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Kennen Sie Jas Orchester?

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Da sitzt es vor uns, das hundertköpfige Ungeheuer, das mit seinem Toben und Dröhnen den großen Saal erfüllen wird und im nächsten Augenblick so leis und lieblich zu säuseln vermag, daß man die Ohren spitzen muß. Da sitzt es also, das Orchester, weder männlich noch weiblich, aber auch keineswegs „sächlich“, vielmehr ein Kollektiv, das männlich und weiblich zur gleichen Zeit ist. . . Männlich ist es in seiner Selbstsicherheit, die vielfach bezeugt ist. Vom Vater des Komponisten Richard Strauss zum Beispiel, der 45 Jahre lang auf seinem angestammten Platz im Münchner Hoftheater das Horn geblasen hat und einmal sagte: „Ach, ihr Kapellmeister, bildet euch auf eure Machtstellung wunder was ein! Wenn so ein neuer Mann das Orchester betritt — wie er aufs Pult steigt, die Partitur aufsehlägt — bevor er noch den Taktstock in die Hand genommen hat, wissen wir schon, ob er der Herr ist oder wir!“ Bekannt ist auch die Antwort eines Wiener Philharmonikers, der auf die Frage, was denn der Herr S. B. im letzten Konzert dirigiert habe, sagte: „Das weiß ich nicht — wir jedenfalls haben die Fünfte gespielt!“

Und die „weibliche“ Seite? Hierüber soll uns Richard Strauss persönlich Auskunft geben: „Diese boshafte Horde, die in chronischem Mezzoforte bummelt, der kein Begleitungs-pp abzuschmeicheln ist, keine Präzision bei Rezitativ-Akkorden, wenn der richtige Mann nicht oben sitzt —, mit welcher Begeisterung spielen diese sooft von des Probierens unkundigen Stümpern gequälten, durch Stundengeben ermüdeten Musikanten, mit welcher Aufopferung proben sie sogar, wenn sie zu ihrem Kapellmeister das Vertrauen haben, daß er sie nicht unnütz schindet, wie folgen sie am Abend seinem kleinsten Wink ...“

Es folgt ihm als Kollektiv. Aber als Kollektiv von Individualitäten. Und zwar von sehr ausgeprägten. Sie sind Fachleute und Spezialisten. Die Mitglieder eines guten Orchesters müssen alle Stile, von Bach und Monteverdi bis herauf zu den Seriellen, kennen und beherrschen. Und sie sollen nicht nur technisch perfekt sein, sondern immer auch noch „mit Ausdruck“, „mit Gefühl“ spielen. — Hat sich eigentlich schon jemand darüber Gedanken gemacht, welcher Grad von Präzision von jedem Musiker in jedem Augenblick eines zweistündigen Konzerts gefordert wird? Der kleinste Fehlgriff — und das Malheur ist passiert, die

Die transportable Harfe Stimmung verdorben oder gar die Aufführung „geschmissen“.

Zu solchen Leistungen sind nur Menschen befähigt mit sehr guten Nerven. Und gerade die haben Musiker erfahrungsgemäß nicht. — Der Orchesterspieler muß aber auch zahlreiche körperliche Vorbedingungen erfüllen, um für seinen Beruf überhaupt in Frage zu kommen. Die Bedienung des Kontrabasses erfordert eine gewisse athletische Anlage, dazu das feinste „Fingerspitzengefühl“, was sehr wörtlich zu verstehen ist. „'n reiner Ton auf'n Kontrabaß is 'n purer Taufall!“ pflegte der Vater von Johannes Brahms, selbst Kontrabassist, zu sagen. Bei den Blechbläsern ist die besondere Beschaffenheit der Lippen von Bedeutung, bei den Holzbläsern besonders die der Zähne (ein Oboer mit einer Zahnlücke ist arbeitslos!). — Fast ebenso heikel sind die Hörner zu behandeln, die gerne „gicksen“. Die Spieler dieser Instrumente leiden an ständiger Furcht vor wunden Lippen, außerdem gibt es den Lippenkrampf, der häufig psychische Ursachen haben kann. Ein guter Dirigent weiß das und wird die Bläsergruppe mit besonderer Schonung behandeln. Vor allem wird er nicht streng blik-ken, wenn etwas „passiert“ ist. Sonst würden sich die Unglücksfälle, wie in einer Kettenreaktion, häufen.

Denn Orchestermusiker sind empfindlich. Sie sind selbst Persönlichkeiten und sollen immer dienen: dem Werk, dem Dirigenten, dem Solisten. Und wie viele Enttäuschte sitzen da: die einmal, nach Absolvierung der Akademie oder des Konservatoriums, von einer glänzenden Solistenlaufbahn geträumt hatten. Aber dazu reicht es nur selten. Und dann traten sie eben in ein Orchester ein. — Aber das ist, zum Glück, bei der Mehrzahl nicht so.

Sie schaffen sich Kompensationen: als Mitglieder eines Kammerensembles oder als Lehrer. Und sie empfinden es als Ehre, in einem guten Orchester zu spielen und diesem alle ihre Kräfte zu widmen. Entscheidend ist, wie sehr einer die Musik liebt. Und in dieser Liebe zur Musik finden sich alle. Das hilft auch über gewisse Rivalitäten und Eifersüchteleien hinweg, die es im Orchester — wie in jeder menschlichen Gemeinschaft — natürlich auch gibt. „Nie sollen Menschen“, sagte einmal der Dirigent Charles Münch, „die sich hassen, zusammen musizieren dürfen^ \- ..\\','m\i}^t

Ein Orchester ist ein beseelter Organismus — und als solcher etwas Geheimnisvolles. Jedes der großen Ensembles hat seinen besonderen Charakter, seine eigene Klangfarbe, seine besonderen Qualitäten. Geheimnisvoll für den Laien ist auch, was die Musiker da oben manchmal treiben. Eben hat der Flötist noch ein normales Instrument in der Hand gehabt. Jetzt ist es plötzlich halb so lang. Hat er es auseinandergenommen? Nein, er hat es nur mit der kleinen Pikkoloflöte vertauscht. — Plötzlich beugt sich der Paukist aufmerksam über sein Instrument und legt das Ohr ans Trommelfell. Will er der Pauke etwas erzählen — oder flüstert sie ihm was ins Ohr? Nein, er stimmt sein Instrument nur für die nächsten Takte um. Was suchen die Spieler der zweiten Geigen plötzlich in ihrer Westentasche? Ein Feuerzeug, um sich eine Zigarette anzuzünden? Nein, sondern nur den Dämpfer, den sie schnell und geschickt aufsetzen. Weshalb setzten plötzlich die Tuben kleine Fußbälle auf ihre Trichter? Wollen sie ins Publikum „schießen“? Nein, sie befolgen lediglich die Partiturvorschrift „mit Dämpfer!“. Das Geheimnisvollste aber, was sie machen, ist die Musik: die Umsetzung von Notenzeichen in Töne, die unseren Geist und unser Gefühl mit einer Unmittelbarkeit ansprechen, wie kein anderes Medium der Kunst.

Die drei Karikaturen sind dem im Lange-Müller-Verlag erschienener Bändelten ,D<is Symphonie-orchester“ von Gerard Hoffnung entnommen.

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