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Kleine Gefangene

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Ein kleiner Park mitten zwischen den Häusern. Eine ungepflegte, verwachsene Ligusterhecke schirmt ihn auf der einen Seite gegen die Straße zu ab, sonst trennt ihn nur ein niedriger Eisenzaun und eine Reihe kümmerlicher Büsche von der Flut des Alltagsgetriebes.

Der Flieder ist schon verblüht; der armselige, bräunlich dürre Rest der einstigen duftenden Blütendolden steht noch an Zweigspitzen, hier hereinpassende Schicksalserinnerungen, und nur aufknospender Jasmin ist Zeugnis der ewigen Blütenbereitschaft des Lebens.

Über allem liegt so ein eigenartiger, wesenloser und doch fast körperlich spürbarer grauer Schein, den, so scheint es, die ringsum aufragenden Häusermauern ausstrahlen.

Den Kernpunkt dieses Parkes bildet ein nicht sehr großer freier Platz, in dessen Mitte ein winziges Rundbeet hineingelegt ist. In diesem brennen einige rote Tulpen wie aus der Erde herauszüngelnde Flammen, und weder das Grau der Häusermauern, noch der Staub der Straße vermag ihren Glanz zu beeinträchtigen.

Dort stehen auch einige Sitzbänke, die einmal bräun gestrichen gewesen sein mochten, nun aber schon längst die Farbe der allgemeinen Farblosigkeit angenommen haben. Alle diese Bänke sind besetzt, hauptsächlich von den Frauen, deren Kinder hier im Park spielen. Sie sitzen da, haben vielfach Näharbeiten mit, da ja für Frauen das Vergnügen meist nur in etwas freundlicherer, ein wenig erleichterter Mühe besteht; dazwischen plaudern sie auch miteinander.

Was diese Frauen reden, ,das mag klein, bedeutungslos und manchmal sogar beschränkt erscheinen, aber es ist doch immer ein Schimmer aus der Tiefe des Lebens, ist blasse, aber doch echte Urnatur, ein müder Hauch von Schicksal. Diese Frauen mögen sehr klein sein, aber selbst dies ist schon viel, denn ohne all diese kleinen Frauen fände das große Schicksal keine Straße und keinen Strom …

Und im Parke spielen die Kinder. Buben und Mäderln laufen hin und her und durcheinander. Sie haben in sich eine Ahnung von Weite und Ungebundenheit, von jubelnder Freiheit zwischen fernen Ufern, darum sind sie temperamentvoller als im steten Halbschatten ihrer Gassenschluchten.

Aber der Park ist doch nur so klein, keine richtige grüne Oase, nur die staubvergraute Andeutung einer solchen. So stoßen sie also bei jedem Spiel da und dort aneinander, und das ergibt immer wieder kleinen Streit,

zornige oder sogar häßliche Worte werden gesagt und manchmal auch schnell einige Püffe ausgeteilt. Das ist aber nicht so, weil sie an sich böse sind, sondern nur, weil sie viel zuwenig Raum haben.

So gesehen, geht es eigentlich sehr friedlich zu. Der heimliche Ernst ihrer Spiele hat die Kinder viel zu stark erfaßt, als daß sie geneigt wären, viel Zeit für Zank und Streit aufzuwenden. Bei den Großen geht es meist umgekehrt zu.

Und dies alles liegt in goldener Zeit. Die Schönheit des Sommers vollendet sich. Audi die atemwürgende Wolke von Staub und Rauch vermag dem Himmelslicht nicht allen reinen Glanz zu nehmen; Blumen duften süß und stark, und aus den wie vergrämt dastehenden Büschen haucht ein reinerer Atem.

Zwei Buben, beide etwa acht Jahre alt, spielen in der Mitte des Parkes mit einem Ball, werfen ihn einander zu, unermüdlich, einmal laut auflachend, dann wieder tiefernst.

Auf einer der Bänke sitzen nebeneinander zwei Männer, der eine wie der andere wohl schon über den Fünfziger hinaus, noch nicht alt also, aber schon im Schatten des Alters stehend.

Es scheint oft so, daß tote Dinge immer dann etwas wie ein bewußtes Leben erhalten, wenn es sich darum handelt, kleinere oder größere Tücken mit zäher Beharrlichkeit zu üben. Sie könnten dies von Menschen gelernt haben.

Dieser Gummiball, mit dem die beiden Buben spielen, hat sich nun in der Form ein solches Eigenleben gestaltet, daß er immer wieder in kurzen Zeitabständen einmal dem einen und das anderemal dem anderen der beiden Männer hinaufspringt, mit Vorliebe auf die Brust, aber auch den Kopf nicht ganz vergessend dabei.

Und jedesmal, wenn dies geschieht, lacht der eine mit den dichten grauen Haaren und dem schmalen Gesicht fast fröhlich auf, während der andere mit dem runden Gesicht und der billardkugelblanken Glatze ärgerlich brummt und einen zornigen Blick auf die zwei spielenden Buben abschießt.

Da kommt der Ball schon wieder herangeflogen. Es scheint, als blitzte er im Fluge boshaft auf, dann saust er dem Herrn mit der Glatze genau auf die gutentwickelte, mit sanftem Rotschimmer von so manchem genußvoll eingenommenen Viertel Wein erzählende Nase.

Der will, nun ernsthaft wütend geworden, ein Schnellfeuer von Scheltworten auf die beiden Buben loslassen, als ihm der andereHerr die Hand auf den Arm legt und ihn leicht schüttelt: „Ich bitt’ Sie, schimpfen Sie doch net! Schaun Sie, ob man ein paarmal mehr oder weniger oft eine auf die Nase kriegt, das spielt doch längst schon keine Rolle mehr. Denken wir uns halt, daß wir auch ein bisserl mitspielen!”

Der andere Mann aber ist noch nicht ganz besänftigt: „Hören Sie, ich setz’ mich doch dazu in den Park, daß ich für eine Weil’ meine Ruh’ hab’, aber net, daß ich so eine Zielscheibe für die beiden Raubersbuben bin!”

Der Grauhaarige lächelt nur: „Aber gehn Sie! Man will doch eh gar nicht wirklidi seine Ruh’ haben, man will ja bloß immer raus aus jeder Ruh’… Sagen Sie, tun Ihnen die Kinder da net eigentlich leid?”

Der Mann mit dem mangelnden Überfluß an Haaren auf dem Kopfe schaut ein wenig verwirrt drein. Er weiß nicht recht, wie der andere das eigentlich meint. Schließlich sagt er dann etwas unsicher: „Was wollen Sie denn? Den Fratzen geht es doch eh gut!”

„So, glauben Sie? Ich weiß net…? Wissen Sie, wenn ich die Kinder von heutzutag so spielen seh’, dann muß ich immer daran denken, wie wir Kinder waren. Und — wie wir spielen haben können! Es ist lang her und — eigentlich auch noch gar net lang. Und trotzdem hab’ ich so ein Gefühl, als lebten diese Kinder von heute auf einem ganz anderen Stern! Erinnern Sie sich dodi! Wie wir Kinder waren, da hat es noch so viel freie Plätze gegeben. In längstens einer Viertelstund’ waren wir wo draußen auf einer Wiese,, auf Feldern, und gar net viel länger haben wir gebraucht, dann waren wir in den Weingärten oder gar im Wald. Wie haben wir spielen können! Jeder hat fast eine ganze eigene Welt für sich allein gehabt. Rennen und springen haben wir stundenlang können, ohne daß wir an einen anderen angestoßen wären. Wie die Vogerln irtf Wald, so sind wir herumgeflogen. Stimmt es?”

Der andere, Rundgesichtige, hat plötzlich hellere Augen, und die Erinnerung trägt ein frohes, jung wirkendes Lächeln in sein Gesicht. Dann nickt er: „Freilich stimmt es. Wie die Vogerln im Wald sind wir herumgeflogen und gezwitschert haben wir auch wie sie. Waren das Zeiten …!”

„Sehn Sie, Herr!” sagt nun der Grauhaarige mit einem kleinen, aber von einer großen Güte durchstrahlten Lächeln. „Und jetzt schaun Sie sich einmal die Kinder von heute an! Das sind eigentlich genau solche Vogerln, wi?wir es einmal waren. Und sie möchten auch berunjfliegen, auf und ab und hin und her, und zwitschern dazu, recht lustig und laut zwitschern! Ja, sie sitzen aber in einem recht kleinen Vogelhäuserl drin. Wenn sie fliegen wollen, gleich stoßen s:e wo an, an ihre Käfiggitter oder an ein anderes Vogerl, und wenn sie singen oder zwitschern wollen, wie ihnen ums Herz ist, wird gleich mit ihnen geschimpft, daß sie nicht so einen Lärm machen sollen. Sie haben ja eh ein recht gutes und geduldiges Herzerl, diese Vogerln von heut’, sonst müßten sie ja dauernd streiten und raufen. Vielleicht will es das große Schicksal so, daß sie auf diese Art schon von ganz klein auf recht viel Geduld und Einsicht lernen, damit sie später einmal eine bessere und schönere Freiheit bauen können, aber es müssen schon wir Alten audi viel Geduld und Nachsicht mit ihnen haben, denn leicht — leicht haben es diese Kinder wirklich net. Ich glaub’ alleweil, weil wir Großen uns und unserer Welt so viel schuldig geblieben sind, verlangen wir von den Kindern, daß sie einmal dem Herrgott unsere Rechnungen zahlen sollen. Wir stopfen alle unsere Hoffnungen in sie hinein, überlassen ihnen alles Schöne und Große, für das wir zu klein und zu häßlich waren, und hängen ihnen Packerl um Packerl unseren Stolz auf das Menschsein an, weil wir zum Tragen schon zu müd’ sind. Unsere Vogerln sollen einmal ganz hoch zum Himmel hinauffliegen. Ja, und dabei sind sie heute nichts anderes als arme, kleine — Gefangene, Vogerln im Vogelhäuserl.”

Eine Weile ist Stille zwisdien diesen beiden Männern unter dem Sdiattcn des Alters. Der Lärm der Stadt steht als unsichtbare Mauer rund um den Park. Das golddurchwirkte Blau des Himmels drängt nieder durch Rauch und Staub. Eine leuchtende Wolke ist das Traum- sdiiff aller Herzen.

Dann sagt der Rundgesichtige, in mildes Verstehen versunken: „Ja — kleine Gefangene — und — die große Zukunft von uns selber…”

Dann sitzen die beiden Männer wieder still, schauen mit junggewordenen Augen in die eigene Kindheit zurück. Lächeln und — wissen es nicht.

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