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Kleines Schweizer Konterfei

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Die Brücke über den schmalen westlichsten Rheinarm trennt uns von dem Lande, wo Milch und Honig fließt. Fast hält man es für eine verständliche Zwecklüge, wenn Schweizer Staatsmänner und ernste Zeitungen von Problemen, gar von Sorgen reden.

Die andersgeartete Haltung des Sdiwei-zers gegenüber dem sonstigen Kontinentaleuropäer beginnt nicht damit, daß am Schweizer zwei blutige Kriege glücklich vorbeigegangen sind, obwohl sein Land nicht am Rande der Weltgeschichte, sogar im Herzen Europas liegt. Der Schweizer hat unleugbar ein anderes Staatsgefühl als seine Nachbarn. Seit Jahrhunderten ist er niemals Untertan gewesen, er ist Demokrat im innersten Wesen, nicht mit dem Munde. Der Staat ist nicht ein Etwas, das über ihm thront, sondern eine Gemeinsdiaft, deren bewußtes Glied er ist. Er kann daher dem Staate gegenüber niemals kritisch oder gar ablehnend stehen, er kann — und hat reichlich die Mögliclikeit — das Seine darzutun, den Staat iu seinem Sinn zu lenken. Wird er überstimmt, dann fügt er sich, weil sein Wille eben nicht der Wille der Allgemeinheit war.

Wir sprachen vom „Staate“. Dieses Wort kommt in der politischen Terminologie des Schweizers nicht vor. Er kennt nur die dreifache Gliederung von Gemeinde, Kanton und Bund. Noch immer scheint unter diesen dreien der Kanton das stärkst bestimmende Element zu sein. Trotz der durch die moderne Wirtschaft und Sozialpolitik naturnotwendig gegebenen Vereinheitlichung ist der Schweizer noch immer in erster Linie Kantonsbürger, erst Zürcher, Berner oder Basler, dann mittelbar Eidgenosse. Die Nein-Stimmen bei der Eidgenössischen Alters- und Hinterlassenen-versidierung kamen zum guten Teil aus der traditionellen Angst vor einer neuen Bundesbehörde, welche über die Kantonsgrenzen hinaus regieren wird.

D“- verhältnismäßig klein* Bereich des Kantons läßt ein persönlidies Verhältnis zwisdien dem einzelnen und der Gemeinsdiaft noch stark hervortreten. Die Durchschnittseinwohnerzahl eines Schweizer Kantons ist 180.000 — genau die Volkszahl Vorarlbergs. Volkreicher sind nur Bern, Zürich, Waadt, St. Gallen, Luzern und Aargau. Alle anderen Kantone liegen unter der Einwohnerzahl des kleinsten öster-reichisdien Bundeslandes — der Halbkanton Appenzell-Innerrhoden hat nur 14.000 Einwohner, der kleinste Vollkanton (Uri) 24.0.00. Es ist verständlich, daß in solchen politisdien Einheiten der einzelne nodi stärker zur Geltung kommt. Die alte Landsgemeinde, in der jeder Bürger sprechen kann und unter freiem Himmel abgestimmt wird, kennen nur noch die beiden, Appenzell und Glarus. Sie hat aber in moderner Form ihren Ersatz gefunden durch Volksbegehren und Volksabstimmung, welche nidit nur bei widitigen Entscheidungen im Bund, sondern auch in den Kantonen und Gemeinden oft bei ganz nebensädilichen Dingen in Brauch steht. So stimmten heuer einige Bodenseegemeinden über die Frage, ob man in den Strandbädern die Geschlechtertrennung beibehalten solle, womöglich am selben Tag mit der Bundesabstimmung über die Altersversicherung und über die Wirtschaftsartikel. Ob es sich um den Beitritt der Schweiz zur UNO oder um die Umlegung einer Straßenbahnlinie handelt, zu entscheiden hat das Volk. .

Diese Tatsadie aber führt dazu, daß die politischen Parteien, so ausgeprägt sie in der Sdiweiz auch sind, nicht die Macht haben wie anderswo. Vor allem haben sie keine Madit über das Vc.'k selbst. Gerade bei den großen Abstimmungen' des heurigen Sommers fürchtete man den ;.Umfall“, nicht etwa, weil eine starke Partei gegen die Vorlagen aufgetreten wäre, sondern vielmehr, weil alle Parteien sie unterstützt hatten. Nach der Meinung des Schweizers wirkt diese Tatsache bereits für sich auf den Wähler abschreckend. Während des Krieges traten alle Parteien und die gesamte Presse einmütig für die vormilitärisdie Erziehung der Jugend ein, das Plebiszit aber schickte den Entwurf mit erdrückender Mehrheit „badiab“, denn „wir brauchen keine Hitler-Jugend“.

Da jeder Kanton, aber auch jede größere Stadt womöglidi für jede Richtung ein eigenes Blatt haben will, ergibt sich eine ausgesprochene Vielfalt im Schweizer Blätterwald, nidit zur Förderung der Auflagenhöhe. Das Weltblatt, die „Neue Zürcher Zeitung“ hat eine Auflage von bloß 67.000, nur zwei weitere Blätter emittieren mehr als 50.000, die Blätter der Kantonstädte liegen meist um 10.000, aber es ist gar nicht selten, daß ein Blatt, welches das politische Leben seines Kantons bestimmt, eine Auflage von 3000 bis 5000 Stück hat. 40 Prozent der Schweizer Zeitungen haben eine Auflage unter 2000. Mit 400 politischen Zeitungen an 200 Orten wird die Eidgenossenschaft zum relativ zeitungsreichsten Lande der Welt.

Die Gegensätzlichkeit zwischen den Parteien ist stark, greift oft auch auf das menschliche Gebiet über, mehr als im heutigen Österreich. Es fehlt das gemeinsame Erleben, das uns dem Mitbürger anderer Gesinnung nähergebracht hat. Dasselbe gilt von einer Erscheinung, welche im Schweizer politisdien Leben eine gar nicht zu unterschätzende Rolle spielt: dem Gegensatz der beiden Konfessionen.

So wie die alte demokratische Verfassung, so hat die Reformation in der typischen Form des Kalvinismus das Bild des Schweizers gestaltet. Die Entwicklung brachte es mit sich, daß sich auch auf katholischer Seite demokratisdie Formen ausbildeten, wie etwa die Wahl der Pfarrer. Das zahlenmäßige Verhältnis der Katholiken zu den Kalvincrn ist gegenwärtig 42 : 58 und dürfte sich durch den größeren Kinderreichtum der Katholiken in der Zukunft noch wesentlich verbessern. Insbesondere in der Welschschweiz wird behauptet, daß die vielen Kinder von Freiburg das geburtenarme Genf in den nächsten Generationen katholisch machen werden. In Gegenden, in denen beide Konfessionen nebeneinander wohnen, fällt die scharfe gesellschaftliche Trennung auf. Mischehen sind seltener als anderswo. Das konfessionelle Gemein-sdiaftsgefühl ist in der Schweiz zweifellos stärker entwickelt als in vielen anderen europäischen Ländern. Die relativ besten evangelischen Gebiete des Deutschen Rei-dies halten, was kirdiliches Zugehörigkeitsgefühl betrifft, einen Vergleich mit der reformierten Schweiz nicht aus.

Auch die Kirchenpolitik ist Landessache. Es gibt Kantone, die verfassungsmäßig katholisch sind (Schwyz, Uri, beide Unterwaiden, Luzern, Zug, Appenzell-Innerrhoden, Wallis, Tessin), solche mit reformierter Staatskirche (Zürich, Bern, Basel-Land, Appenzell-Außerrhoden, Schaffhausen, Waadt), paritätische (Glarus, Solc.hurn, Freiburg, St. Gallen, Graubünden, Aargau, Thurgau) und solche mit Trennung von Staat und Kirche (Genf, Neuenburg, Basel-, Stadt). Der Bund könnte kaum eine Formel finden, die überall paßt, djirum ist die Ordnung dem kleineren Kreise überlassen.

Dasselbe gilt von der nationalen Gesetzgebung des vierspradiigen Landes. Der Tessin ist italienisch, Graubünden deutsch, italienisch und rhätoromanisch, Genf, Waadt, Neuenburg sind französisch, Bern, Freiburg und Wallis deutsch und französisch gemischt, die anderen Kantone sind deutsch. Die sprachlichen Verhältnisse werden von Fall zu Fall bestimmt, nicht durch das Bundes-gestz. Es hat sich auch hier die Achtung vor den Grenzen eingebürgert wie bei den beiden Konfessionen. Und eine ähnliche Entwicklung scheint sich zwischen den politischen Parteien anzubahnen. Da fast alle leitenden Beamten gewählt werden, spielt die Parteizugehörigkeit eine noch größere Rolle als anderswo. Man mag darin eine unerwünschte Politisierung der Verwaltung sehen, der Schweizer ist sie gewohnt: So wie ein Magistrat in Genf nur französisch und reformiert, in Luzern nur deutsch und katholisch sein kann, so ist traditionsgemäß ein Ressort konservativ, das andere freisinnig, das dritte seit neuestem sozialdemokratisch.

Dieser dreifache Proporz nach Konfessionen, Nationen und Parteien spiegelt sich in der Regierung wider. Der siebenglied-rige Bundesrat ist ein Kunstwerk an politischer Ausgieidisarbeit. Das Bundespräsidium wediselt von Jahr zu Jahr, die Regierung vollzieht sich nach dem Koliegiat-systtm. Gesamtdem'ssion der Regierung gibt es nicht. Scheidet ein Mitglied aus, so gibt es lange Mühe, bis das alte Kräfteverhältnis wieder gefunden ist, sofern es nicht gelingt, einen neuen Mann zu finden, der derselben Sprache, derselben Partei und demselben Glauben angehört wie sein Vorgänger.

Ein Land in der Lage der Schweiz mußte ein besonders feines Gefühl für Außenpolitik entwickeln, um sich im europäischen Kräftespiel erhalten ^u können. Tatsächlich ist das Interesse, aber auch die Kenntnis außenpolitischer Probleme im Schweizer Volk sehr weit verbreitet. Und trotedem betrachtet es der Sdiweizer als weltgeschichtliches Glück, daß das eidgenössische Heer im Jahre 1515 die Niederlage bei Marignano erlitt. Um 1500 hatte es ausgesehen, als wollten die Sdiweizer nicht nur mit ihren Söldnern, sondern auch als politische Mitspieler in die Händel ganz Europas eingreifen. Kaum hatten sie, allerdings vergeblich, Bregenz und Feldkirch belagert, fochten sie gegen Burgund und in Oberitalien, eroberten Städte im Elsaß und in Schwaben — fast sollte vom Gotthard aus Europa gewonnen werden. In diesem Augenblick zwang Marignano die Schweizer zum Rückzug auf ihr Gebiet, zu ihrem eigenen Glück. Die Eidgenossensdiaft durfte nicht mehr habsburgische oder bourbonisdie Politik machen, nur mehr ihre eigene. Sie wurde neutral, schon vor 400 Jahren. Der letzte Erfolg von Marignano war ihre Haltung in den beiden Weltkriegen des 20. Jahrhunderts. Der Schweizer will das Seine erhalten, will nicht mehr seine Grenzen überschreiten.

Das Verhältnis des Schweizers zu seinem österreichisdien Nachbar ist schon seit dem ersten Weltkrieg das des Wohlhabenden zu dem karger mit Gut Gesegneten. Diese Beziehung ist sicherlich nicht ohne Schattenseiten. Dod) sei hier nicht von Dingen gesprochen, die sich schließlich nur am Rande ereignen. Sein gesunder Sinn für Außenpolitik sagt dem Schweizer, daß das österreichische Nachbarland in den drei letzten Jahrzehnten alle politischen Krankheiten erleiden mußte, von denen der Schweizer verschont blieb; nicht nur das, der Österreicher hat mit seinen schmerzlichen Erfahrungen den Schweizer vor manchem Gift immunis.'ert. Die Wiederaufrichtung Österreichs, seiner politischen Moral und seiner Wirtschaft gilt heute allgemein als Sicherung der Ostflanke der Schweiz.

Das große Interesse an Österreich spiegelt sich vor allem in der Schweizer Presse wider. Die Blätter der Schweizer Großstädte sind gut betreut. Nidit so ist es bei der ins Volk dringenden kleinstädtischen und kantonalen Presse bestellt, die oft im guten Glauben das verschluckt, was ihr an österreichischen Berichten vorgesetzt wird, nicht immer im Interesse einer guten Information und nicht im Interesse unseres Landes. Hier würde man oft größere Aufmerksamkeit der zuständigen österreichischen Auslandsvertretung wünschen. Bei der ehrlichen Gutgesinnung, welche die Schweizer Presse durchwegs den Nachrichten über Österreich entgegenbringt, fällt es nicht schwer, Österreich schädigende Agenturmeldungen durch eine gewissenhafte Berichterstattung aus dem Sattel zu heben.

Die Schweiz hat während des Krieges als Insel im Meere des Hitlerismus auch zu einer Zeit standgehalten, da alle ihre vier Grenzen von einer einzigen Streitmacht eingeschlossen waren. Sie grenzt heute an vier vom Kriege schwer angeschlagene Länder. Darum begleitet das Schweizer Volk den Wiederaufstieg Frankreichs, die außenpolitische Befestigung Italiens, die Entwicklung in der französischen Zone Süddeutschlands und nicht zuletzt die Ereignisse in Österreich mit der Sympathie des guten Nadi-barn, aber auch mit der Erkenntnis des klugen Rechners, der nur dann ruhig schlafen kann, wenn es auch um des Nachbarn Haus wohlbestellt ist.

Einige der erfolgreichsten Kapitalisten unserer Zeit haben das Vermögen der Menschheit nicht um einen Pfennig vermehrt. Vermehrt der glückliche Kartenspieler etwa den Weltreichtum?

Man kann den Menschen nicht Patriotismus einzutrichtern suchen, nur damit sie stillhalten, während sie ausgeraubt werden...

Wir dürfen nicht vergessen, daß der Zweck des Geldes nicht Müßiggang ist, sondern eine Vermehrung der Gelegenheit zur Dienstleistung. Henry Ford

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