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Kleine Reisepliilosopliie

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Man tut dem Leben keine Gewalt an, wenn man es als einen sklerotischen Prozeß begreift. Jahr für Jahr, Tag für Tag arbeitet unmerklich an jenem geheimnisvollen Werk der immer schärferen Profilierung und Konturie-rung, der Verhärtung dessen, was in der Frühe des kindlichen Anfanges weich, fließend, pflanzenhaft und von tausend lebendigen Keimen beseelt war. Ansichten, Neigungen, Gewohnheiten bilden sich heraus, festigen sich bis zur Unwiderruflichkeit. Diesen unerbittlichen Tatbestand, der Versteinerung und Erstarrung anzukündigen, ja zu verhängen scheint, in ein menschliches Gleichgewicht zu bringen, ihn fruchtbar der Ganzheit des Lebens einzufügen und unterzuordnen-, das ist die große Aufgabe, vor die jedes lebendige Dasein sich gestellt sieht. Aber jedem von uns jind hierbei freundliche Helfer gesellt. Es sind die großen und kleinen Erschütterungen und Erhebungen des Herzens, sie mögen sich herschreiben, woher sie wollen. Es ist der heimliche Abenteurer und Zugvogel, der heimliche Dichter, der in jedem Menschen steckt, das heimliche Kind, der heimliche Lächler und Weiner, der heimliche Weltverwandler, der heimliche Schöpfungsbeglänzer, der heimliche Verzauberer seiner selbst, der Todfeind des Gewöhnlichen, das den Menschen mit Erstickung und Erstarrung bedroht. Der ahnungsvolle Tiefsinn unserer Sprache leitet die Worte „gewöhnlich“ und „Gewohnheit“ von „Wohnen“ ab und deutet damit auf die wohl im guten Sinne festigende und kräftigende, aber zugleich auch verhärtende und erstarrende Wirkung, die von der Wohnung, das heißt: von einem ewig sich gleichbleibenden festen Lebenszustande ausgeht. Dem in uns selbst verborgenen Heilmeister Unserer Seele sollen wir den Willen lassen; wir dürfen gewiß sein, daß er es von Herzen gut mit uns meint. Er ist es, der uns unter allerhand Vermummungen in Erlebnisse führt, in Beglückungen und Bitternisse, und den hartgewordenen Boden mitunter auch mit scharfem Eisen aufreißt und von neuem empfänglich macht, denn, chemisch gesprochen, kann ja auch das bittere Tränensalz die Auflösung kalkigen Seelengesteins bewirken. Lieber allerdings und häufiger bedient er sich gütigerer Mittel, und kein anderer als er ist es auch, der uas unter Vielerlei listig ersonne-nen Vorwänden auf Reisen schickt.

Ich mache kein Hehl daraus, daß ich ein abergläubischer Mensch bin und daß mein Aberglaube auch vor den Dingen des Reisens keineswegs haltmacht. Nur einen verbreiteten Aberglauben teile ich unter keinen Umständen: den nämlich, zu einer Reise in eine bestimmte Gegend oder zum Reisen überhaupt gehöre eine bestimmte Jahreszeit und ein bestimmtes Wetter. Der Hochsommer Italiens, der tiefste Winter des Nordens, zwei von Reisenden gern gemiedene Jahreszeiten, das sind ja gerade die klassischen Jahreszeiten dieser Landschaften! Ich gebe zu, daß sie dem Fremden manche Last und Unbequemlichkeit auferlegen mögen, aber sie tränken ihn dafür überreich mit der wahren Essenz des Landes. Man darf also reisen zu jeglicher Zeit. Immerhin, wie die Liebe zwar das ganze Jahr begleiten und beglänzen soll, im Mai jedoch, glaubwürdigen Versicherungen zufolge, am lindesten und lieblichsten tut, so hat der Frühling als Reisezeit seinen Sonderruhm, und sei es auch nur deshalb, weil Reisesehnsucht und Reisebedürfnis im Frühling am größten sind. Denn der Winter ist ja die Zeit, die uns am strengsten auf unsere Wohnung, unser Gewöhntes und Gewöhnliches verweist, die Zeit, die uns am stärksten mit jener Erstarrung bedroht, die sie auch der Natur auferlegt. Und ebendeshalb lockt unser Seelenheilmeister uns gerade im Frühling in die Ferne, damit wir beglückt innewerden, daß wir noch nicht ganz und gar in Kalk, Staub und Rost winterlich begraben liegen, sondern uns österlich jeder Auferstehungskraft versichert halten mögen. Ja, man darf auch wohl einen besonderen Sinn darin finden, daß sich der Frühlingsmonat April als die große Zeit der Umzüge und Uebersiedlungen eingebürgert hat, denn jede Veränderung dieser Art ist ein neuer Lebensanfang, ein neuer Jugendbeginn. Dies erfahre ich selbst, der ich eben jetzt an einem neuen Ort und in einer neuen Wohnung zwischen halbausgepackten Kisten und zertrümmerten Gegenständen diese Gedanken zu Papier bringe und ausgebliebener Handwerker und unauffindbarer Schlüssel halber von Rechts wegen der aschfarbensten Melancholie anheimgefallen sein müßte.

Auf Reisen widerfährt uns eine Rückver-wandlung in Jugend und Kindheit. Dies gilt nicht nur von der Aufgeschlossenheit und Erlebnisbereitschaft unseres ganzen Wesens, sondern noch in einem besonderen Betracht. Ich denke hier an jene merkwürdige Verrückung des Zeitsinnes, die sich schon am ersten Reisetag einzustellen pflegt. Alles Gewohnte liegt weitversunken hinter uns, wir können uns nicht vorstellen, daß wirklich erst dreißig Stunden seit unserem Aufbruch vergangen sein sollen. Wir leben plötzlich mit einer anderen Zeitvaluta: mit der Zeitvaluta der Kinder. Denn das wissen wir ja alle, daß ein Tag im Leben des Kindes so viel ausmacht wie ein Monat in dem unseren. Was hat nicht alles Raum in einem einzigen Kindertag an Erlebnissen, Eindrücken, Entwicklungen und Erkenntnissen, am Wechsel zwischen Seligkeit und Kummer! Mit einem solchen Kinderherzen reisen wir. Und weil wir uns gar nicht vorzustellen vermögen, daß uns allein diese gnadenvolle Veränderung betroffen hat, so meinen wir unwillkürlich, auch die gewohnte Welt, die wir zurückließen, müsse etwas Aehnlichem unterworfen sein. Auf der Heimreise beschäftigt uns immer stärker der Gedanke: Was mag, was muß sich derweil zu Hause alles ereignet haben? Was werden wir vorfinden, was für gänzlich neue Lebehseinflüsse werden sich überwältigend auf die Umgebung unserer Alltagswelt ergossen haben? Wir kommen heim. Was ist geschehen? Nichts, radikal nichts. Nichts als das eine: daß der Abgereiste nicht heimgekehrt ist. An seiner Stelle kehrte ein anderer heim: einer, an dem der verborgene Heilmeister sein lösendes, sein verjüngendes Werk treulich getan hat. Wenn wir diesem eine gute Verrichtung wünschen, so wünschen wir zugleich allen, die sich ihm gläubig anvertrauen, eine glückliche Reise!

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