Kleine Häppchen Goethe

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100 Jahre Goethe-Kalender: "das Laien-Publikum sachte an seinen Dichter gewöhnen".

Als Goethes Mutter 1808 starb, war der Sohn nicht zum Begräbnis aus Weimar nach Frankfurt gefahren. Goethes Angst vor Tod und Begräbnissen überwog alle Sitte. Er hatte nur veranlasst, dass das Elternhaus samt Inhalt versteigert würde. 1814 betrat der 65-Jährige, nach 17 Jahren Abwesenheit, wieder die Vaterstadt, und hörte bei einem nächtlichen Spaziergang aus seinem Elternhaus die Uhr seiner Kindheit schlagen. Der neue Besitzer hatte sie mitersteigert. Ergriffen erzählte Goethe dem befreundeten Erbprinzen Georg von Mecklenburg-Strelitz von dem Erlebnis, und dieser erstand die Uhr, um sie Goethe zum 79. Geburtstag zu schenken. Sie steht noch heute im Haus am Frauenplan.

"Goethe und die Zeit" ist das Thema eines Büchleins, dessen Idee vor 100 Jahren zum ersten Mal Gestalt annahm. Der Literat Otto Julius Bierbaum gab den Anstoß, "dem unbefangen-geneigten, doch ungelehrten Leser, jenseits des Kanons der gültigen Ausgaben, jenseits der Kommentare und weitschweifigen Interpretationen, den Zugang zu Goethe zu erleichtern und das Laien-Publikum sachte an seinen Dichter zu gewöhnen." Ein Vademecum von Tag zu Tag, ein Florilegium, eine Blütenlese: ein paar Verse, ein Gedanke aus Goethes Werk, mundgerecht für jeden Tag des Jahres. Großes steht in diesen handlich-kleinen Kalendern neben Biederem, Deftiges neben Banalem. Die altmodische Idee des Häppchen-Goethe erwies sich als zäh, weil bis heute geliebt vom Publikum. Unterbrechungen in der Tradition verursachten nur die beiden Weltkriege. Jedem Jahreskalender gaben die Kompilatoren ein Thema: "Goethes Mutter und Schwester", "Goethes Diener", "Goethe in Böhmen"... Diese Themen werden bis heute zwischen den Monaten in kleinen Aufsätzen abgehandelt. Und da ist große Essay-Kunst, überragende Goethe-Kennerschaft am Werk.

Goethe und die Zeit: Er war ein Frühaufsteher, liebte den Wechsel von Arbeit, Bewegung im Freien, Gespräch und Lektüre, er kannte sein "Lebenstempo". Noch gab es nicht die "Handschelle unserer Zeit", die Armbanduhr: in Goethes Haus standen drei Uhren, nicht mehr. Ab seinem 30. Jahr war ihm sein Geburtstag (28. 8.) stets ein Tag der Besinnung, des Zurück- und Nach-vorne-Blickens. Er prägte das Wort "veloziferisch", aus lat. Velocitas (Eile) und Luzifer (Teufel). In seinem "Faust" nahm die heutige Anspruchsgesellschaft bereits Gestalt an. Alles muss bei Faust schnell gehen: die schnelle Liebe, das schnelle Geld, der schnelle Mord.

Trotz Beschleunigung der Einzelvorgänge in allen Lebensbereichen reduziert sich der Netto-Zeitgewinn, und die Lebenszeit wird verloren. Die Folge, so Goethe: Oberflächlichkeit und Mittelmäßigkeit. Wer die Geduld - wie Faust es tut - verflucht, dem reduziert sich der Fortschritt auf ein bloßes Fortschreiten von alten zu neuen Irrtümern. Fazit: "Der Mensch kommt ans Lebensende, doch nicht an sein Lebensziel." Und: "Wenn man einmal weiß, worauf alles ankommt, hört man auf, gesprächig zu sein."

Goethe-Kalender 2006

Hg. von Jochen Klauß

Artemis & Winkler Verlag, Zürich 2005

142 Seiten, geb., e 8,20

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