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Klischee der Gefühle

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WIE EIN EPILEPTIKER windet sich der Rock’n’Roll-Sänger vor dem Mikrophon. Ein Bürschchen, das viel eher noch auf die Schulbank gehört als vor die Öffentlichkeit.

Der „große' Schlagerstar“ stottert sein Pensum ab und verschwindet, von mehr oder weniger heftigem Applaus begleitet, von der Bühne.

Der nächste, die nächste, der nächste

Und zum Schluß der Veranstaltung die Sensation, die „Weltnummer“, die Krönung am Schlagerhimmel.

. Die „Fans“, toben vor Begeisterung. Die Burschen und Mädchen; die Frauen und Männer sind voll Erwartung. Sie haben ihr keineswegs leicht verdientes Geld für den Sitz ausgegeben. Das macht ihnen aber nichts, Hauptsache, sie hören, wie ihr Idol auf der Buhne jene Schlager singt, die man vom Radio täglich zum Überfluß präsentiert bekommt. Sie sehen aber nicht, daß das freundliche Lächeln, der an alle geschickte Kuß, zum Geschäft des Idols gehört wie das Türeöffnen zum Hotelportier. Jeder einzelne glaubt, es gehe ganz besonders ihn an, und wiegt sich im siebenten Himmel. Nächsten Tag läuft er schnurstracks ins nächste Schallplattengeschäft und kauft mit verzückter Miene die Stimmkonserve seines Idols. Was ja schließlich auch der Zweck des Ganzen ist.

DAS SCHALLPLATTENGESCHÄFT ist in den letzten Jahren zu einer eigenen Macht in der Weltwirtschaft angewachsen. Um nur ein paar Zahlen aus dem deutschsprachigen Raum zu nennen: 1953 waren es pro Jahr 17 Millionen Platten, die die Pressen verließen, 1955 bereits 31 Millionen und drei Jahre darauf schon 58 Millionen. Mit dieser Zahl war eine gewisse Sättigung des Marktes erreicht, wie die Statistiken zeigen, und 1959 giflg die Gesartitproduktion Uni sieben Prozent auf 5 3,3 Millionen zurück. Iri diese Zahl muß man jedoch auch die Platten klassischer Musik einkalkulieren, deren Produktion anstieg, so daß der Schlagerabsatz am Markt praktisch um zehn Prozent fiel. Und ist weiter im Fallen, was nicht weiter verwunderlich scheint, wenn man die Texte dieser Musikerzeugnisse unter die Lupe nimmt. Der eigentliche Grund aber ist die finanzielle Belastung, die dem Konsumenten von heute auferlegt ist, wenn er sich einen Wagen, einen Fernsehapparat, ein Moped oder sonst etwas auf Raten kauft, ohne das man heute in gewissen Kreisen nicht mehr für „Lebensstandard habend“ angesehen wird. Weiter kommt dem Plattengeschäft das Fernsehen in die Quere, über das die Produzenten fast mit gleichen Worten stöhnen wie die Kinobesitzer. Noch einen Grund kann man anführen: die Überschwemmung des Marktes mit Titeln. Jährlich kommen, rund gerechnet, nach Fließbandmethode 5000 Neuerscheinungen heraus. Welcher Plattenkonsument kann da schon mithalten?

Bei manchen Schallplattenproduktionen hat sich die Methode des Überschwemmens des Marktes mit allem, was nur irgendwie zu pressen ist, fest eingebürgert. Sie arbeiten nach, dem Grundsatz: Je mehr wir herausbringen, desto größer ist die Chance, daß ein Schlager ein Hit wird. Tatsächlich? Da sollten doch die so Geschäftstüchtigen einmal die Plattenverkäufer fragen, die verkauf stech- nisch gar nicht so ein Riesenkontingent erfassen können!

STARS UND IDOLE WERDEN GEMACHT, sie erringen sich in den seltensten Fällen durch eigene Initiative und fundiertes Können den Weg nach oben. Heute. Früher sah die Lage noch etwas anders aus. Ein Schlagersänger hatte meistens Fo'rmat und konnte singen. Bis zu jenem Zeitpunkt, da die Konjunktur mit fester Hand nach dieser Branche griff. Geschäft ist Geschäft lautete der Slogan,' und diese Möglichkeit wurdi weidlich ausgenützt. Man schickte hunderte männlicher und weiblicher „Stars“ an die Front, um die Gunst des Publikums, vor allem der breiten Masse, zu erringen. Der Großteil blieb im Schatten, diejenigen, die es schafften, waren gemachte Leute. Ihre Namen strahlten und strahlen von Plakatwänden, man findet sie in Zeitungen und hört sie in vieler Munde. Sie sind jedoch genau so schnell vergessen, wie sie populär wurden.

Star zu sein, und nicht Starlet, verpflichtet zu Können. Das beweisen die Großen des amerikanischen Musikgeschäftes. Frank Sinatra, Bing Crosby, Perry Como, Harry Belafonte, Doris Day, Peggy Lee — und wie sie alle heißen. Auch bei uns gibt es viele, die sich „halten“, wie man sagt.

Die Eintagsfliegen unter den Schlagersängern sind sehr häufig. Sie werden von den Produzenten als ganz große Nummer : kerausgestellt, entsprechend reklametechnisch präpariert, mit einem Nimbus umgeben und der ständig lauernden Masse zum Fraß vorgeworfen. Meistens ist es Lieschen Müller, die sich des Neuen annimmt — wie im Fall Freddy Quinn. „Heimweh“ war sein erster Titel, den er aufnahm. Ganze 200 Mark zahlte ihm die Schallplattenfirma dafür, und Freddy war zufrieden. Ein Disc-Jockey in Deutschland namens Werner Götze, der für den Schlager mit Niveau eintritt und ziemlich offenherzig seine Urteile über Schnulzen und ihre Kumpane abgibt, stöhnte, als er „Heimweh“ zum erstenmal hörte, „schlimmer geht’s nimmer" und zerbrach in seiner Sendung die Platte. Diese Meisterschnulze wurde jedoch einer der größten Erfolge in der deutschen Schallplattengeschichte, sie erreichte Millionenauflagen.

Diese gigantischen Auflagen sind es, von denen jeder Schallpla?tenprodu- zent träumt. Sie bedeuten bares Geld. Von hundert Plattenkäufern sind mehr als sechzig Jugendliche. Burschen und Mädchen, denen der weinerliche Gesang oder die heiseren Schreie ihres Idols lieber sind als ein Buch oder ein neues Kleidungsstück, das sie bei weitem notwendiger brauchen würden. Es hat jedoch den Anschein, die Jugendlichen sind zufrieden mit dem, was ihnen auf den runden Scheiben geboten wird. Etwas von Heldentum, etwas von Liebe, etwas von südlicher Sonne, ja sogar etwas vom alten Förster, der geistesabwesend seinen ebensoalten Dackel streichelt, und an vergangene Tage usw. denkt.

Für diese konservierten drei Minuten Gefühl muß bezahlt werden. Teures Geld!

VON AMERIKA HERÜBER kam vor wenigen Jahren eine neue Mode in der Schlagerbranche: der Rock'n’Roll. Bill Haley, mit brillantinetriefender Schmachtlocke, kreierte „Rock around the clock“, einen Schlager, der gegenüber den anderen noch einigermaßen anzuhören ist. Diese „Hymne des Rock’n’Roll“ erschien in mehr als hundert Versionen in 21 Sprachen auf rund acht Millionen Schallplatten. Die Fortsetzung konnte nicht auf sich warten lassen. Elvis Presley, ein flotter Junge, hängte sich eine Gitarre um und begann zu gliederverrenkenden Bewegungen zu wimmern — siehe da, ein Erfolg. Die Platten gingen zu Millionen weg wie warme Semmeln. Natürlich konnte dieses Fieber nicht vom mitteleuropäischen Raum ferngehalten werden, es kam zu uns. Ein tüchtiger Konzertmanager hatte eine Idee und ließ seinen Sohn in dieser Masche auf das Publikum los. Peter Kraus wurde zum Schluckauf-Akrobaten Nummer 1 im deutschsprachigen Raum. Halbwüchsige Mädchen verehrten, vergötterten und liebten Peter. Skandale, wo er auftauchte, wilde Szenen, wo er auftrat, es war eine Massenpsychose. Doch auch diese Welle mußte einmal enden. Und so schlug die Stunde für Peter Kraus. Zwar versuchte er, sich mit aller Energie auf seriös umzustellen, sang melodiöse Lieder, brachte Evergreens heraus — umsonst. Peter Kraus ist passe.

Conny F r o b o e s s, als singendes Kind einst noch sehr herzig, ist das Gegenstück zu Peter Kraus. Sie sang die deutschen Fassungen der von Paul Anka fabrizierten und vorgetragenen Schlager der Teenagermusik. Heute ist sie ebenso passe.

An Möchte-gern-Stars gibt es heute ein Überangebot. Sie werden künstlich gezüchtet, damit vielleicht eine oder einer von ihnen eine große Nummer wird. Es gibt eine deutsche Schallplattenfirma, die sich die „Nachwuchsförderung“ ganz besoiidäfs žàt Aufgabe getnächt hatte. Überall, wo nur möglich, wurden Nachwuchsklubs gegründet und einmal im Jahr ein Nachwuchsschlagersängerfestival ganz groß aufgezogen, zu dem die besten aller Klubs kamen, sangen, bewertet und schließlich mit einem Aufnahmevertrag und einem Filmangebot aufs Eis gelegt wurden. War Not am Mann — oder Not an Stimme — so stellte man diese Burschen und Mädchen, alle noch Teenager, vor das Mikrophon und die Filmkamera, und der Star im Fingerhutformat war fertig. Mit Allüren allerdings, die oft nicht einmal die ganz Großen haben.

EIN SCHLAGER MUSS „GEMACHT" WERDEN, damit er sich auch verkaufen läßt. Da ja die Film- und Schlagerbranche ganz besondere Ausdrücke zu haben pflegt, sei eine kleine Verdeutschung gegeben: „machen“ heißt, einen Schlager — auch wenn er noch so mies ist — zu einem Verkaufserfolg zu machen. Propaganda an allen Fronten also, vor allem im Rundfunk. Da gibt es eine besondere Art von Leuten, deren Lebensaufgabe es ist, sich als Plattenreiter, als „Discjockeys“, zu betätigen. An sie treten nun die Plattenfirmen heran und er-, suchen, gerade diesen Schlager doch öfter zu spielen. Er sei so gut und der Sänger ein großer Könner. Viele bleiben hart, . einige werden weich und lassen sich halt überreden. Man will hier jetzt nicht von Bestechung sprechen, aber wo. Bestochen wird ja nicht. Man ladet eben nur den bewußten Herrn öfter zum Abendessen ein, besucht anschließend ein Nachtlokal und weiß zu großen Anlässen die Bemühungen um das Wohl etlicher Schlager, die halt so gut sind, entsprechend zu würdigen.

Eine andere Möglichkeit ist, einen Schlagertitel mit einem Filmtitel zu verbinden. Oder man läßt für einen schon bekannten Plattenstar, wie beispielsweise Freddy Quinn, einen neuen Schlager schreiben, der dann dank des Namens des Interpreten sich verkaufen läßt. Zu guter Letzt drängt sich bescheiden noch eine Möglichkeit auf: daß nämlich ein Schlager wirklich ein Schlager ist, der ohne viel Propaganda sofort ins Ohr geht. Edith P i a f mit ihrem „Mylord" wäre ein Beispiel dafür. Oder Catherine S a u v a g e mit ihrem „Paris Canaille“. Oder Frankie-Boy, wie Sinatra in den Staaten genannt wird, der schon so viele wirkliche Schlager kreiert hat, daß man sie gar nicht aufzählen kann. Eddie Constantine, der charmante Draufgänger, mit seinem mehr gesprochenen als gesungenen „Schenk deiner Frau doch hin und wieder rote Rosen" oder „Jeder macht mal eine Pause“. Auch die großen italienischen Erfolge der letzten Jahre kann man noch als echte Schlager bezeichnen.

SCHLAGERSINGEN IST HEUTE EIN DANKBARES GESCHÄFT. In den meisten Fällen braucht man ja wirklich nicht mehr zu können, als schmachtend in das Mikrophon hineinzuhauchen oder einen banalen Text zu stottern. Dieses Nebengeschäft haben sich auch Filmstars zugelegt, und nun singen, summen und seufzen sie, die Größen aer Leinwand. Automatisch natürlich ist sofort die große Anhängerschar des Stars bereit, sich den Genuß der Stimme nicht entgehen zu lassen und kauft Platten. Filmproduzent und Plattenproduzent reiben sich erfreut die Hände: Lieschen Müller drangekriegt, doppeltes Geschäft gemacht.

Es ist absolut kein Geheimnis, auf welch niederem Niveau die Vielzahl der Schlager und ihre Interpreten stehen. Das wissen die Produzenten sehr genau, doch wo es ums Geld geht, verschwinden halt viele Hemmungen. Der Disc-Jockey des Norddeutschen Rundfunks, Henri Regnier, placierte einen treffenden Tiefschlag gegen eine Menge „Plattenstars“. Er sagte: „Es fällt auf, daß an der Produktion dieser idiotischen Stücke während der letzten Wochen vor allem männliche Gesangskünstler beteiligt waren. Wir hätten jetzt also eine Kollektion singender Menschenaffen, womit die unterste Grenze unseres Maßstabes erreicht wäre."

Traurig, aber wahr!

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