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Kemal Atatürk und Adnan bey

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An diesem 10. November 1958, Schlag 9.10 osteuropäischer Zeit, stehen wie alljährlich alle Räder im ganzen türkischen Reich still. Die Männer auf den Straßen verhalten ihren Schritt, die öffentlichen Verkehrsmittel bleiben stehen, und vom Istanbuler Hafen her hallen dumpf die Sirenen der großen Ueberseeschiffe, in deren heiseren Baß sich der helle Sopran der Lokaldampfer und Lastschiffe zu einem vielstimmigen Trauerhymnus mischt.

Von allen öffentlichen Gebäuden wehen die Fahnen auf Halbmast, ein breiter Trauerrand umfaßt die Titelseiten der großformatigen Zeitungen und dunkler Flor weht um ungezählte Bilder, die alle e i n Antlitz tragen. Stadt und Land liegen wie erstorben im kalten Novemberwind, und es ist, als ob in den Gesichtern aller Menschen, die man sieht, die Trauer wohnte: es sind nicht die Spuren des Regens, der die Gewichter feucht werden läßt...

Das ganze Land weiß es auch ohne die ungezählten Gedenkfeiern, die überall abgehalten werden: in dieser Minute schloß Kemal Atatürk, der Schöpfer der neuen türkischen Republik, die Augen für immer Vor zwei Jahrzehnten' schon, wie der Fremde ebenso verwundert wie nüchtern nachrechnet wenn er die echte Trauer in den Mienen und Augen sieht. Vor genau zwanzig Jahren. Es ist. als sei man aus der nüchternen Politik des Alltags plötzlich in ein Märchenland versetzt worden; in ein Märchenland, dessen Volk noch imstande ist, seinen toten König (der den Namen seines Landes trägt) zu beweinen, statt sein Grab von den Stiefeln neuerer und besserer Machthaber zertreten zu lassen. Aber es ist lebendige Realität: Kemal Atatürk ist und bleibt der einzige Diktator unseres Jahrhunderts, der — Sit venia verbo — seinen Tod überlebt hat. Hitler, Mussolini, Stalin — wo sind sie alle geblieben, wer gedenkt heute noch eines Generals Mola, der zusammen mit Franco das neue Spanien schuf? Besitzt Lenin — und das allein ist entscheidend — die Liebe seines Volkes?'

Die geschichtlichen Leistungen Atatürks, der das besiegte Kernland eines zerfallenen Großreiches zu neuer, eigenstaatlicher Existenz und stolzem Selbstbewußtsein führte, sind bekannt, das heißt, sie sollten es eigentlich sein. Aber das europäische Gedächtnis hat sie nicht in Erinnerung behalten; es übergeht den Freiheitskampf der Türken wie eine schimpfliche, irgendwie illegitime Handlung, von der man besser nichts weiß.

Weshalb bringt man eigentlich den Turfcln weniger Sympathie entgegen als den Griechen? Mehr als zweieinhalb Jahrhunderte sind seit dem letzten Türkensturm gegen Mitteleuropa, gegen Wien, im bodenlosen Schoß der Geschichte verschwunden, und doch lebt die Erinnerung daran • in unseren Köpfen wacher weiter als jene treue Waffenbrüderschaft des ersten Weltkrieges, da das türkische Volk bis zum bitteren Ende treu an der Seite der damaligen Mittelmächte aushielt. Es ist viel Wasser von der Donau ins Schwarze Meer geflossen, es hat aber lediglich die freundlichen und guten Erinnerungen mit sich gespült. Das türkische Volk aber — vom Abgeordneten bis zum letzten Dörfler — beharrt in seinen Erinnerungen an uns mit einer Hingabe und Liebe, die darum doppelt beschämend wirkt, weil wir sie so gut wie gar nicht erwidern.

Für den Freiheitskampf der Griechen, die sich gegen das türkische Joch erhoben, fand sich ein abendländischer Homer, .Lord Byron, dessen Feuergeist allseits Begeisterung zu entzünden vermochte, während der ebenfalls heldenhafte Freiheitskampf der Türken fast unbeachtet blieb. Bestenfalls kennt man seine negativen Seiten, wie etwa die beispiellose Härte, mit der er geführt wurde. Sonst aber verlagern die Gedanken des Mitteleuropäers die Türkei unendlich Weit nach Asien hinein, als ein fernes Land, dessen Fremdheit bestenfalls noch mit seiner „Kuriosität“ zu wetteifern vermag. Sollte es der Einfluß des Humanismus sein — welch eine Paradoxie!—, welcher uns übersehen ließ, daß dieses Land mit der neunfachen Flächenausdehnung von Oesterreich und einer Bevölkerung von etwa 26 Millionen in Reichweite vor den Toren Europas liegt?

Vielleicht aber sind es dazu noch Schuldgefühle, die Europa die Türkei vergessen ließen. Denn wenn es nach den Wünschen der Sieger des ersten Weltkrieges gegangen wäre, dann lebten die Türken heute gleich den Indianern Nordamerikas in Reservationen, gleich diesen zur Not geduldet und verachtet, als Volk ohne Land, als Bettler innerhalb ihres eigenen Hauses.

Eine türkische Publikation berichtete vor drei Jahrzehnten übet die Lage folgendermaßen: „Ende Oktober 1918 war der Widerstand der seit acht Jahren (Balkankrieg, Tripolis. Anmerkung des Verfassers) unablässig kämpfenden Türkei gebrochen. Bulgarien hatte die Waffen eestreckt, die Verbindung mit den Zentralmächten, die selbst am Ende ihrer Kraft waren, war abgeschnitten. In Palästina und Mesopotamien trieben die Engländer die gänzlich erschöpften türkischen Divisionen, nach Norden vor ich her. Es war das Ende...“

Die Türken hatten die Meerengen den Alliierten zu räumen, alle Befestigungen zu übergeben, fremde Truppen standen an allen wichtigen Punkten des Landes, und die Griechen landeten in Smyrna. Ursprünglich hätten auch die in der Türkei befindlichen österreichischen Truppen als kriegsgefangen gelten müssen, aber die türkische Regierung unter Isset Pascha lehnte dieses Ansinnen kategorisch ab.

Es war wirklich das Ende.

Wenige Iahre darnach aber war das Wunder geschehen: gleich einem Phönix hatte sich aus der Asche und dem Schutt der Vergangenheit ein neuer Staat erhoben, der als gleichberechtigter Partner mit seinen ehemaligen Feinden verhandelte, nachdem er sein Lebensrecht mit der Waffe in der Hand errungen hatte.

Das Pendel begann nach der anderen Seite auszuschlagen: war das Wort „türkisch“ früher verachtet gewesen — auch im eigenen Lande trat es weit hinter „osmanisch“ zurück —, so schäumte das Selbstbewußtsein nun über.

„Kein Volk der Weltgeschichte hat so zahlreiche und große Staaten gegründet wie die Türken“, schreibt die offizielle „Geschichte der türkischen Republik“ 1935 mit dem Brustton der Ueberzeugung. „Sie sind es gewesen, die — angefangen von dem ersten historisch bekannten Kulturreich (dem sumerischen Reich um 4000 v. Chr.) — die Mehrzahl der Fürstentümer in Europa und Asien gegründet haben.“

Es war nicht zu verwundern. Der Schritt vom Gestern ins Heute war fast zu groß gewesen: aus Besiegten waren Sieger geworden, an die Stelle des Padischah war eine republikanisch (demokratische) Regierung getreten, an Stelle des mohammedanischen Scheriatrechtes das Schweizerische Bürgerliche Gesetzbuch, an Stelle der islamischen Kleidung eine zeitgemäße europäische (in der Hauptsache bei den Männern). Weiß man, was das im einzelnen bedeutet? Als sich die Stadt Trapezunt am Schwarzen Meer weigerte, die neue Hutmode (statt des bekannten Fes) anzunehmen und mitzumachen, ließ Atatürk die Stadt von Marineeinheiten unter Feuer nehmen .. . Aber er setzte, von der Woge des militärischen Sieges getragen, all seine Pläne durch, soweit sie überhaupt durchführbar waren.

Ihm verdankt die türkische Nation von heute buchstäblich alles, vom lateinischen Alphabet bis zur kulturellen Zielsetzung. Und — genau betrachtet — erwies er noch durch seinen Tod dem türkischen Volk einen unschätzbaren Dienst, der allerdings von türkischen Historikern kaum jemals geschätzt werden kann: denn wenn Atatürk auch nur zwei Jahre länger gelebt hätte — er starb, wie gesagt, im Jahre 1938 —, dann wäre die Türkei an der Seite Hitlers in den Krieg eingetreten ...

Derartige Lücken, wie sie der Tod eines dermaßen vergötterten Helden hervorbringt, können fast niemals geschlossen werden. Atatürks Nachfolger Ismet, der als Sieger der Schlacht bei Inönü den gleichen Namen trägt (Ismet Inönü), galt zwar als enger Freund des Verstorbenen, aber er war eben doch nicht Atatürk selber. Als es im Jahre 1950 erstmals eine Opposition richtig zuließ, mußte er seine Stelle an , den jetzigen Ministerpräsidenten Adnan Menderes, einen jungen, ehrgeizigen Großgrundbesitzer aus Aydin, abgeben, der einen Teil seiner Stimmen aus Opposition gegen Inönü bekam. Einmal fest im Sattel — eine Wiederwahl im Jahre T,“4 hatte seine Macht gestärkt —, befolgte er den alten Grundsatz, daß man einen

Fisch nicht mehr ködern muß, wenn man ihn erst an der Angel hat. Schien es zuerst, daß Menderes tatsächlich einer ebenso idealen wie großen Planung folgte, die aus der agrarischen Türkei in kurzem ein Industrieland machen wollte, so wandten sich seine Anhänger mehr und mehr von ihm, als sie die Mittel sahen, mit denen er seinen Zielen zuging. Wer die Türkei heute noch als Demokratie bezeichnet, kann sich höchstens noch damit rechtfertigen, daß er erklärt, der traditionellen Terminologie folgen zu wollen. Längst haben nahezu alle eingesehen, daß die politischen Gegner des Ministerpräsidenten recht hatten, als sie die Parole ausgaben: „Menderes (ist gleich Mäander) bedeutet in der Geographie wie in der Politik eine Zickzacklinie.“

Daß das Land in jenem Abgrund, in den es das politische und wirtschaftliche Konzept seines Ministerpräsidenten hineingestürzt hat, trotz allem nicht zerschellt ist, verdankt es der zähen Gutmütigkeit seiner Bewohner und seiner geographischen Lage. In keinem anderen Land Europas nimmt es die Bevölkerung schweigend hin, daß es abwechselnd keinen Zucker und kein Fleisch gibt, daß die Preise oft ruckartig um 50 und auch 100 Prozent steigen, das türkische Pfund gegenüber dem Dollar von 2.80 auf 9 abgewertet wird und auch die gewöhnlichsten Bedarfsgüter, wie Papier, Aspirin, Filme und Stoffe, überhaupt nicht oder nur in schlechtester Qualität zu bekommen sind. Die Erlaubnis, zu streiken, besteht gesetzlich nicht, die Presse erhält eine knappe Menge Papier vom Staat, der auch die Auflagenhöhe und die Zahl der Annoncen bestimmt, und muß sich auf sechs Seiten im wesentlichen darauf beschränken, bloß Fakten ohne Kommentar zu berichten. In den Ueberschriften dominieren die Anführungszeichen, da wörtliche Zitate aus Reden der Oppositionspolitiker die einzige Möglichkeit darstellen, das Volk noch einigermaßen zu informieren. Die Redner aber wissen, daß sie mit jedem Wort, das sie gegen die Regierung sprechen, ihre Freiheit und ihr Vermögen aufs Spiel setzen.

Dem Ausland, sprich: dem Westen gegenüber spielt der türkische Ministerpräsident die geographische Position seines Landes aus und tut dies, wie man sieht, noch immer mit Erfolg. Einige Zeit, bevor die betreffenden Kredite bewilligt wurden, weilte auch eine sowjetische technische Kommission im Lande. Aber gerade während sie Erhebungen über die Gründung von Fabriken anstellten, just in dem gleichen Augenblick, verhaftete die Polizei einige sowjetische Spione. Der Schreckschuß gegen Westen sollte nicht zu scharf ausfallen, und die Russen sollten wissen, daß sie kein naives Opfer vor sich hatten.

So produziert sich der Ministerpräsident in einem doppelten Balanceakt nach innen wie nach außen. Er facht die Flamme des Islams zu neuem Leben an, verhaftet aber dann einige religiöse Fanatiker — um sie nach einigen Wochen wieder auf freien Fuß zu setzen. Er setzt Reformen Atatürks außer Kraft und handelt gegen seine Prinzipien, vergißt aber nie, dabei dessen Namen möglichst achtungsvoll auszusprechen.

So scheinen sich Atatürk und Adnan bey (Menderes) die Rollen geteilt zu haben: während der eine der Demokratie den Weg bahnte, setzt der andere alles daran, um als Adnan der Erste eine diktatorische Dynastie zu begründen.

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