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Keine Nachsicht mit Wien!

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Liebe Bundeshauptstadt!

Dein Bittbrief (in der „Furche” Nr. 13 vom 28. März 1959) hat in den Bundesländern lebhaftes Echo gefunden! Da der Brief so offen und mit richtiger Selbsterkenntnis geschrieben war, sei es einem unbekannten Provinzler gestattet, ebenso offen zu antworten.

Liebe Bundeshauptstadt! Wir Bundesländer sind zwar stolz auf unsere schöne Hauptstadt, aber wir sind mit ihr keineswegs immer zufrieden (zum Unterschied vom Franzosen, der auf seine Hauptstadt stolz und mit ihr zufrieden ist). Was uns am meisten stört, ist, daß Wien — wie der Verfasser des Bittbriefes nachweist — im Begriffe ist, selbst Provinz zu werden. Wir anderen Oesterreicher aber wollen keine Hauptstadt, die ein vergrößertes Sankt Pölten ist, sondern wir wollen eine Weltstadt, die auch in der lebendigen Gegenwart Weltgeltung hat, wie zahlreiche Hauptstädte von anderen kleinen Staaten. Was den Oesterreicher aus den verschiedenen Bundesländern an Wien begeistert und ihn immer wieder in ihren Bann zieht, ist in der Tat — ebenso wie bei den Ausländern — nur das kaiserliche Wien: das imperiale Wien Leopolds I., Karls VI. und des Prinzen Eugen, das heimelige barocke Wien Maria Theresias, aber auch das francisceische Wien der Biedermeierzeit und das auch jetzt noch (oder jetzt erst recht wieder) großartig anmutende Wien Kaiser Franz Josephs. Der weltweite Geist dieser Stadt, ihre politische Bedeutung im mitteleuropäischen Raum, die in der großzügigen Stadtanlage und ihren Bauten zum Ausdruck kommt, ging hier in den vergangenen Jahrhunderten eine berauschende Synthese mit dem schlichten Volkstum ein, mit seinen Liedern, seinen Weinbergen, seiner Volkskunst, die auch heute noch beglückend ist.

Der Oesterreicher, der aus den Bundesländern nach Wien kommt, fragt intensiver als die anderen Besucher — oder vielleicht als der Wiener selbst —: Was hat Wien nach 1918 dieser großen, verpflichtenden Tradition hinzugefügt?

Zweifellos freut man sich, daß Ihr, liebe Wiener, nach den Zerstörungen des zweiten Weltkrieges die Bauten, die für jeęlen Oesterreicher Symbol seines Landes und seiner Geschichte sind — den Stephansdom, die Bundestheater, die Museen, die Schlösser —, so rasch aufgebaut habt (allerdings auch mit den Steuergeldern und Spenden der Provinz!) und sicherlich besser instandhaltet, als dies in der Ersten Republik der Fall war. Aber man kann sich des peinlichen Eindrucks nicht erwehren, daß Ihr dies weniger aus echtem Patriotismus getan habt, sondern deshalb, weil Ihr erkannt habt, daß man damit ein glänzendes Geschäft machen kann. Und das ist das zweite, was jeden echten Oesterreicher, an seitier Hauptstadt stört: daß man überall das Gefühl hat, daß alles nur Geschäft ist und daß man rücksichtslos die Werte, durch die Wien groß geworden ist, opfert, wenn man mit ihnen ein Geschäft machen kann, daß man die ganze Wiener Tradition kommerzialisiert und in Kleingeld umwechselt. Dies ist nicht österreichisch! Das sich in Wien breitmachende Managertum macht sich nicht gut und hat bei weitem nicht das Format wie etwa in Düsseldorf oder Hamburg, in Mailand oder Zürich.

Früher wurde Wien nicht nur geschätzt, sondern geliebt, weil es eine Stadt mit Herz war. Jetzt wird auch das Herz Wiens nur für geschäftliche Zwecke mißbraucht, wobei in der „Provinz” besonders übel vermerkt wird, daß hierbei Praktiken gehandhabt werden, die früher nur östlich von Bukarest üblich waren. Zweifellos hat sich, was Korrektheit und Sauberkeit anbelangt, in der Provinz mehr altes, echtes Oesterreichertum erhalten als in der Hauptstadt. Aber dies könnte man allenfalls als Zeiterscheinung abtun, denn schließlich ist ganz Europa vom Korruptionismus und Amerikanismus nicht verschont geblieben.

Was uns in der Tat am meisten weh tut, ist die Verprovinzialisierung Wiens seit dem Ende des zweiten Weltkrieges. Sie hat das Gesicht der Stadt verändert. Schon Adolf Loos polemisierte über den neueren Teil der Ringstraße, sie sei ein vergrößertes Mährisch-Ostrau. Was würde er sagen, wenn er jetzt die Ringstraße oder gar den Stephansplatz sähe? Das ist Provinz! Die „Mährisch-Ostrau-Ringstraße” hatte wenigstens noch großstädtischen Maßstab, die jetzige hat keinen mehr, selbst wenn ihre Bauten mit Marmorplatten verkleidet werden.

Wie kann sie es auch, wenn man — nur um . dicke Geschäfte zu machen — in sie hineinstopft, was sie nicht zu fassen vermag? In Wien ist man vielleicht stolz auf diese Bauten, denn sie sind Ausdruck des österreichischen Wirtschaftswunders. Aber diese Art Wirtschaftswunderbauten sieht man in München und Frankfurt, in Mailand und Rotterdam in architektonisch weit besserer Qualität!

Oder, was hast Du, liebe Bundeshauptstadt, getan, um Deinen Wohnungsbau zu verbessern? Nach dem ersten Weltkrieg hatte wenigstens die Gemeinde Wien inneren Schwung in ‘ihrem Wohnungsbauprogramm, der aufmerken ließ. Niemand wird behaupten, daß der gegenwärtige Wohnungsbau in Wien — gleichgültig, ob er von der sozialistischen Gemeinde Wien oder von den-der OeVP nahestehenden Wohnbaugenossenschaften betrieben wird — einen Beitrag zu dem großen, weltumfassenden Problem „Sozialer Wohnungsbau” bedeutet. Während der Reisende in Zürich und Basel, im Haag und in Rotterdam, in München und Frankfurt, in Stockholm, Kopenhagen oder Helsinki nicht nur die historisch interessanten Teile der Stadt, sondern auch die neuen Wohnviertel als ebenbürtige Sehenswürdigkeit besucht, interessieren diese in Wien keinen Menschen. Dort bedeuten sie eine großartige Weiterentwicklung der Städte, hier sind sie nur langweilig, phantasielos und in keiner Weise modern. Und wenn sie schon aus persönlichem Interesse ein Ausländer oder ein „Provinzler” besichtigt, schüttelt er nur den Kopf. (Wenn man zu sportlichen Ereignissen nach Wien kommt, erfreuen wenigstens das Stadion im Prater, die neue Stadthalle und das Stadionbad als interessante moderne Bauten.)

Es ist leider wahr, Wien hat seine Autorität als Hauptstadt weitgehend eingebüßt. Das Wien der Monarchie besaß echte Autorität, es zog die besten Kräfte sowohl aus den Kronländern als auch aus der österreichischen Provinz an. Sogar das stolze Budapest — obwohl Hauptstadt der zweiten Reichshälfte — sandte nicht nur seine besten Diplomaten als österreichischungarische Außenminister nach Wien, sondern auch seine besten Komponisten, Literaten. Sänger und Schauspieler stiegen in Wien zu internationaler Bedeutung auf. Früher war es üblich, daß die Söhne der Provinz wenigstens einige Semester in Wien studierten oder in der Hauptstadt arbeiteten, wenn sie es in der Doppelmonarchie zu etwas bringen wollten. Das ist heute nicht mehr der Fall. Auf die Jugend der Bundesländer üben die Universitäten bzw. Technischen Hochschulen von München, Stuttgart und Zürich weit größere Anziehungskraft aus als ihre Wiener Schwesterhochschulen, wenn sie es nicht vorzieht, auf die Hochschulen der anderen Bundesländer zu gehen.

Hatten die Landeshauptstädte schon immer ein starkes Eigenleben .und ein gewisses Mißtrauen gegen Wien, so ist dieses Mißtrauen eher größer geworden. Denn der „Bund” — weil er in Wien sitzt — wird von den „Ländern” mit größtem Mißtrauen betrachtet. Die Landeshauptleute sind nach der Verfassung zwar in vielen Belangen der verlängerte Arm der Bundesregierung, aber diese Bundesregierung ist unendlich weit. „Rußland ist groß und der Zar ist weit”, hieß es früher — das jetzige Oesterreich ist zwar klein, aber Innsbruck und Salzburg, Graz und Klagenfurt sind von Wien weiter entfernt als Wladiwostok vom früheren St. Petersburg.

Manchmal kommen von Wien einige Ministerialräte zu Verhandlungen in die Landeshauptstädte, und es wird mit den „Bundesabteilungen” der Aemter der jeweiligen Landesregierung eine Einigung erzielt. Kaum sind sie abgereist, macht man in den Ländern wieder was man will mit dem Argument: „Die am grünen Tisch in Wien können die Lage in den Bundesländern ohnedies nicht richtig beurteilen.” Und die Wiener Zentralstellen können sich meist nur mit Machtmitteln durchsetzen, weil sie die finanziellen Mittel in Händen halten, nicht aber mittels einer natürlichen Autorität.

Liebe Bundeshauptstadt! Du sagst durch Deinen Sprecher richtig, daß es früher jeder aus Prag oder Agram, aus Krakau oder Triest als Avancement gewertet hat, wenn er — gleichgültig in welchem Beruf — nach Wien berufen wurde oder sich in Wien ansässig machen konnte. Ist das jetzt auch noch der Fall? Die Absolventen der Hochschulen aus den Bundesländern sind absolut nicht zu bewegen, in Wien eine Stellung anzunehmen oder dort zu praktizieren. Sie bleiben entweder in den Ländern oder sie gehen — in großer Zahl — in die Bundesrepublik Deutschland, in die Schweiz oder nach Uebersee.

Vielleicht ist daran auch Deine Ueberheb- lichkeit und die Geringschätzung schuld, mit der Du oft Deine besten Söhne aus der Provinz behandelst. Deine alte tragende Gesellschaft machte keinen Unterschied, ob jemand aus Prag oder Jägerndorf, aus Frohnleiten oder Gmunden, aus Agram oder Sarajewo kam, soweit er eine Bereicherung Deiner an Persönlichkeiten so reichen Stadt war. Aber jetzt erscheint Dir alles verdächtig, was aus Tirol und Salzburg, aus Steiermark und Kärnten zu Dir kommt. Denn Du wähnst Dich noch immer als die alles überragende Kaiserstadt.

In Wahrheit haben sich die Maßstäbe völlig verändert. In dem Maße, wie die „Provinz” aufstrebte, ist Wien provinzieller geworden. Ein französischer ‘ “Wissenschaftler, der Oesterreich bereiste! äußerte sich, daß jetzt in den Bundesländern viel mehr wahres Oesterreichertum zu finden sei als in Wien. Und das ist nicht etwa eine Feststellung, die uns nicht nur stolz, sondern auch traurig macht. Denn wir wollen nicht ein provinzielles Wien — Provinz haben wir selbst genug —, nicht ein Wien der reich gewordenen Spießer - sondern eine Hauptstadt, die auch für die moderne Entwicklung Bedeutung besitzt, und eine Hauptstadt, die echte Autorität hat.

Wir bedauern es genau so wie Dein Sprecher, daß man in der Kärntner Straße in den Schaufenstern mehr Kühlschränke und Drillbohrer, mehr drittklassiges Kunstgewerbe sieht, als die feinen Schöpfungen der Haute couture und eines hochstehenden künstlerischen Gewerbes: daß man in Deinen Theatern außer herrlichen Aufführungen nicht auch so wie früher schönen und eleganten Frauen und Männern mit geistreichen Köpfen (aus Wien) begegnet; daß Der.ie geistige Ausstrahlung nicht so umfassend ist, als in der alten Monarchie oder noch in der Ersten Republik, und daß uns nichts mehr nach Wien zieht, als Deine Theater und Deine Konzerte (auch Deine Museen sind steckengeblieben), denn sie sind das einzige, was an Dir, außer dem Stadtbild des alten kaiserlichen Wien, noch geblieben ist, wenn wir — abgesehen von beruflichen oder geschäftlichen Reisen — nach Wien fahren.

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