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„Kennen Sie den größten Mörder?”

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Viele Russen wollen in einem mächtigen Staat unter starker Führung leben. Das Erstarken der Kommunisten kommt nicht von ungefähr.

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Viele Russen wollen in einem mächtigen Staat unter starker Führung leben. Das Erstarken der Kommunisten kommt nicht von ungefähr.

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Knapp über zwei Stunden dauert der Flug von Wien nach Moskau, der Weg durch die Paßkontrolle noch ein paar Minuten länger. Die Russen lassen sich Zeit, außerdem ist nur ein Viertel der vorhandenen Schalter geöffnet. Eine von der Wiener Kathpress organisierte Rußland-Reise (siehe auch furche 14/1997) beginnt als Geduldprobe.

Daß viele Russen, im öffentlichen Dienst und in der Privatwirtschaft, monatelang keinen Lohn bekommen haben, daß schon ein Generalstreik mit Demonstrationen angesetzt ist, erklärt manches, auch Nadelstiche gegen westliche Touristen angesichts einer möglichen Osterweiterung der NATO, die viele Russen als Bedrohung ansehen. Im Bus ins Hotel weist uns die russische Begleiterin auf das Passieren der letzten Panzersperre gegen die Deutschen aus dem Zweiten Weltkrieg hin, wenige Tage später, in St. Petersburg, hebt unser dortiger Führer die 900tägige Belagerung der Stadt hervor und zeigt uns das Hotel Astoria, in dem die Deutschen ihre Siegesfeier abhalten wollten.

Wer in Bußland politisch überleben will, kann es sich nicht leisten, dem Westen viele Zugeständnisse zu machen. Der Beschluß der Duma, die „Beutekunst” (samt Schliemanns „Schatz des Priamos”, den wir im Puschkin-Museum bewundern dürfen) endgültig dem russischen Staatseigentum einzuverleiben, ist typisch. Der Krieg hat noch Spuren hinterlassen, in der Mentalität der Menschen, aber auch im Aussehen der Städte. In

Moskau wurde und wird, selten zum Vorteil der Stadt, viel neu gebaut, St. Petersburg bewahrt den Glanz und den Schutt erloschener Epochen. Arme sieht man hier wie dort, insbesondere vor kirchlichen Gebäuden und Touristenattraktionen.

Als ich am letzten Abend in Moskau auf dem Boten Platz fotografiere, spricht mich ein alter Mann in tadellosem Englisch an: „Haben Sie die Büste des größten Mörders der Geschichte gesehen?” „Nein”, gestehe ich. Daß gestritten wird, ob Lenin in seinem Mausoleum bleiben oder bei seiner Mutter in St. Petersburg beerdigt werden soll, weiß ich, nun höre ich mehr über Stalin und die Bedeutung der Kremlmauer. Als er erfährt, daß ich Österreicher bin, wechselt mein Gesprächspartner problemlos in fließendes Deutsch, erweist sich als blendend informiert über Österreichs

Politiker, äußert Sorge über das gute Abschneiden des Kommunisten Sjuganow bei den letzten Wahlen und nennt dann sein Anliegen: „Ich bin ein armer Bentner. Geben Sie mir ein bißchen Geld, wenn ich Ihnen einige neue politische Witze erzähle?”

Nun, die Witze sind nicht neu, aber auch nicht teuer, doch häufiger als Witze erhält man in Bußland Puppen oder Alkohol aller Art angeboten. „Wir haben keine Wirtschaft mehr, nur noch Handel”, meint später unser Führer in St. Petersburg, dessen eigenwilliges Wirtschaftsrezept „Abschaffung der Steuern” lautet.

Wie es in Bußland weitergeht, weiß niemand, aber die Sehnsucht nach einem mächtigen Land unter starker Führung ist spürbar. Nationalismus steht hoch im Kurs, Monarchisten betreiben die Seligsprechung der Familie des letzten Zaren, anderseits nähern sich die Kommunisten wieder der Macht. Fast hätten sie schon die Rückkehr zur alten Sowjetflagge mit Hammer und Sichel durchgesetzt.

Die Zeit der Abrechnung mit dem Kommunismus ist in Rußland schon wieder vorbei. Die Statue von Feliks Dserschinskij wurde zwar in Moskau spektakulär gestürzt, in St. Petersburg ist der Gründer der gefürchteten Geheimpolizei Tscheka aber noch in voller Lebensgröße zu bewundern. Und an Lenin-Denkmälern, unter denen sich Unzufriedene sammeln können, ist ohnedies kein Mangel.

Aber hatte die Kommunistische Partei in 70 Jahren an der Macht nicht genug Gelegenheit, die Verhältnisse im Land entscheidend zu verbessern? Woher so viele Menschen die Zuversicht nehmen, die Kommunisten könnten es jetzt schaffen, ist rational sicher nicht zu erklären.

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