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Kinder, Hirten, Ruinen

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DENKEN WIR AN GRIECHENLAND, so entsteht in uns zunächst das Bild des klassischen Altertums oder die Welt Homers. In den Spalten unserer Zeitungen taucht Griechenland selten auf. Nur wenn es von Katastrophen heimgesucht wird, wenn Erdbeben blühende Inseln in ein Trümmerfeld verwandeln oder Ueberschwemmungen das Festland verheeren, oder wenn in den Hauptstädten Athen, Piräus. Saloniki antibritische oder antitürkische Demonstrationen stattfinden, Geschäfte gestürmt und Straßen abgeriegelt werden, wenn die Empörung über Zypern zu leidenschaftlichen Ausbrüchen führt — nur dann können wir etwas über Griechenland in der Presse finden. Vom griechischen Alltag wissen wir wenig.

GRIECHENLAND BESTEHT NICHT NUR aus Säulen und Tempeln. Gewiß, auch diese gibt es, und sie sind ein Hauptanziehungspunkt für Fremde, die sich in Pullmanwagen zu den berühmtesten Ausgrabungsstellen — vor allem Delphi und Olympia — fahren lassen und in einigen wenigen Tagen alles „Sehenswerte erledigt“ haben. (Was. wenn man überall nur eine Stunde verweilt, nicht allzu schwer ist, da es in Hellas kaum zwanzig archäologisch berühmte Plätze gibt, viel weniger als in Italien.) Für den Griechen sind Säulen und Tempel uninteressant; sie sind für ihn ein Teil der Natur, Bestandteil der Landschaft, an den er sich genau so gewöhnt hat wie an Oliven- und Orangenhaine, an Palmen und Zypressen, an die Berge und an das Meer.

HIRTEN HABEN MIT DEN HEERSCHAREN IHRER HERDEN die alten Ruinen erobert, zwischen den zerbrochenen Tempelsteinen weiden Schafe, Kinder haben sie als idealen Spielplatz für sich in Beschlag genommen und stürmen sie immer wieder mit Pfeil und Bogen — wenn nicht gerade ein Rudel fremder Besucher sie bei ihrer Beschäftigung stört. Ich sah in Griechenland viele Hirten: auf den Wiesen und abgeernteten Mais- und Baumwollfeldern Böotiens, auf den Hängen von Akrokorinth, der Burg Sisyphos', in der Argolis, die einst von dem stolzen Mykene beherrscht wurde. Noch zahlreicher als Hirten aber stößt man auf Kinder. Die Griechen sind ein armes Volk, aber reich an Kindern. Manches Land mit höherem Lebensstandard und größerem Luxus glaubt, sich eine Geburtenziffer, wie sie Griechenland hat, nicht leisten zu können.

GRIECHENLAND IST EIN ARMES, ABER FREIES UND STOLZES LAND. Jeder Grieche tut sich viel darauf zugute, daß er in einer Demokratie lebt, in der er offen seine Meinung sagen darf. Spontan und wild erfolgen oft die Ausbrüche politischer Leidenschaften. Jeder Grieche ist, der Wahlkampf im vergangenen Februar zeigte es wieder, sehr an Politik interessiert und hat seine bestimmten persönlichen Ansichten. Zypern ist für den Griechen eine nationale Frage, in der er keinen Widerspruch duldet.

VIELE GRIECHEN ÄUSSERTEN DEN WUNSCH, auszuwandern. Zwar hängt der nationalstolze Grieche sehr an seiner Heimat, aber oft trägt er sich doch mit dem Gedanke, auszuwandern und als reicher Mann heimzukehren. Die Gründe für diese Pläne sind rein wirtschaftlicher Art. Auch ein Facharbeiter hat keinerlei Möglichkeit, sich etwas zu ersparen und größere Anschaffungen zu machen. So kann er nur entweder ledig bleiben oder, will er eine Familie gründen, ohne sich ernstlich einschränken zu müssen, auswandern. (Frauen sind in Griechenland nur äußerst selten Lohnempfänger. Die Frau gehört nach griechischer Ansicht in den Haushalt. Ehefrauen müssen, vor allem auf dem Land, den ganzen Tag zu Hause sein, ein Tratsch mit der Nachbarin ist oft das einzige Vergnügen. Junge Mädchen stehen streng unter der elterlichen Obhut.) — Doch dürfte der Auswanderungsgedanke bei den meisten Griechen bloßer Wunschtraum sein; fast keiner von denen, die diesen Gedanken äußerten, hatte schon praktische Schritte unternommen. So tut der Grieche das, wovor er sich zunächst sträubt: er heiratet und schränkt sich ein. Menschliches Schicksal.

DIE UNTERSCHIEDE IN DER LEBENS-FÜHRLING sind in Griechenland nicht so groß wie anderswo. Kein Grieche ist von brennendem Ehrgeiz geplagt. Was man heute nicht erreicht, erreicht man vielleicht morgen. Man hat Zeit und kann warten. Unter den Studenten, die ich kennenlernte, traf ich keinen einzigen „Streber“. Man studiert in aller Gemütsruhe, mit der Zeit geht alles vorwärts. Im allgemeinen, berichtet mir ein Freund, der an der Athener Universität Deutsch unterrichtet, sind die Mädchen fleißiger. Man kann sich vorstellen, wie weit es dort jemand bringen müßte, der wirklich zielstrebig und ehrgeizig wäre. Aber das heiße Miltelmeerklima ist dem Ehrgeiz nicht günstig.

DIE ARBEITSLÖHNE SIND SEHR NIEDRIG. Ein Hilfsarbeiter wird 600 bis 800 Drachmen im Monat verdienen, ein Facharbeiter kommt auf 1200 bis 1600 Drachmen, ein Universitätsprofessor verdient vielleicht 4000 Drachmen monatlich. — Doch verstehen es die Griechen, das, was ihnen an Geld fehlt, durch Lebensstil zu ersetzen. Sie sind nicht unzufriedener als Menschen anderswo auf der Welt unzufrieden sind — im Gegenteil, sie wissen mit Gemütsruhe das Beste aus ihrem Leben zu machen. Die Verachtung des Geldes drückt sich schon in der Art aus, wie sie es tragen — stets haben sie es, zu Fetzen zusammengeknüllt, irgendwie in Hosen- und Rocktaschen gestopft. Ziehen sie es heraus, schauen sie oft erstaunt, was alles noch in den Taschen steckt. Nie scheinen sie genau zu wissen, was sie noch besitzen. So sind die Griechen wohl das glücklichste Volk, das ich kenne.

UM ZU WISSEN, WIE LEBENSFROH GRIECHEN SIND, muß man sie in den Tavernen oder Kaffeneions sitzen sehen, auf den kleinen Stühlen, von denen der Kellner immer zwei oder drei für einen Gast bringt. (Selten habe ich einen Griechen auf einem Sessel sitzen sehen.) Nichts, von hektischem Lebensgenuß, der Menschen eignet, die stets gehetzt sind und keine Zeit haben; sondern ein ruhiges Wissen, was im Leben wichtig ist und was nicht; was man braucht und auf was man verzichten kann. Die Dinge, die man braucht, sind billig: Retsinato, geharzter Weißwein, auch Rotwein. Eine Portion Tintenfisch (Oktopodi) kostet fünf Schilling; Marides, kleine Fischchen, als ganze in Olivenöl gebacken, bekommt man für zehn Schilling. — Die Gerichte werden kalt oder warm serviert, je nachdem, ob sie gerade vom Herd kommen oder schon lange Zeit daneben standen. So kann es passieren, daß man, auch in einem besseren Lokal, eine kalte Bohnensuppe, kalte Kartoffeln und eine heiße

Fleischspeise vorgesetzt bekommt. Da in Oel gekocht wird und Oel nicht gerinnt, ist das nicht allzu schlimm. Das einzige, das immer heiß gereicht wird, ist der türkische Kaffee, in winzige Schalen gefüllt (dazu stets ein großes Glas Wasser). Der Kaffee ist auch das einzige in Hellas, bei dem man das Beiwort „türkisch“ ungestraft aussprechen darf.

DIESELBE VERACHTUNG WIE FÜR DAS GELD haben die Griechen für die Zeit. Zeitbegriffe sind immer unbestimmt. „Morgen“, „nächste Woche“, das alles heißt: „irgendwann“, „vielleicht“, nur nicht heute ... Ist man an Geld nicht reich, so hat man doch Zeit. „Hier wird eine Straße gebaut“, erzählte mir ein Grieche, „nächstes Jahr wird sie unser Dorf erreichen.“ Ein paar Minuten später meinte er: „Schade, daß wir hier so ganz abgeschnitten leben müssen. Ich möchte am liebsten auswandern.“ So selbstverständlich war es ihm, daß „nächstes Jahr“ einen Termin bedeutete, den zu erleben man kaum hoffen konnte ...

DIE ARBEITSLOSEN BEZIEHEN IN GRIECHENLAND keinerlei Unterstützung und sind buchstäblich zum Hungern verurteilt. Arbeitslosenversicherung ist in Griechenland unbekannt. Trockenes Brot und Olivenöl sind die Nahrung der Arbeitslosen — früh, mittags und abends; einmal im Monat aber geht er aus, in die Taverne, mit seiner Familie; so arm kann ein Grieche nicht sein, daß er nicht doch das Geld für diesen Tavernenbesuch auftriebe. — Es gibt zur Zeit etwa 150.000 Arbeitslose bei einer Bevölkerung von acht Millionen.

IN ATHEN BEGINNT DER ORIENT. Wenn ein Grieche von Athen in irgendein Land des Kontinents fährt (mit Ausnahme von Jugoslawien, aber dorthin fährt niemand), sagt er: „Ich fahre nach Europa.“ Athen fühlt sich nicht mehr ganz zu Europa gehörig. Kommt man aus Europa, ist es schon Orient. Kommt man aus dem Orient oder aus Afrika, scheint es allerdings schon Europa zu sein.

FAST JEDER ZWEITE GRIECHE ist Händler. In Athen ist es schwer, auf jemand zu stoßen, der nichts zu verkaufen hat, seien es Zeitungen oder Käsegebäck, Lose oder Stadtpläne, Südfrüchte oder Briefmarken, Ansichtskarten oder Suvlaggia (Fleischstückchen am Spieß). Beinahe jeder Straßenjunge trägt eine Schuhputzkiste mit herum. — Daß Kinder sich an einen anhängen und „Bakschisch“ verlangen, wie das in Aegypten der Fall ist, erlebte ich nur auf dem Bahnhof von Saloniki. Allerdings erklärten mir Griechen, daß dies türkische Kinder seien, die Tito ausgewiesen habe ...

KINDER, HIRTEN UND RUINEN. Das ist Griechenland heute: auf dem Land archaischer Boden, einfache, gastfreundliche Menschen, wortkarge Hirten und Weinbauern; die Städte, wie überall im Süden, wo sich alles Leben auf der Straße abspielt, selbst ein Stück Natur; Ruinen aus vielen Jahrhunderten, aus mythischer Vorzeit, aus klassischer und fränkischer Zeit und aus dem letzten Krieg. Und in und über diesen Ruinen spielende Kinder. Nicht nur die Vornamen vieler Griechen, die Agamemnon, Odysseus, Sokrates heißen, zeigen die enge Verbindung zur Vergangenheit — überall ist sie lebendig in diesem schönen, ursprünglichen Land. Kinder lassen Drachen steigen über die Akropolis von Athen, unten aus den engen, ärmlichen Gassen der türkischen Zeit dringt Lärm und Geschrei herauf, draußen das abendliche Meer, das der Dichter der Ilias das „traubenrote“ nannte, schimmert herüber — all das vereinigt unter einem fast immer strahlend blauen Himmel - das ist griechischer Alltag 1956.

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