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Kleines Madchen an der Ostsee

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Schon Mitte Mai begannen die russischen Schulferien und dauerten bis Anfang September, eine unendliche Zeit! Für diese Sommermonate zogen alle wohlhabenden Bürger der Großstadt, besonders aber solche, die eine größere Familie und Kinder hatten, hinaus auf die „Datsche“, das heißt man mietete ein Haus, ein Holzhaus natürlich, in nicht zu großer Entfernung von der Stadt. Das Haus war mehr oder weniger möbliert und mit allem Nötigen ausgestattet, doch fehlte immer noch genug, um einen Lastwagen vollzupacken mit Dingen, die man für unentbehrlich hielt. Dieser Lastwagen, mit zwei oder drei kräftigen Pferden bespannt, fuhr gemächlich voraus an seinen Bestimmungsort, auch die Köchin und die Dienstboten saßen mit auf, während die Herrschaft per Bahn folgte, — und das Haus nicht eher betrat, bis der dampfende Samowar auf dem Tisch zum Empfang bereit stand.

In unserer Familie hatte es sich einige Jahre schon ergeben, daß die Eltern um diese Zeit das ihnen heimatliche Ausland, Oesterreich, aufsuchten, während wir Kinder aufs Land, „auf die Datsche“ geschickt wurden, natürlich unter reichlicher Bedeckung, das heißt für uns vier Kindern war ein ebenso zahlreiches Personal vorhanden: die lettische Bonne Lisa, die Köchin Mascha, deren junge Tochter, die geliebte Na-tascha als Gespielin, und als männlicher Betreuer der Ukrainer Nikitenko, sonst Vaters Bürodiener.

Unsere Datsche befand sich einige Jahre hindurch am estländischen Ostseestrand, nicht weit von der alten malerischen Festung Narwa, in einem kleinen Ort dicht am Meer mit dem estnischen Namen Mereküll.

Oh, Mereküll war schön, — keinen schöneren Strand konnte es geben! Breit, weiß, von feinstem Sand zog er sich weit und einsam hin, dunkle Fichten säumten ihn ein, und sehr zart, sehr behutsam berührten ihn die kleinen Wellen der Ostsee, — sie spülten nur eben leicht über seine äußersten Spitzen und ließen den feingerippten Sand zurück, in zartesten Spitzenmustern. Gibt es eine zärtlichere Berührung als die der kleinen Wellen, wenn man sich flach hinlegte in Sand und seichtes Wasser, mit dem Blick weit hinaus, wo Meer und Horizont im Unendlichen zusammenstießen? Selig lag man, die Hände in den Sand gewühlt, kleine Muscheln zwischen den Fingern und das rhythmisch-leise Geräusch der heraneilenden und wieder zurückweichenden Wellen im Ohr, — war man da noch „ich“, war man da nicht ein Stück der Landschaft, der Natur, dazugehörig zu Wasser und Sand?

Diese Sommermonate waren für uns unsere „russische Zeit“, wir lebten mit russischen Menschen, sprachen nur ihre Sprache, tauchten ein in Wasser und Wald, - ein östlicher Wald, ein Märchenwald, dicht, dunkel und zum Verirren, mit soviel Beeren und Pilzen, wie ich ihn später nur noch im ostpreußischen Masuren gefunden habe. Diese Zeit gab mir für immer das Heimatgefühl zu diesem nordöstlichen Bereich, zur Ostsee, ihrem Strand, ihrem Wald, zu den heißen, sonnendurchglühten Tagen am Wasser, zu ihren hellweißen Nächten, die Geheimnis und magisches Licht woben um die herbe Landschaft, — und zu den Menschen dieses Bereiches.

Wir, die jungen und noch kleinen Mädchen, waren es gewohnt, in der Stadt für die Dienstboten das „Fräulein“ zu sein, das mit „Sie“ angeredet wurde, während wir die übrigens sehr patriarchalisch gehaltenen Dienstboten einfach mit Vornamen und „Du“ anzusprechen pflegten. Aber hier, auf dem Lande, war alles anders, — hier waren wir eine Familie, wir waren auch keine „Ausländerkinder“ mehr, sondern wir gehörten alle miteinander in diese Landschaft, wir badeten zusammen, wir zogen für den ganzen Tag in den Wald auf Beeren- und Pilzsuche, und abends, auf der Bank vor dem Hause sitzend, sangen wir russische Volkslieder abwechselnd mit den Bewohnern der Nachbarhäuser, von dem getreuen Nikitenko auf der Gitarre begleitet.

Natürlich, und jetzt in der Erinnerung sehe ich es ganz deutlich, ist es auch hier „der Kindheit Zauber“, der lächelnd ruht auf diesem kleinen Ort am Meer. Er mag in Wirklichkeit dem kritischen Auge heute arm und nüchtern erscheinen, aber damals und in meiner Erinnerung war und ist er voll Schönheit, Farbe und Klang und begreift alles in sich, was ich an traumhafter Anhänglichkeit und Heimatgefühl empfinde.

Ein äußerlich unscheinbares Erlebnis, das ich dort in meinem 13. Lebensjahr etwa hatte, trug stark zur Vertiefung dieser Empfindung bei.

In einer der hellen Sommernächte lag ich schlaflos, das zum Fenster hereinflutende weiße Licht rief und zog mich ins Freie, ans Meer. Bloßfüßig, im Nachtgewand lief ich hinaus, — alle Türen standen ohnehin offen und wir wohnten ja ganz nahe am Strande, — und da stand ich nun in der stillen, hellen Sommernacht, die Füße bespült von den sanften Wellen, so klein und jung, und ein so unermeßliches Wollen und Sehnen im Herzen, wonach, wohin? Ich wußte es selbst nicht, in-Worte war dieses mich fast sprengende Gefühl des aus meinem engen Gehäuse Herauswollens nicht zu fassen, es war Ueberschwang eines ersten starken Empfindens von etwas, das nichts mit mir selbst zu tun hatte, nichts mit Wünschen des realen Lebens, es war reines Gefühl des Sichsehnens, ohne Zweck, ohne Ziel ins Unendliche hinausgesandt. Es schien mir als wäre ich ganz, ganz nahe daran mich aufzulösen, und fast unbewußt begann ich weiter ins Wasser hinauszugehen.

Eine Stimme rief mich an und weckte mich aus diesem Rausch des Sichverlierens. Es war ein junger Mensch in der Uniform der russischen Studenten, der von mir unbemerkt im Sande gelegen hatte, — ob ich es wie die kleine Seejungfrau machen wolle und mich in Luft und Schaum auflösen, fragte er. Ja, das wäre wohl eine Nacht, in der man aus seinem Menschenleib und gar erst aus der verhaßten Uniform, die er trüge, sich heraussehne, — so jung ich ei, ich schiene das zu verstehen. Und ob ich ein russisches Mädchen sei? Verlegen und fast beschämt mußte ich das verneinen, — „aber“, setzte ich hinzu, „ich fühle ganz wie ein solches“.

Er aber schüttelte den dunklen Kopf und meinte, daß das nur eine Einbildung und ein unerfüllbarer Wunsch sei und daß es mit den Menschen zwischen zwei Sprachen und Völkern eine eigene Bewandtnis habe, — er wisse das, denn es sei auch sein Schicksal. Man sei bei keinem der beiden Völker ganz daheim, bei keinem aber auch ganz fremd, beide könne man verstehen und, wenn man stark empfinde, beide lieben. Und statt sich so ganz ins Ziellose zu sehnen und sich beinahe aufzulösen vor lauter Gefühl, solle man doch lieber darauf sinnen, die beiden einander fremden Hälften in sich selbst zu einem Ganzen zu vereinigen und damit etwas Eigenes und Neues zu werden, was vielleicht auch sein Gutes und seinen Sinn habe.

Unter solchen Reden hatte der junge Mensch meine Hand gefaßt und wir gingen langsam den Saum des Wassers entlang auf unser Haus zu. Sänftigung und Beruhigung strömten aus dem, was seine tiefe Stimme mir zusprach, auf mich über, es war, als sei den unklar drängenden Wogen des Gefühles nun ein Weg gewiesen, den sie fließen könnten, und als würden sie bereitwillig dieser Strömung sich fügen. Ich erfaßte, daß etwas mit und in mir geschehen war: ein unbegrenztes Gefühl hatte Grenze und eines Gedankens Gestalt angenommen, — vor meinen noch träumerisch verhangenen Kinderaugen schien der Nebel sich leicht zu heben und in weiter Ferne einen klareren Ausblick anzukündigen.

An der Gartentüre gaben wir einander die Hand. „Lebwohl, kleine Schwester“, sagte er ernsthaft, — und ebenso ernst erwiderte ich: „Lebwohl auch du, großer Bruder.“

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