen gerade gespült wurde. Zumindest jeder Nicht-Tscheche hat Orientierungsschwierigkeiten, und sie beginnen schon bei den vielen Namen. Diese Warnung ist man dem Leser schuldig.
In jedem Fall aber ist diese Prosa, die vom deutschen Feuilleton durchgehend gelobt wurde und deren Übersetzung schon durch die kohärente Übertragung des Jugend-Jargons besticht, eine paradigmatische Erkundung einer zentraleuropäischen Landschaft. Sie macht deutlich, dass der Kommunismus mehr war als ein politisches System, sondern dass die konsequente Abschottung und der Zwang zur Verheimlichung alle Mikrobereiche der Gesellschaft konstituiert und ein individuelles Entkommen unmöglich gemacht hat. Jetzt liegt Zásmuky im Herzen der EU, und der mühsame Umweg durch das unübersichtliche Dickicht dieser hochliterarischen Heimatkunde schärft unsere Ortskenntnis.
NACHTARBEIT
Roman von Jáchym Topol
Aus dem Tschechischen von
Eva Profousová und Beate Smandek.
Suhrkamp Verlag, Frankfurt 2003
313 Seiten, geb., e 23,60