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Kinder brauchen auch Grenzen

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In der Familie wird viel versäumt, kritisiert der führende Wissenschaftler auf dem Gebiet der Familienforschung, Leopold Rosenmayr.

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In der Familie wird viel versäumt, kritisiert der führende Wissenschaftler auf dem Gebiet der Familienforschung, Leopold Rosenmayr.

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DIE FURCHE: Wo stellen sich in der Familie heute die häufigsten Toleranzprobleme?

Professor Leopold Rosenmayr: Sie stellen sich am häufigsten dort, wo durch verschiedene Prozesse die Frauen mehr Freiheiten erhielten. Die Auseinandersetzung mit diesen neuen Freiheiten ist oft schwierig. So ist längst nicht mehr selbstverständlich, wer welche Rollen in der Familie zu spielen hat. Die Zeiten sind vorbei, wo klar war, daß es Sache der Frau ist, das Geschirr abzuwaschen, die Wäsche aus dem Wäschetrockner zu holen oder den Kinderwagen zu schieben. Es sind große Änderungen im Gang und vielfach muß mühsam ausverhandelt werden, wie die Rollen neu verteilt werden (siehe S. 14, Anm. d. Red.). Dafür ist natürlich ein gewisse Großzügigkeit erforderlich. Das heißt, Toleranz hat mit der Bereitschaft zu tun, sich auf neue und ungewohnte Dinge einzustellen.

DIE FURCHE: Es scheint ja noch nicht einmal klar zu sein, daß die Frauen den Männern gegenübergleichwertig sind rosenmayr: So eine Haltung gibt es heute sicherlich immer noch recht häufig. Zugeben würde das allerdings kaum jemand. Man muß auch berücksichtigen, daß die heutige Situation für die älteren-Generationen besonders schwer ist. Sie wurden anders erzogen und ihre Eltern, meist um die Jahrhundertwende geboren, haben den heute 70jährigen und älteren andere Leitbilder vermittelt.

DIE FURCHE: Solche Bereitschaft, sich auf Neues einzustellen, wird doch von jeder Generation gefordert rosenmayr: Sicher, aber in den letzten 25 Jahren ist das Tempo des Wandels besonders rasch geworden. Jede Generation erhielt ein anderes kulturelles Profil. Und dabei haben noch nie so viele Generationen nebeneinander in einer Gesellschaft gelebt wie heute. Es gab auch noch nie so große Probleme für die Generationen, einander zu verstehen. Urgroßeltern, Großeltern, Eltern und Kinder zusammen - das sind doch schon vier verschiedene Welten! Hier Brücken zu schlagen, läßt sich leicht fordern, aber es ist nur teilweise zu erfüllen. Die Familien haben früher über

Jatirzetinte und teilweise über Jahrhunderte hinweg bestimmte Stile des Verhaltens beibehalten und waren stolz auf ihre Traditionen. Der rasende technologische und kulturelle Wandel hat tiefe Einbrüche in diesen Kontinuitäten verursacht. Ein simples Beispiel: Es ist heutzutage schon schwierig, ein Essen auf den Tisch zu stellen, das allen Generationen schmeckt.

DIE FURCHE: Muß man - jetzt auf das menschliche Zusammenleben übertragen - immer herumprobieren, was man noch schlucken soll, obwohl es einem nicht schmeckt? rosenmayr: Ein Beispiel: Ich war kürzlich in einer wunderschönen Kirche. Da fuhr plötzlich ein etwa Hjähriges Mädchen mit Bollschuhen kreuz und quer durch die Kirche. Ich habe zuerst innerlich gekocht, mir aber dann den Mut genommen und die Eltern des Mädchens höflich angesprochen. Die Mutter gestand, sich bei ihrer Tochter nicht durchsetzen zu können.

DIE FURCHE: Solche Probleme gibt es ja auf verschiedensten Ebenen: Muß man mit Voltaire sagen, „der Gipfel der 7bkränz ist es, dumme Menschen zu ertragen”?

Rosenmayr: Das ist wohl eher das Bonmoteines Intellektuellen. Ich halte es für schwieriger, völlig intolerante Menschen auszuhalten.

DIE FURCHE: Gibt es keine klaren Kriterien oder verbindlichen Normen dafür, wie tolerant man sein muß? rosenmayr: Toleranz ist von Individuum zu Individuum verschieden. Man muß von Fall zu Fall entscheiden, wo oder wem gegenüber man -und in welcher Form - nachgeben darf oder muß. Es ist wichtig, sich auch zu widersetzen. Man darf sich nicht mit allem abfinden. Welcher Grad an Toleranz geboten ist, muß man sich jedes Mal überlegen.

DIE FURCHE: Wie ist das bei den Kindern? Ein Beispiel- Eine Mutter hat mit ihrem Kind ausgemacht, daß es ein Eis bekommt Und plötzlich will es aber unbedingt noch zusätzlich eine Milchschnitte.

Rosenmayr: Man muß dann nochmals überlegen und mit Geduld in Verhandlungen eintreten. Das heißt nicht, daß das Kind letztlich dann doch auch noch die Milchschnitte bekommt. Aber die Mutter sollte bereit sein, zu erklären, warum sie dem Kind etwas erlaubt oder nicht. Das bedeutet mitunter, sich viel Mühe zu geben und die, wenn auch unentfaltete, Rationalität des Kindes anzusprechen.

DIE FURCHE: Toleranz heißt auch nachgeben können? RosENMAYR:Nachgiebigkeit und Toleranz sind verschiedene Haltungen. Es gibt heute Fälle, daß Mütter durch Erpressungen von Seiten ihrer Kinder vor dem nervlichen Zusammenbruch stehen. Das passiert deswegen, weil sie den Kindern als Ein-, Zwei- und Dreijährige alles zubilligten. Diese Mütter werden von ihren Kindern mit Forderungen regelrecht terrorisiert. Es ist sehr gefährlich, wenn ein rechtzeitiges Nein vergessen wird. Ein berechtigtes, versäumtes Nein schädigt das Kind.

DIE FURCHE: Gilt das auch für Erwachsene?

Rosenmayr: Ja, durchaus! Das Nein kann ein größeres Mittel der Liebe sein als das Ja. Die Abgrenzung erhält und ermöglichst erst die Liebe. Grundsätzlich ist es besser, gleich „Nein!” zu sagen als später „Das habe ich nie gewollt!” geltend zu machen.

DIE FURCHE: Alles ist zulässig und alles ist erlaubt — diese Erziehung zu einer permissiven Gesellschaft scheint häufig zu sein Wieso? RoSENMAYR: Aus Bequemlichkeit, Flucht vor der Verantwortung, aber auch aus Erschöpfung. Früher hat man mit zwei, drei Schlüsseln die Alltagswelt aufsperren können. Heute braucht man einen ganzen Schlüsselbund, um etwas zu entscheiden. Und manchmal gibt es überhaupt keinen Schlüssel. Dann muß man lange herumprobieren, wie man die Tür überhaupt zu öffnen vermag.

DIE FURCHE: Ist Privatsache, was in Familien toleriert wird und was nicht? rosenmayr: Was in der Familie geschieht, hat später Auswirkungen auf die Gesellschaft. Was die Familie gegenüber ihren kleinen Kindern und Vorschulkindern nicht zu lösen versteht, wird der Schule und damit der Gesellschaft zugeschoben. Unser Privatleben ist zwar schützenswert, aber dessen Folgen müssen kritisierbar bleiben. Kinder werden durch eine überzogene Erfüllung all ihrer Wünsche regelrecht aufgepäppelt, vom Spielzeug bis hin zu den mechanischen oder auch den durch die Medien produzierten emotionalen Reizen. Eltern setzen ihren kleinen Kindern oft wenig Grenzen und schieben damit die ganze Last weiter auf die Schule. Die Schule ist der erste Ort, wo Kinder miteinander Gruppen bilden und sich in eine Institution integrieren müssen, wo Kooperation und soziales Lernen angesagt sind. Wenn nur wenig davon gelingt, kommen die großen Probleme. Es ist viel, was in den Familien versäumt und viel, was damit der Schule aufgelastet wird.

DIE FURCHE: Soll die Gesellschaft den Eltern diesbezüglich weniger Toleranz entgegenbringen? rosenmayr: Man muß diese Probleme in der Öffentlichkeit zum Thema machen. Über Toleranz zu reden heißt auch, die Konsequenzen des Verhaltens möglichst deutlich aufzuzeigen.

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