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Kirchen und Friedhöfe Rußlands

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Wer die Dörfer Zentralrußlands durchwandert, findet den Schlüssel zur Friedsamkeit der russischen Landschaft.

Es sind die Kirchen. Sie gleichen weißen und roten Prinzessinen, die hügelan eilten, Höhen bestiegen und an das Ufer der breiten Ströme traten, geschmückt mit schlanken, spitzen, vielfältigen Glockentürmen, die sich über die Strohdächer und Holzhütten des Alltags erheben. Sie nicken einander von weitem zu. Aus verstreuten Ortschaften, die für einander unsichtbar, bleiben, erheben sie sich zum gleichen Himmel. Und wo du auch durch Feld oder Wiesen streifen magst — weit von menschlichen Behausungen —, bist du doch nie allein: Jenseits der Wand des Waldes und aufgetürmter Heuschober, über die Wölbung der Erde hinweg, lockt dich immer die Spitze eines Türmchens, sei es aus Gorki Lowezkije, sei es aus Ljubitschi oder aus Gawrilowskoje. Beim Betreten des Dorfes jedoch erfährst du, daß nicht Lebende, sondern Erschlagene dich von weitem grüßten. Die Kreuze sind längst zerschlagen oder schief, aus der zerstörten klaffenden Kuppel ragen die Stümpfe des verrosteten Gerüstes. Auf den Dächern und in den Mauerritzen wuchert Unkraut. Kaum ein Friedhof ist noch rings um die Kirchen erhalten. Meist sind die Kreuze umgestoßen, die Gräber zerwühlt. Die Altarbilder — vom Regen der Jahrzehnte verwaschen — sind mit schamlosen Aufschriften verschmiert. Dicht vor der Kirchentür stehen Fässer mit Dieselöl. In ihre Richtung wendet ein Traktor. Dort wieder fährt ein Lastwagen zum Tor der Kirchenvorhalle hinein und wird mit Säcken beladen. In einer dritten Kirche dröhnen Werkzeugmaschinen. Eine andere ist abgeschlossen, stumm. Noch eine und wieder eine andere sind zu Klubs geworden. „Laßt uns hohe Milcherträge erzielen!“, „Die Dichtung vom Frieden“, „Große Ruhmestat“.

Immer waren die Menschen selbstsüchtig und oft wenig gut. Aber das Abendläuten erklang, schwebte über dem Dorf, über den Feldern, über, dem Wald. Es mahnte, die unbedeutenden irdischen Dinge abzulegen, Zeit und Gedanken der Ewigkeit zu widmen. Dieses Läuten, das nur noch in einem alten Lied erhalten ist, bewahrt die Menschen davor, zu vierbeinigen Kreaturen zu werden. In diese Steine, in diese Glockentürme legten unsere Ahnen ihr Bestes, die ganze Erkenntnis eines Lebens.

So wühl doch, Witjka! Hack nur zu! Hab keine Bedenken!

Am allermeisten fürchten wir heute die Toten und den Tod. Stirbt jemand in einer Familie, so vermeiden wir es, dorthin zu schreiben oder zu gehen. Was man über den Tod sagen soll — wir wissen es nicht... Man schämt sich sogar, den Friedhof als etwas Ernstes zu bezeichnen. Seinen Berufskollegen wird man nicht sagen: „Ich kann nicht zur Sonntagsarbeit kommen — ich muß die Meinen auf dem Friedhof besuchen.“ Ist es denn wichtig, diejenigen, zu besuchen, die nicht mehr um Essen bitten?

Einen Toten aus einer Stadt in die andere zu bringen — was ist das für ein Unsinn! Man bekommt keinen Eisenbahnwagen dafür. Sie werden heutzutage auch nicht zu den Klängen einer Kapelle durch die Stadt getragen, wenn es sich um jemand Unbedeutenden handelt, man bringt sie schnell auf einem Lastwagen fort.

Es gab Zeiten, da ging man sonntags auf unseren Friedhöfen zwischen den

Gräbern umher — helle Lieder erklangen und duftender Weihrauch erfüllte die Luft. Es wurde einem still ums Herz — die Narbe des unabänderlichen Todes drückte es nicht mehr schmerzhaft zusammen. Es war, als lächelten uns die Verstorbenen kaum merklich von den grünen Hügeln her zu: „Laß nur gut sein! Laß nur!“

Heute aber findet man am Eingang des Friedhofs — falls er überhaupt noch geöffnet ist — einen Aushang: „Besitzer von Grabstellen! Bei Strafandrohung ist der Abfall des Vorjahres wegzuräumen!“ Noch häufiger jedoch werden die Friedhöfe dem Erdboden gleichgemacht, von Bulldozern eingeebnet — sie werden zu Sportfeldern und Kulturparks. Es gibt auch solche, die für das Vaterland starben — nun ja, so wie du oder ich einmal werden sterben müssen. Unsere Kirche setzte einen Tag für sie fest — dem Gedenken der auf dem Schlachtfeld Gefallenen bestimmt. England gedenkt ihrer am Tag der Mohnblume. Alle Völker haben einen solchen Tag, an dem man derer gedenkt, die für uns starben. Für uns aber haben die meisten ihr Leben geopfert, doch einen Gedenktag gibt es bei uns nicht.

Wenn man aller Gefallenen gedenkt — wer wird dann Stein auf Stein setzen? Iu drei Kriegen haben wir Männer. Söhne und Verlobte verloren. Verschwindet, ihr Lästigen, unter hölzernen, bemalten Grabstük-ken! Hindert uns nicht daran zu leben!

Denn wir — wir werden nicht sterben!

Kniende Engel mit Leuchten in den Händen umgeben die byzantinische Kuppel der Isaakskathedrale.

Drei goldene, spitze Nadeln tauschen Zurufe über die Newa und die Mojka hinv/eg, Löwen, Greife und Sphinxe bewachen hier und dort Schätze oder schlummern. Das Sechsergespann der Siegesgöttin stürmt über den arglistigen, geschwungenen Bogen von Rossi. Hunderte von Säulenhallen, Tausende von Säulen, aufbäumende Pferde, sich stemmende Stiere ... Welch ein Glück, daß hier nichts mehr gebaut werden kann! Kein Wolkenkratzer im Zuckerbäckerstil läßt sich in den Newskij hineinpressen — keine fünfstöckigen Kasten kann man am Gribojedow-Kanal zusammenquetschen. Kein einziger Architekt, sei er noch so unbegabt, wird — sollte er auch seinen ganzen Einfluß geltend machen — eine Baustelle vor der Tschernaja Retschka oder Ochta erhalten.

Uns fremd — und doch unsere ruhmreichste Pracht! Welch ein Genuß, jetzt über die Prospekte zu schlendern! Aber mit zusammengebissenen Zähnen, unter Flüchen, verkommend im finsteren Moor, bauten Russen diese Schönheit. Die Knochen unserer Ahnen lagerten, verschmolzen, versteinerten zu Palästen — gelblichen, rotbraunen, schokoladenfarbenen, grünen... Ein schrecklicher Gedanke — werden auch unser ungereimten, hoffnungslosen Leben, alle Ausbrüche unserer Auflehnung das Stöhnen der Erschossenen und die Tränen der Frauen — wird dies alles auch endgültig in Vergessenheit geraten? Wird all dies auch eine so vollendete, ewige Schönheit schenken?

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