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Keine Diskussion über Schuld und Sühne
Vor 20 Jahren endete der Vietnamkrieg. Das Land der aufsteigenden Drachen hat die Flucht aus der Vergangenheit angetreten.
Vor 20 Jahren endete der Vietnamkrieg. Das Land der aufsteigenden Drachen hat die Flucht aus der Vergangenheit angetreten.
Wir müssen in die Zukunft blicken”, sagt Nga mit dem Brustton der Überzeugung. Die Diskussion ist in den Vietnam-Krieg gemündet, in die Wunden, die das Militärengagement der USA geschlagen hat und die noch nicht verheilt sind. Diesen stereotypen Satz bekomme ich auf meinen Streifzügen durch Vietnam noch öfters zu hören, vor allem aus dem Munde junger Menschen wie der 20jährigen Studentin aus Saigon. Die jungen Vietnamesen der Nachkriegsgeneration ersehnen den Anschluß ihrer lange isolierten Heimat an die Welt.
Im Schoß ihrer Familien haben freilich die meisten Vietnamesen ihr persönliches Kapitel Vergangenheit zu bewältigen. Das Mädchen Nga ist so ein „Produkt des Krieges”. Ihr Vater war mit der kommunistischen Volksarmee vom Norden südwärts gezogen, in Saigon - heute Ho-Chi-Minh-Stadt heiratete er eine Südvietnamesin. Sein Bruder fiel bei Qui Nhon im Kampf gegen die Amerikaner. Als aktiver KP-Funktionär sieht er es nicht gerne, daß seine Tochter mit einer Ausreise in die USA liebäugelt. Dort lebt ein großer Teil der Familie von Ngas Verlobtem. Sie waren im Bruderkrieg auf seiten des US-gestützten Süd-Regimes gestanden.
Die kommunistische Regierung bemüht sich unterdessen, das Andenken an den Krieg und seine Opfer wachzuhalten. Soldatenfriedhöfe und Kriegerdenkmäler durchziehen das ganze Land, das in einem erbarmungslosen zehnjährigen Waffengang zwei Millionen Tote zu beklagen hatte. Jede größere Stadt verfügt über ein Kriegsmuseum, in dem verrostete US-Panzer und Militärhubschrauber zur Schau gestellt werden.
Den Amerikanern, die in wachsender Zahl ihr ehemaliges Trauma-Land bereisen, schlägt keine Feindseligkeit entgegen. Die Feinde von einst sind als Investoren hochwillkommen, seit vor knapp einem Jahr die Regierung in Washington endlich das Wirtschaftsembargo aufhob. Manche US-Touristen murmeln ein verlegenes „I am sorry”, wenn sie Gedenkstätten besichtigen, erzählt mein Guide. „Wir selbst geben keinen Kommentar ab”, erläutert er die offiziellen Richtlinien Hanois. Immerhin verlor die damals feindliche Supermacht auf den Schlachtfeldern Vietnams selbst 58.000 Mann.
Dennoch wurde im Hinblick auf den bevorstehenden 20. Jahrestag des Kriegsendes in der vietnamesischen 1 lauptstadt mit der Errichtung eines zweiten Militärmuseums begonnen. Es soll den Sieg der kommunistischen Armee über die B-52-Bomber der US-Luftwaffe dokumentieren -anhand einer B-52, die 1972 während heftiger Bombardements von den Vietnamesen abgeschossen wurde. Erst kürzlich war das bestehende Armeemuseum von Hanoi aus Anlaß des 40. Jahrestages der Schlacht von Dien Bien Phu renoviert worden. Dort galt es, das Ende der französischen Kolonialherrschaft in Indochina 1954 zu feiern.
Was den Franzosen Dien Bien Phu, ist den Amerikanern Cu Chi. Nach My Lai, an den Schauplatz des unrühmlichen, von US-Soldaten im Vietnam-Krieg verübten Massakers, verirren sich hingegen nur wenige Besucher. Dies ist ganz im Sinne des Regimes in Hanoi, das den Blick nach vorwärts richtet. Jetzt, wo die Öffnungspolitik greift, will man alte Wunden nicht aufreißen und schon gar keine Diskussion über Schuld und Sühne in Gang setzen.
My Lai präsentiert sich heute als ein friedliches Dorf inmitten von Reisfeldern. Ein Mahnmal, ein kleines Museum und anklagende Grabsteine erinnern an den 16. März 1968. In einer brutalen Strafaktion rotteten damals G.I.s praktisch die gesamte Zivilbevölkerung des Weilers aus. Unter den 504 Toten waren 182 Frauen und 173 Kinder. Sie alle wurden verscharrt oder einfach in den Fluß geworfen, ihre Hütten angezündet. Verstreut im Gelände zeugen Grabsteine von der Auslöschung ganzer Familien. Das Gästebuch beschreibt den Horror der Besucher. „I apologize”, schreibt ein Amerikaner, der in Vietnam diente. Als ein „must” für alle Vietnamtouristen gilt andererseits eine Besichtigung des Tunnelsystems von Cu Chi.
Das unterirdische Labyrinth, das der Vietcong für Überraschungsangriffe auf die militärtechnisch haushoch überlegenen Amerikaner nutzte, zeugt vom Überlebenskampf der Vietnamesen in einem erbarmungslosen Dschungelkrieg. Gerne wird den Westtouristen heute Einblick gewährt. Unter Führung ehemaliger Vietcong-Kämpfer kriechen die Besucher affenartig durch die Röhren. Wer massig gebaut ist oder an Platzangst leidet, sollte lieber draußen-bleiben. Kaum zu glauben, daß in dem 200 Kilometer langen verzweigten Tunnelnetz unweit von Saigon zeitweilig bis zu 30.000 Menschen hausten, und daß das US-Militär, ob der perfekten Tarnung ahnungslos, genau darüber ein Basislager errichtete.
Eine vorsichtige politische Öffnung zeichnete sich bei den Kommunalwahlen im vergangenen November ab, wo erstmals auch etwa drei Dutzend völlig unabhängige Persönlichkeiten für das Bürgermeisteramt kandidierten. Bei früheren Wahlgängen hatten sogenannte unabhängige Kandidaten der Billigung durch die kommunistische Vaterlandsfront bedurft. KP-Propagandisten warnten im Wahlkampf vor der „Strategie der friedlichen Entwicklung”. Gemeint ist damit Osteuropa, wo die kommunistischen Machthaber nach der Beihe stürzten und die Wirtschaftsmisere ausbrach.
Ein vorsichtiges Signal religiöser Öffnung setzte die vietnamesische Regierung zum Jahresende, als erstmals seit der Machtübernahme der Kommunisten offizielle Weih-nachtsgrüße an die Christen ergingen. Ministerpräsident Vo Van Kiet empfing den Erzbischof von Hanoi, Pham Dinh Tung, den der Papst jüngst zum Kardinal kreiert hatte. Der KP-Politiker lobte den „Beitrag der Katholiken zur nationalen Sache”. Mit rund sieben Millionen machen die Katholiken in dem vorwiegend buddhistischen und offiziell atheistischen Staat heute zehn Prozent der Bevölkerung aus. Als Boat People waren sie nach 1975 in Scharen vor den Kommunisten geflohen. Die Zurückgebliebenen machten harte Zeiten nach Vorbild der chinesischen Kulturrevolution durch.
In Danang schildert ein Katholik das Schicksal der dort beheimateten Nonnen, Schwestern vom Orden St. Paul de Chartres. „Sie mußten ihre Schulen schließen, auf den Reisfeldern arbeiten, bekamen weder Fleisch noch Fisch zu essen.” Anderntags führen mich die Nonnen durch ihr Areal, zeigen mir ihren Kindergarten und ihre Werkstätten für Stickerei. Sie parlieren in vorzüglichem Französisch und ersuchen um Anonymität. „Lassen1 Sie sich von den vollen Kirchen nicht täuschen”, werde ich vor dem Augenschein des regen Zulaufs zu den Gottesdiensten gewarnt. Die Repression der Gläubigen, Christen wie Buddhisten, hat zwar in den letzten Jahren deutlich nachgelassen, will man den Ausländern doch ein positives Image religiöser Toleranz vermitteln. Doch Klöster und Pfarren werden weiter streng überwacht, ihre Aktivitäten eingeschränkt. Laut Menschen-rechtsgruppen sind 75 buddhistische und 22 katholische Führer noch immer in Haft. Wenn auch die Wirtschaft einen Boom erlebt - Vietnam steht erst am Anfang eines schmerzvollen Prozesses der Aufarbeitung der Vergangenheit und der Wiedergutmachung am eigenen Volk.
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