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Kein Gulasch-Kommunismus

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In Bukarest aber huldigt man nicht dem „Gulasch-Kommunismus“, den Chruschtschow in Ungarn verkündete und den die Moskauer „Ekono-mitscheskaja Prawda“ erst jetzt wieder bekräftigte, indem sie die These vom ewigen Vorrang der Schwerindustrie als dogmatisch abtat... Anders als die Ungarn halten die Rumänen an dieser Bevorzugung fest — mit der Folge, daß der rumänische Durchschnittsbürger zwar heute weniger verdienen und verzehren kann als der ungarische, jedoch Rumäniens Industrieproduktion im letzten Jahr um 14 Prozent, das nominelle Volkseigentum um 10 Prozent und die Investitionen um 11 Prozent anstiegen, die entsprechenden Zahlen für Ungarn aber nur neun, vier und sieben Prozent Zuwachs zeigen.

Jedenfalls bedarf Rumänien offenbar als einziges Land im europäischen Osten keiner planwirtschaftlichen Reformen, und es hat — dennoch — als einziges keine Verlangsamung des industriellen Wachstums zu beklagen. Jeder Besucher kann das beobachten, — und es nötigt den Managern westlicher Konzerne verständlicherweise Achtung ab. Sie sollten jedoch auch den Preis nicht übersehen, den allerdings nicht sie bei ihren Geschäften, sondern die rumänischen Bürger mit Verzichten zu zahlen haben. Auch mit einem Maß an polizeilicher Überwachung, das sich nur langsam und weniger als irgendwo sonst in Osteuropa lockert. Die runden Wachtürme an allen Straßenkreuzungen des Landes sind wie Symbole. Coca-Cola und „Le Monde“ im Bukarester Ausländerhotel sind nur schwacher Abglanz einer Hoffnung, die sich in Gesprächen — mit mißtrauischen Seitenblicken — kundtut.

Der Gheorghiu-Dej-Mythos

Alle, sogar der unzufriedene Bauer und der ungeduldige Student, sprechen von ihm wie von einer mythischen Figur; sein Bild, mit Blümchen

geschmückt, hängt in mancher Stube neben der Ikone, und selbst der heftigste Antikommunist, der seinen Groll entlädt, läßt über ihn nichts kommen: Gheorge Gheorghiu-Dej. Der tote Parteichef Rumäniens wirkt über das Grab hinaus wie ein Katalysator alles dessen, was zwanzig Jahre kommunistischer Herrschaft an Unzuträglichem brachten — und wie ein Symbol aller Besserung, die (so will es die Sage) nur deshalb bislang nicht vollkommen war, weil Gheorghiu-Dej zu lange unter dem Druck der sowjetischen Freunde stand...

Dieser Mythos, der mir in Stadt und Land, oft in seltsamsten Formen, begegnete, bildet heute — neben der wirtschaftlichen Kraft — das große psychologische Kapital der rumänischen Kommunisten. Der besondere Vorteil dabei liegt auf der Hand: Gheorghiu-Dej brauchte nicht wie Kädär einen Aufstand liquidieren, nicht wie Gomulka eine Reformbewegung kanalisieren, er mußte nicht wie Novotny in der Tschechoslowakei weitere Beweise liefern, er hat nicht wie Ulbricht die Periode des Stalinismus überlebt — er hat sie beendet und lebt selbst nicht mehr. Was überlebt, ist seine Gloriole — und natürlich die praktisch-politische Weichenstellung. In kühler Distanz vom Volk, ohne sentimentale Anbiederungen, mit denen Kommunisten in anderen Ländern gerne operieren, wird jetzt beides von dem Nachfolger, dem 47jährigen Nicolae Ceausescu, gehandhabt. „Die Wege, die wir einschlagen werden, sind nicht im ganzen bekannt“, sagte Ceausescu freimütig Anfang Juli vor den ölarbeitern in Ploiesti und deutete damit an, daß er sich die Hände im einzelnen freihalten will; doch über das Ziel ließ er keinen Zweifel: „Wir denken nicht daran, den Schritt zu verlangsamen, sondern beschleunigen unseren Aufstieg zu den

Gipfeln der Zivilisation — der kommunistischen Gesellschaft.“

Der Parteitag am 19. Juli setzt einige wichtige Wegmarken für diesen Kurs. Das Land, das nun in „Sozialistische Republik Rumänien“ umbenannt wird, erhält eine neue Verfassung; die Partei, die künftig nicht mehr Arbeiter-, sondern (offenherziger) Kommunistische Partei heißt, gibt sich ein neues Statut. In beiden Dokumenten — die von der Bevölkerung mit fast astrologischem Interesse studiert werden — spiegeln sich die Wandlungen und ihre Grenzen auch in der Zukunft. Das Bekenntnis zum „Weg der Großen Sozialistischen Oktoberrevolution“ im bisherigen Statut ist einfach gestrichen worden; statt dessen ist von einer Anwendung des Marxismus-Leninismus „gemäß den spezifischen Bedingungen und Besonderheiten unseres Landes“ die Rede. Nach innen jedoch verhärtet sich die Parteidisziplin für die 1,4 Millionen eingeschriebene Kommunisten: War im alten Statut das einfache Recht zur Kritik an anderen Parteimitgliedern eingeräumt gewesen, so wird jetzt solche Kritik nur „zwecks Verbesserung der Arbeit“ erlaubt; ein Abschnitt, der zu „scharfer Kritik“ auf Parteiversammlungen ermutigte, wurden ganz gestrichen. Schließlich stellt ein neuer Abschnitt XI. des Statuts unverblümt fest: „Die Partei leitet die gesamte Tätigkeit der Staatsorgane.“ Folgerichtig wird deshalb im Artikel 3 der neuen Verfassung die Partei als „führende politische Kraft der gesamten Gesellschaft“ fixiert.

Vorsicht bei Vorschußlorbeeren

Wenn westliche Kommentatoren in der neuen Verfassung Rumäniens „liberale Tendenzen“ entdecken, weil da ein Katalog von Grundrechten (Presse-, Versammlungs- und Redefreiheit) auftaucht, so übersehen sie wohl den Hinweis im gleichen Absatz, daß solche Freiheiten „nicht zu Zwecken benutzt werden dürfen, die der sozialistischen Ordnung zuwiderlaufen“. Der nämliche Katalog fand sich auch schon in der neuen tschechoslowakischen Verfassung von 1960, ohne daß er damals einen innenpolitischen Klimawechsel bezeichnet hätte. Neu aber ist in der rumänischen Verfassung die Habeas-Corpus-Klausel, die Verhaftungen ohne Gerichtsbeschluß auf 24 Stunden begrenzt. Es ist ein Zeichen der Tendenz zu korrekten Beziehungen, die von der Staatsmacht zur Bevölkerung angebahnt wurden.

Beides, die bewußt gestraffte, verfassungsrechtlich befestigte Parteidiktatur und der korrekte, leichter gehandhabte Zügel der Machtausübung — jedes dieser Elemente scheint der Bukarester Parteiführung notwendig zu sein, sie will kein inneres Risiko eingehen, wenn sie sich auf internationalem Parkett erstaunlich neutralistisch gebärdet: Denn zum erstenmal beteuert eine kommunistische Verfassung nicht nur Freundschaft zu den Bruderländern (doch nicht etwa Anschluß an das „sozialistische Weltsystem“!), sondern im gleichen Atemzuge auch „Zusammenarbeit mit den Ländern anderer sozialpolitischer Ordnung“.

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