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Kleine Lichter flackern zwischen den Schienen

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Einleitungsreferat der österreichisch-slowakischen Schriftstellertagung zum Thema „50 Jahre danach - Fanatismus und Propaganda”, gehalten am 5. Mai 1995 in Budmerice.

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Einleitungsreferat der österreichisch-slowakischen Schriftstellertagung zum Thema „50 Jahre danach - Fanatismus und Propaganda”, gehalten am 5. Mai 1995 in Budmerice.

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Fünfzig Jahre danach sieht man die grauen Bilder, die Bilder des Grauens über den Bildschirm des Femsehers flimmern. Ausgemergelte Totengestalten, aus dem Inferno einer anderen Welt kommend, taumeln in den KZs ihren Befreiern entgegen. Hinter den Baracken und vor den Krematorien liegen die Leichenberge.

50 Jahre danach sieht man Staatspräsidenten, Regierungschefs, Minister, Abgeordnete, Delegierte bei Gedenkfeiern vor Rednerpulten auf Tribünen stehen - unten eine schweigende Menge von alten Frauen und Männern, Überlebende des Holo-kausts - und sie sprechen in ihren Gedenkreden von Schuld und Mitverantwortung, endlich auch, viel zu spät, von der eigenen. Und kleine Lichter flackern zwischen den Schienen auf den Gleisanlagen des Bahnhofs von Auschwitz-Birkenau.

50 Jahre danach sieht man und sah man aber auch brennende Asylanten-hekne, eine tatenlos herumstehende, ja sogar Beifall klatschende Menge, die Tragbahren mit den in Plastiksäcken verpackten Leichnamen der Toten, der Opfer. Und man sah sie wieder marschieren, eine grölende Horde von jungen, besoffenen, verblendeten, fanatisch-hassenden Burschen, die Benzinbomben warfen und mit erhobenem Arm „Heil Hitler!” -„Sieg Heil!” und „Deutschland den Deutschen!” schrien. Und man weiß, daß gut organisierte Gruppen gezielt im geheimen agieren. Ergebnis: Briefbombenterror und die Roma-Morde in Oberwart, im Februar 1995.

50 Jahre danach stehe ich in Yad Vashem, der 1 lolokaust-Gedenkstätte in Jerusalem, zwischen den Steinschluchten und lese die in Stein gemeißelten Namen der Orte” des Grauens, die es nicht mehr gibt, die es so nicht mehr gibt, wie sie waren - vorher; vor dem großen Morden, vor den „Säuberungen”, vor der Vernichtung. Namen .- Namen - Namen, sonst nichts. Sonst ist nichts geblieben vom Leben, damals und dort. Und ich treten ein in den großen dunklen Raum des „Children-Memorials”, taste mich mit einer Hand entlang am Geländer des Weges, sehe die unzähligen Lichter an diesem künstlichen Nachthimmelfirmament - jedes Licht ein Zeichen für ein ermordetes Kind - und ich höre von einer Stimme aus den Lautsprechern monoton die Namenslitanei der Opfer: Rachel, sieben Jahre - Ruth, drei Jahre - Esther, fünf Jahre - David, zwölf Jahre - usw. Eine endlose Opfernamensliste. Und ich spüre die Tränen in meinen Augen.

50 Jahre danach sehe ich die Leichen von hingeschlachteten Menschen, Frauen, Kindern, wehrlosen Männern, in Flüchtlingslagern in Ruanda, in den Abendnachrichten im Fernsehen. Und sehe Soldaten, mit Maschinenpistolen, die das Victory-Zeichen mit ihren Mörderhänden machen und lachen. Und ich denke an Bosnien-Herzegowina, an den Krieg, an die „ethnischen Säuberungen” dort, an die Friedhöfe.

50 Jahre danach erinnere ich mich, auch an Hand von Büchern und Bildern, an damals, als ich noch ein Kind war. Und ich frage mich: Was hat das alles mit mir zu tun, auch jetzt noch und heute? Und gebe mir selber zur Antwort: Sehr viel, es ist ein Teil meines Lebens. Ich bin dadurch geprägt und etwas ist davon noch immer in mir.

Ich erinnere mich dunkel an diese Zeit, an diese dunkle Zeit, die so viele Millionen Menschen trotzdem geblendet und verblendet hat. Immer waren sie strahlend, diese Kämpfer, diese Helden, diese Sieger; diese Männer und Frauen in ihren Uniformen, diese strammen Burschen und feschen Mädels. Alles war sauber, geordnet und schön. Und die Aufmärsche und Kundgebungen waren imposant und eindrucksvoll. Da wollte man gerne dabeisein, dazugehören. Das sagten später auch viele. Das war eine Welt voll Kraft durch Freude. Und man sah wieder eine Zukunft, eine glanzvolle, für alle - für alle, die dazugehörten. So hörte man es aus den Lautsprechern, aus dem Volksempfänger-Radio, von den Rednertribünen herab, von den Parteifunktionären, den Gauleitern, von Reichspropagandaminister Dr. Joseph Goebbels, vom Führer Adolf Hitler selbst. So stand es auf den Plakaten und in den Zeitungen. Keiner war mehr allein, alle - die dazugehörten -gehörten jetzt zum Volksganzen, zur großen, alles umfassenden und einschließenden Volksgemeinschaft des nationalsozialistischen Partei-und Führerstaates, dessen Programm und Wirklichkeit in die Formel gefaßt und darin ausgedrückt war: „Ein Volk - ein Reich - ein Führer!” Ich erinnere mich dunkel an diese dunkle Zeit meiner Kindheit. Ich erinnere mich an das Dunkel im Raum, wenn wneder einmal das Licht ausgegangen war, im Wohnzimmer, und später im Keller; wenn wir voll Angst nebeneinander oder aneinanderge-preßt dasaßen, über uns der Motorenlärm der Flugzeuge und dann das Pfeifen und die Einschläge und das Zittern der Wände und das unserer Körper.

Ich erinnere mich an zackig gebrüllte Befehle, an das Geschrei auf der Straße. Und daß viele Menschen, wenn sie beieinanderstanden, nur sehr leise miteinander sprachen. Und daß man uns Kindern sagte, wir sollten still sein und nicht soviel reden. Und ich erinnere mich an die Namen von Gefallenen, die man im Radio verlautbarte; aber gleich darauf ka men Siegesmeldungen und Marschmusik. Und ich erinnere mich an Begräbnisse, an solche, wo kein Leichnam in dem aufgestellten Sarg lag, und an Birkenkreuze, die man auf Grabhügeln unseres Friedhofes errichtete. Und an Frauen und Mädchen, die plötzlich schwarze Kleider trugen. Und daß man, hinter vorgehaltener Hand nur zu engsten, wirklich Vertrauten, zu denen man Vertrauen hatte, von Menschen sprach, die in KZs eingeliefert worden waren.

Und an zwei im Ort bekannte Geistig-Behinderte, die plötzlich verschwunden waren. Und daß es Leute gab, die sagten, das sei besser so, auch für sie. Und ich erinnere mich, daß es fanatische Nazis im Ort gab, von denen man nachher, nach dem „Zusammenbruch” sagte, daß sie Leute denunziert hätten, damals. Und ich erinnere mich und weiß es, daß diese Nazis nie zur Rechenschaft gezogen worden sind. Und kann mich erinnern und sehe sie noch vor mir, wie sie am Sonntag, bei ihrem Nachmittagsspaziergang, stets eine Gruppe von Damaligen und noch immer Gleichgesinnten, von den meisten anderen Ortsbewohnern ehrerbietig und respektvoll gegrüßt wurden. Und in manchen Fällen ist das auch heute noch so. 50 Jahre danach. Und ich frage mich, warum das so ist, warum das noch immer so ist. Und warum das einst denn so war. Und das ist mein Leben, jedenfalls auch.

50 Jahre danach sehe ich die Wirklichkeit, die Propaganda, aber auch die schreckliche Wahrheit von damals als Bilder im Fernsehen. Ich sehe einen Film vom Bombenangriff auf

Dresden, sehe die Städte in Schutt und Asche, sehe die endlosen Flüchtlingskolonnen, die Gefangenen nach der Schlacht von Stalingrad. Sehe die fanatisch-euphorische Masse Hunderttausender, wenn der Führer Adolf Hitler „spricht”, besser gesagt, sich mit überschlagender Stimme und wild gestikulierend immer fanatischer in seinen Haß und seinen Wahn hineinsteigert. Und die unten heben, wie von einer höheren Macht gelenkt und befohlen, den Arm und schreien wie aus einer Kehle „Sieg Heil!”

Und fünfzig Jahre danach denke ich an die Menschen, die sich auskleiden mußten für die „Dusche”, die jedoch der Gasmord war. Und denke ich an einzelne, versuche ich sie mir vorzustellen, was sie in jenem Augenblick fühlten und dachten, da sie wußten, daß sie durch Mörderhand jetzt sterben mußten, wenn das Erschießungskommando angetreten war. Und denke auch an die Täter.

50 Jahre danach, da ich im Fernsehen Neonazis sehe, bei Umzügen und Versammlungen, die wieder Parolen schreien von Rassismus und Gewalt, und dies mit Duldung von Justiz und Polizei, frage ich mich, was wir denn versäumt haben und weiß um unsere neue Schuld.

Und 50 Jahre danach werde ich vielleicht auch in diesem Jahr mit meinem alten Freund, der Widerstandskämpfer war und ist, bei der .Befreiungsfeier in Mauthausen die Todesstiege hinaufgehen, die gleiche Stiege, die er einst als Häftling ging; und wir werden uns an den Händen halten und schweigen.

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