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Kinder in Not

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Während eines Besuches in Deutschland fiel mir ein Album des Suchdienstes in die Hände, ein Album versprengter und unbekannter Kinder aus den deutschen Ostgebieten. Das Buch war etwa 40 Seiten stark und enthielt Kinderbilder, verstörte, ängstliche, versonnene und auch lachende Kindergesichter, mit kurzen aufklärenden Notizen über das Schicksal dieser Waisen. Da stand zum Beispiel unter einem schmalen, sorglos lächelnden Mädchengesicht: „Name unbekannt, vielleicht Helga, geboren etwa 1942, hellblond, braunäugig, das Kind wurde auf dem Bahnhof Könitz (Westpreußen) gefunden, wo es anscheinend seine Mutter verlor.“ Und unter einem großäugigen Kindergesidrt mit Tränenspuren auf den Wangen, stand: „Name unbekannt, geboren etwa 1944, blond, blauäugig; wurde in einem Forst bei Guben, Schlesien, in den Armen seiner toten Mutter gefunden. Herkunft unbekannt.“ So geht es weiter... 408 Kindergesichter waren es, und ebenso viele kaum vorstellbare Sdiicksale enthielt dieses Buch, das seit Ende 1948 bei allen DRK-Stellen, in den Jugend- und Bezirksämtern und vielen Pfarrstellen der deutschen Westzonen auflag, und in den Landratsämtern der deutschen Ostzone. Eine Fürsorgerin erzählte uns damals, daß die Zusammenarbeit mit der Ostzone in allen Suchdienstfragen ausgezeichnet sei, und daß es dem Suchdienst gelungen wäre, im Monat durchschnittlich 600 verschollene Kinder ihren Eltern zurückzugeben. Nach Beendigung des Krieges waren in Lagern, Heimen und anderen Sammelstellen Westdeutsdr-lands allmählich 65.000 heimat- und elternlose Kinder zusammengekommen. „Fürsorgebeamte und Lagerleiter sammelten die Kinder von den Hecken und Zäunen, fischten sie aus den Flüchtlingstransporten heraus...“ — lauter verstörte, kranke, hilfsbedürftige und audi verdorbene Kinder, um die sich von Anfang an Fürsorgestellen, kirchliche und private Organisationen mit großer Liebe mühten. Denn hier galt es, eine der furchtbarsten und gefährlichsten Folgen des Krieges zu mildern und auszu-gleidien.

Viele der aufgefischten Kinder konnten inzwischen ihren wiedergefundenen Eltern zurückgegeben werden; tausende wurden von Pflegeeltern aufgenommen, tausende leben immer noch in Heimen und anderen Fürsorgestellen, jetzt aber zumeist „gerettet“, körperlich und see-lisdr. Wie ist das geschehen? Diese Kinder, jedes einzelne mit entsetzlichen Erfahrungen, die einen Bruch in der natürlichen Entwicklung hervorrufen mußten, vernachlässigt, unentwickelt, auf der Landstraße verkommen, aller Lebensordnungen entwöhnt, auf sich selbst gestellt in einem Alter, in dem sonst Vater und Mutter das Leben regeln und für alle äußeren und inneren Bedürfnisse sorgen, sollten wieder in ein „normales“, geregeltes Leben geführt werden; und das in einer Zeit, in der die allgemeinen Verhältnisse selbst in Deutschland jeder festen Ordnung entbehrten! Daß es ein schwerer Weg war für beide Teile, die Kinder, die Eltern, die Pflegeeltern und die Erzieher in den Heimen, liegt auf der Hand. Und doch erwies sich, wie die Pfleger ziemlich übereinstimmend berichten, daß gottlob selbst bei den furchtbarsten Erlebnissen die vitalen Kräfte in den tieferen Schichten der Seele nur selten angegriffen waren, daß die Kinder eine erstaunliche Elastizität und Regenerationsfähigkeit besaßen, wenn ihnen mit Liebe und Geduld begegnet wurde. Und es fanden sich viele Menschen, die das wollten und taten.

Charlotte Ehlers berichtet über ihre Arbeit in einem Flüchtlingswaisenkinderheim lebendig und beispielhaft, so daß wir sie hier kurz zu Wort kommen lassen möchten:

„Waren das noch Kinder, die ich da sah? Kinder sind keine kleinen Erwachsenen, hatte ich gelernt und gelehrt — und nun stand ich vor Kindern, die zum Teil monate-, zum Teil jahrelang .erwachsen' hatten sein müssen: der Vater Soldat — in Gefangenschaft — vermißt oder gefallen —, die Mutter vor den Augen der Kinder vergewaltigt, verschleppt oder getötet ... Da raffte der oder die Älteste etwas Kleidung und Wäsche zusammen, das flüssige Geld aus Mutters Küchenschrank und floh mit den kleinen Geschwistern vor dem Grauen; sie haben ihre Kindheit zurückgelassen, das Kinderlachen ist verloren. ,Wir haben uns so durchgeschlagen', erzählen sie. Und weiter fragt man besser nicht...

Wie, das spürte man an ihrem Verhalten. Die Mädchen trugen eine etwas linkische Koketterie zur Schau, sie führten schnippisch und überlegen anzügliche Reden. Das lernten sie schnell in den Lagern, wo man zu Hunderten unter den Erwachsenen kampierte, wo alle Grenzen fielen und alle Geheimnisse offenbar wurden. Andere Mädchen wurden stumm, scheu und verängstigt. Die Jungen lernten schnell das .Besorgen' und .Verschachern' . . . Ob es dabei auf Kosten des Nächsten ging, das war unwichtig. Als ich im Sommer 1946 in das Kinderlager kam, wo sie ein .Dach über den Kopf hatten, war es gut, daß ich die Landstraße kannte, die sie gezogen waren, daß ich die “Flüchtlingslager erlebt hatte. Diese Straße hatte die Kinderherzen geprägt, eine gesunde Entwicklung war da nicht mehr möglich. Wo sollte man nur beginnen? ... Man denke ja nicht, daß die Kinder froh gewesen wären, der Sorge des Alltags und der letzten Monate enthoben zu sein! Keineswegs. Es beherrschte sie ein grenzenlose Unlust. Sie fanden sich nicht zurecht. Einzig die Mahlzeiten brachten die Kindergesichter für kurze Zeit zum Aufleuchten. Das war aber nur im Anfang, o-lange wir noch genug zum Essen hatten.. Ja, und dann fing es auch hier an: .Wenn du mir dein Brot gibst, kriegst du meine Strümpfe, mein Taschenmesser.'

Langsam, sehr langsam wurde es anders bei uns. Die Gespräche unter den Kindern über die Erfahrungen, die man draußen machte, wurden seltener. Einzelne hörten zu, wenn etwa erzählt wurde, sangen mit, wo ein Lied angestimmt wurde. Und hie und da wurde ein Gesicht wieder froh — die Verschlagenheit verschwand für Augenblicke.

In dieser Zeit wurde mir etwas klar, was mir vorher nie so bewußt geworden war: Wird in einem Kinderleben die natürliche Entwicklung unterbrochen, so muß nach kürzerer oder längerer Störung an der Störungsstelle wieder eingesetzt werden. Merkwürdig schien zunächst, daß ein Junge, der schon im Volkssturm war und bei den Polen arbeitete, der von Panzerfäusten redete und in zerstörten Bunkern herumstöberte, plötzlich in einer Ecke in .Grimms Märchen' vertieft war. Aber in der Folge beobachtete idi immer mehr dergleichen. Bei den großen Mädchen entstanden eines Tages die ersten .Lumpehlieschen', Puppenkinder, die mit aller Liebe angezogen wurden. ,Für die Kleinen“, sagten sie schnell und ein bißchen verschämt... So fing das Kinderleben bei uns neu an .. .

Ähnliches erzählte eine Pflegerin aus einem Berliner Kinderheim: Die Liebesbedürftigkeit solcher Kinder sei so groß und so elementar, daß man mit Liebe und Verständnis, wenn einmal der Bann gebrochen ist, alles erreiche und aus elenden, verstörten, unkindlichen Geschöpfen wieder fröhliche, unbeschwerte Kinder machen könne. „Kinder sind erstaunlich sachlich“, sagte sie, „sie nehmen das Gegebene als Tatsache hin und wehren sich nicht gegen Unabänderliches. Mit ihren kleinen Füßen gehen sie vertrauensvoll an der Hand der fremden Erwachsenen in das neue Leben hinein. Eines allerdings ist notwendig, sie müssen das Gefühl innerer Sicherheit haben, das Bewußtsein, nicht nur geschützt und geborgen, sondern auch ernst genommen und anerkannt zu sein.“ Und sie müssen zunächst, mit viel Liebe und Erbarmen, zurückgeführt werden in ihr Kinderland — dann können aus ihnen noch heile und glückliche Menschen werden.

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