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Kleine Leute

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Sie saßen wie aufgefädelt auf der langen Bank des kleinen Parkes, hinter dem die Mauer des Friedhofes blaß leuchtete. Von dorther sangen Amseln scharf und kriegerisch ihren Ruf herüber. Ihre Federn wippten schwarz aufgeplustert auf den Kreuzen der Gräber und ihre Stimmen schrien erregt den Kampfgesang des Lebens über die Reihe und Ruhe der Grüfte. Es klang wie eine Herausforderung —

Die Leute auf der Bank hatten nicht Ohr und Stimme, auf den blutheißen Vogelgesang zu achten. Sie kamen aus ihren dumpfen, engen Häusern, aus den schmalen, lichtlosen Küchen, Kammern und Gängen, die in hohle, häßliche Schächte sahen. Sie kamen aus ihrem Alltag, um auf ihre besondere Weise ein Stück Feierabend zu halten. Ihre Gespräche begannen bei zunehmender Dämmerung, wenn sich Pfeifen und Worte erwärmt und entzündet hatten. Erst tasteten sich die Gedanken, noch halbblind von den dumpfen Kammern, an die Gewogenheit der Stunde heran, um allmählich, noch immer steif und unbeholfen genug, in die Unbeschwertheit des Abends aufzusteigen. Über ihm stand dunkel der Himmel, abgeschirmt durch die Laubäste der Parkbäume und die Lichcketten der Laternen.

Unter den Ausruhenden waren etliche alte, gebrechliche Menschen, dünn und dürr wie der Tod in Kiefer und Gebein, kleine Leute, von der Mühle eines einfachen, dürftigen Lebens zermahlen oder stumpf und zer- morscht von grauen Sorgen, die aus diesem Leben nicht wegzudenken waren. An den beiden Ecken der Bank wie auf ihrer Mitte lagerten die bedeutsamen Schwerpunkte in Form einer schier eingegossenen Wucht breiter, beherrschender Weiblichkeit, die in Zahl und Wort überragte. Ihre Vertreterinnen trugen Kopftücher zur Verbergung wilder Haarsträhne und weher Gebisse. Die Lücken, die sie spärlich freiließen, füllte bescheiden und anspruchslos die Magerkeit: ein dürrer, knöcherner Mann, auf einen Stock gestützt, und noch zwei Veteranen des Lebens, die sich fügsam in die Reihe bargen. Die Frauen' redeten geläufig. Sie schwätzten wie Spatzen und rollten den Tag von der Zunge mit seinen kleinen Begebnissen und Begegnungen beim Fleischer, Kaufmann und Bäcker. Manchmal stach eine Viper böse und vorschnell. Sie traf irgendeine Nachbarin, die im Augenblick fern und darum hilflos angegriffen und ausgeliefert schien. Wie eine Mühle klapperten die Kiefer der Weiber, und als Begleitmusik klapperten Stricknadeln in ihren behenden Fingern. Nach einigen Nadelreihen vollzog sich stets das gleiche: sie hielten wie auf ein Zeichen inne, als ob ein Notenblatt umzuwenden sei, und begannen auf der neuen Seite, auch im Dunkeln, gleichsam auswendig, die Fortsetzung.

Das anfängliche Zwielicht, in dem sich das Tor des Friedhofes in eisenharter, scharfer Silhouette gegen die Bank abhob, ertrank in der aufquellenden Nacht. Ein schmaler türkischer Mond sank in die Gesträuche, die leise erlöst zu atmen begannen. Häuser und Straßen dunsteten aus. Von drüben, am Abhang des Parkhügels, schrie ein Lautsprecher grell und gequält. Hier aber ragte nur die Mauer mit den Kreuzen und die Stille duldender Bäume. Es wurde jählings so dunkel, daß die Hände der Frauen in den Schoß sanken und die angesaugten Zigarrenstümpfe wie große, leuchtende Junikäfer glühten. Ein Geruch verwelkter Kränze wehte über die Mauer. Unversehens brachen die Gedanken der kleinen Leute in die großen letzten Dinge ein. Vielleicht war es der welke Geruch und der Ort der Toten, von dem Wellen auf sie überspülten. Aber über diese äußere Anfälligkeit hinweg wuchsen ihre Gedanken aus dem Leidkern ihres persönlichen Daseins, das ihnen Brücken in andere Welten baute. Ihre Betrachtungen liefen vor ihnen her wie Kinder, die einen neuen Weg ahnen und ihn in neugieriger Sehnsucht zu finden hoffen. Sie flohen und erhoben sich aus den dumpfen, engen Nischen ihrer Behausungen und Zeitlichkeit in die Weite des Abends und der geahnten Überwelt, um sich auf den Kreuzen der Mauer zu sammeln und von dort dem Flug des Amselrufes zu folgen.

Irgendwas wehte sie alle an, die da in einer Reihe saßen und trotzdem in einem inneren Kreis atmeten, über dem der Abend, das Firmament und das Geheimnis letzter Fragen ruhte. Irgend etwas Besonderes, daß sie den Blick über die Mauer richteten, über die enge Schachtmauer des Daseins. Eine bebende und doch wagende Neugierde lockte sie zum Tor des Friedens, das sie in der Tat wesenhaft zu schauen vermochten und das ihnen dennoch verschlossen stand. In ihrer einfachen, natürlichen Weise tasteten sie sich in seine umworbene Nähe.

Ja, diese kleinen Leute auf der Bank eines Vorstadtparkes sahen geruhig und getrost auf das Letzte: sie wagten das Gespräch vom Tode. Sie taten es ohne sonderliche Scheu und Erregung wie etwas Selbstverständliches. Im Seelengrund trugen sie keine Furcht vor ihm, da sich ihr Herz an keine Schätze und Güter dieser Welt verhängt hatte. Selbst der geschwätzige Redefluß der Frauen dämmte sich in eine sinnlich-beschauliche Betrachtungsweise.

Dort drüben gibt e9 keinen Streit, sagte die vorderste, und die anderen sagten: Keinen Neid, keinen Haß —

Sie waren alle wie unter einer jähen Erleuchtung ganz einmütig und einig, und die

Innigkeit ihres seltenen Einsseins drängte in immer neuen Schüben in das Wunder des Wortes. Es war ihnen, den Schlichten, Einfältigen, plötzlich gegeben, und sie schöpften aus einem Brunnen und Quell, der sie reinigte und von den Schlacken des Tages befreite.

Durch jenes Tor geht nichts von allen Besitzen der Erde! sagte der Knöcherne mit dem Stock, und er sagte es ohne bösen Beigeschmack aus der Erkenntnis lauterer Wahr heit. Das sollte die Welt bedenken! Damit hatte er sie mit ins Wort gehoben.

Der stille Mann regte sich nun räuspernd, um seine hohe, heisere Stimme freizulegen, und sagte, vielleicht zum ersten Male an diesem Abend, ein Wort: Das sollte sie, die Welt! Dann wäre Frieden auf Erden!

Die Verkündigung des kurzen Satzes sank wie Tau über die kleinen Leute auf der Bank. So saßen sie noch eine vertraute Weile schweigend beisammen. Bis der stille Mann sich erhob und die Reihe sich langsam löste. Es war nach diesem Bekenntnis nichts mehr zu sagen. Die Stunde entließ sie. Und sie entgingen ihr nicht ohne Wehmut, aber mit dem Ahnen eines großen, beglückenden Geheimnisses, da9 ihnen zwischen den engen Schächten ihres begrenzten Lebens und den weiten Schächten des Todes würdevoll begegnet und befruchtend anvertraut ward —

Ich habe nie einen Menschen so arbeiten gesehen wie meinen Großvater. Zur Zeit der Feldbestellung lief er auch sechzehn Stunden am Tag hinter dem Pflug her, und nicht selten mußten ihm drei neue Gespanne zugeführt werden, weil er die Tiere zu stark ermüdete. Von März bis November war er, selbst noch in hohem Alter, morgens der erste und abends der letzte. Nach den winterlichen Gelagen, wenn die Gäste einer nach dem andern über oder unter dem schweren

Eichentisch lagern stand mein Großvater auf, schritt, wie er war, zur Mühle hinunter, entkleidete sich und sprang ins eiskalte Wasser. Er streifte dann die Kleider wieder über den wassertriefenden Körper, warf sich in der Mühle die Zweizentnersäcke über den Rücken und trug sie einen Tag lang zwei Treppen hoch.

Er hat manchem ungarischen Magnaten, der in Wien zu flott gelebt oder unglücklich gespielt hat, aus der Klemme geholfen, und die kleinen kroatischen und serbischen Besitzer kamen in ihren Geldnöten nie vergebens zum „Gospodin“. Er fuhr sie zwar hart an und las ihnen, wenn es not tat, auch ordentlich die Leviten, aber schließlich öffnete er ihnen doch die schwere schmiedeiserne Truhe. Er war rauh, aber gutmütig, hart, wo es sein mußte, mild, wo es angebracht war, ein anerkannter „Herr“ in seinem Reich.

So war mein Großvater. Seine Lebenskraft hat drei Frauen überdauert, von denen jede eine Zeitlang still und dienend ihm zur Seite stand. Nur einmal habe ich ihn anders gesehen, und da stand er in immer noch ungebrochener Lebenskraft schon hoch in den Achtzigern. Es war zur Winterszeit. Wir glitten im Pferdeschlitten durch die weiße, schneeglitzernde Stille. Der Großvater ließ es sich nicht nehmen, den Waldarbeitern persönlich Anweisungen zu erteilen. In Schaffellwams und Decken gehüllt, ging es in sausender Fahrt durch die Waldschneisen. Der feurige Falbe, Großvaters Lieblingshengst, griff aus, daß der Schnee nur so stob. Der Alte war in bester Laune und führte in seiner polternden Art laute Selbstgespräche. Einmal deutete er mit dem Peitschenstiel auf ein altes Schloßgemäuer, das irgendwo hinter lichtem Eichenwald in den Wintertag träumte. „Schau hin, Bub“, schrie er mich an, „dort drüben hat der Trenck gehaust! Das war einer! Solche gibt’s ja nicht mehr!“

Da wechselte ein Rudel Wildschweine unmittelbar vor uns über die Waldstraße. Der Falbe stieg jählings hoch und schoß dahin, Großvater und ich fielen unsanft in den Schnee. Ich fand das nach dem ersten Schreck recht lustig. In des Großvaters Gesicht aber stand mit einem Male eine Müdigkeit und Trauer, wie ich sie nie an ihm beobachtet hatte. Schweigend und kopfschüttelnd stapfte er neben mir durch den Schnee heim. Als wir am Abend nach Tisch nach ihm Ausschau hielten, lag der Großvater tot unter den drei windschiefen Föhren vor dem Hof. Es waren drei riesige Bäume, deren Anblick an Menschen gemahnte, die sich, angestrengt lauschend, nach Osten Vorbeugen.

So starb mein Großvater, der Gospodin. Mir scheint, er starb als Herr. Er liegt irgendwo auf einem Dorffriedhof zwischen Drau und Save, unweit der drei in den Wind horchenden Föhren.

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