6644138-1958_13_12.jpg
Digital In Arbeit

Konterrevolution oder Revolution?

19451960198020002020

Von Lenin bis ... Die Geschichte einer Konterrevolution. Von Georg Scheuer. Verlag der Wiener Volksbuchhandlung, Wien. 375 Seiten. Preis 120 S

19451960198020002020

Von Lenin bis ... Die Geschichte einer Konterrevolution. Von Georg Scheuer. Verlag der Wiener Volksbuchhandlung, Wien. 375 Seiten. Preis 120 S

Werbung
Werbung
Werbung

Der Verfasser, demokratischer Sozialist westlichen Stils, sucht in diesem Buch vornehmlich vier Thesen nachzuweisen: Erstens, die „Große Sozialistische Oktoberrevolution“ war weder groß noch sozialistisch noch eine echte Revolution, sondern ein Militärputsch, der statt des Volkes eine neue Ausbeuterschicht ans Ruder brachte; zweitens, der angebliche Gegensatz zwischen Lenin und Stalin ist in Wahrheit gar nicht vorhanden, des einen Werk ist vom andern mit logischer Folgerichtigkeit fortgeführt worden; drittens, zwischen dem Sowjetstaat und dem Zarismus besteht eine wesenhafte Aehn-lichkeit, während der Bolschewismus die theoretische und praktische Leugnung des zutiefst demokratischen Sozialismus bedeutet; viertens, das russische Volk hat von sich aus, spontan und nur durch den Gang geschichtlicher Ereignisse gedrängt, echte Erhebungen vollzogen, die aber durch die Bolschewiken teils verzögert oder sabotiert, teils um die Früchte des über die traditionellen Gewalten errungenen Sieges gebracht wurden. Dieser Exegese des abgelaufenen Halbjahrhunderts seit dem ersten großen Aufstand der russischen Massen im Jahre 1905 reiht sich eine Weissagung für die Zukunft an. Auf die russische Konterrevolution Lenins, Stalins und ihrer Epigonen werde die unverfälschte Revolution folgen, die den geknechteten Untertanen des Kremls und seiner Satelliten endlich die Freiheit bescheren muß. *

Soweit es sich in diesem Werk um politische Publizistik handelt, läßt sich über alle vom Autor mit viel Geschicklichkeit verfochtenen Ansichten mit ihm reden; vielem vermag man beizupflichten. Es stimmt zweifellos, daß die Herrschaft in der UdSSR und in den Volksdemokratien von einer Oligarchie ausgeübt wird und nicht durch die Massen, denen man einzureden trachtet, sie seien die Herren im Lande. Doch derlei Widerspruch zwischen Schein und Sein ist der Politik eigentümlich, in der ja vieles auf Fiktionen beruht. Es stimmt, daß Stalin zu Lenin einzig aus zeitgebundenen Motiven in Gegensatz gestellt wurde; der Unterschied zwischen beiden lag vor allem in der Abstufung vom dämonischen Genie des ersten zur staatsmännischen und organisatorischen Begabung des zweiten. Es stimmt, daß Zarismus und Bolschewismus einander gleichen wie ein faules Basiliskenei dem andern. Vorbehalt weckt dagegen die vierte These: denn die elementaren Ausbrüche anarchischen Zerstörungstriebes, animalischen Hasses gegen peinigende Wärter und primitiver Habgier Besitzloser gegen die Hablichen, Kulturloser, Kulturfeindlicher gegen oberflächlich oder gründlich Zivilisierte, waren nicht das reine, hehre Freiheitsstreben, als das es bei Scheuer in rousseauscher Verniedlichung auftritt, sondern ein durch die Schuld der Herrschenden miterklärtes und mitentschuldbares, an sich sinnloses Wüten entfesselter Naturkräfte, das in den Rahmen einer, wenn auch harten, grausamen Ordnung gezwängt zu haben, den Bolschewiken eher als positive Leistung anzurechnen ist. Was vollends die Prophetie von der wahren russischen Revolution anbelangt, die „noch nicht zu Ende“ ist, so dürfte diese Vorhersage insoferne zutreff-n, als Geschichte stets ein Werden bezeichnet. Ob aber die kommenden, die darum noch bei weitem nicht die letzten Dinge sein müssen, schlimmer sein werden als die entsetzlichen ersten, das heißt es abwarten.

Uns dünkt, daß der Autor, dessen mangelnde Vertrautheit mit russischen Voraussetzungen — anfangend mit seiner gründlichen Unkenntnis der russischen Sprache und Literatur — dem Kundigen sofort offenbar wird, daß seine von außen her, deduktiv vorgenommene Wertung zunächst auf dem kapitalen Irrtum beruht, bei der Sowjetunion allgemeingültige, das heißt westliche Maßstäbe blind anzuwenden. Parallelen zur französischen Geschichte sind bei der russischen nur sehr behutsam und umgrenzt erlaubt. Es sollte ferner in einem, wenigstens dem Vorsatz gemäß historischen Werk den Leistungen des Sowjetstaates nicht jede gerechte Würdigung verweigert werden. Er hat, ungeheure Schwierigkeiten überwindend, eine Weltmacht geschaffen, einen furchtbaren Krieg gewonnen, Industrie und Landwirtschaft vorgetrieben, die Volksbildung verbessert und verbreitet, ein neues Staatsgefühl gezeugt, Technik und Naturwissenschaften gefördert, das Lebensniveau vieler Millionen in äußerster Not vegetierender Menschen erhöht. Das alles hat eT zumeist infolge einer Gesellschaftsordnung und mit Methoden durchgeführt, die anderwärts aufs drückendste empfunden worden wären oder — in westlich geprägten Volksdemokratien — empfunden werden. Scheuer spricht indessen gar nicht oder nur ganz nebenher von den Sünden des Bolschewismus, die, nicht nur von einem abendländischen Beurteiler, sondern auch von Rußland her gesehen, unverzeihlich sind und die einen Preis für das vom Sowjetsystem Vollbrachte darstellen, den freiwillig zu bezahlen die große Mehrheit der Denkfähigen des einstigen Zarenreiches nie gewillt gewesen wäre. Das sind: die Zerstörung der Religion, die Vergottung des materiellen Fortschritts, die Knechtung der Wissenschaft, der Literatur und der Künste, die Erniedrigung der Bildungsschicht vor der drohenden Faust des Analphabeten oder, noch ärger, vor der anmaßenden Tyrannei des Autodidakten, des Hundertstelgebildeten, endlich die unwiederbringliche Vernichtung des Rechtssinns durch den von Staats wegen geschehenden Diebstahl wohlerworbenen Eigentums, durch die Ausrottungspolitik gegen „Klassenfremde“. Jede Kollektivhaftung, jede Bestrafung Schuldloser für ihre Zugehörigkeit zu einer wirklichen oder ersonnenen, konstruierten Gemeinschaft verurteilt von vornherein das Regime, das dergleichen predigt und in die Tat r.msetzt.

Der Verfasser schwärmt für unblutige Revolutionen.- Das erinnert an die Anekdote von der Kaiserinmutter Sophie und Radetzky, der, von der hohen Frau gebeten, ihr die Unverletztheit ihres an die Front gehenden Sohnes, des späteren Kaisers Franz Joseph I., zu verbürgen, antwortete: „Ja, wenn der Feind mit Zwetschkenknödel schießet.“ Das Wesen einer Revolution, wie das des Krieges, ist Gewalt, Bruch des bisherigen Rechts, der bisherigen Ordnung — zum Unterschied von der Evolution, bei der mindestens der Schein freiwilliger Fortentwicklung bewahrt wird. Die russischen Revolutionen von 1905 und 1917 konnten nicht bei Streiks und Deklamationen stehenbleiben; sie hatten zu kämpfen und entweder zu erliegen (1905) oder zu siegen (1917). Dann aber mußte der Erfolg den Radikalsten und dazu den Bestorganisierten, zur Führung Tüchtigsten gehören. Und das waren eben die Bolschewiken, mit Lenin und Trotzkij an der Spitze, nicht aber die bürgerlichen Kadetten, die Sozialisten und die Sozialrevolutionäre. Wenn 1921 die Kronstädter Revolte scheiterte, für die Scheuer soviel Sympathie an den Tag legt, so deshalb, weil die stärkeren Bataillone und die stärkeren Intelligenzen auf Seiten der Bolschewiken waren Wenn ebendiese Bolschewiken bis heute obenauf sind, so deshalb, weil keine Kräfte sich zu regen vermögen, die ihnen, dem System, die Macht entreißen können. Was nicht hindert, daß die „Wölfe“ einander zerfleischen, wie das eben der fortdauernden permanenten Revolution entspricht. Zuletzt noch dies: die kommunistische Bürokratie der Sowjetunion ist gewiß eine chronische Landplage, die von jedermann, sogar von- den Bürokraten selbst (sobald sie als Klienten und nicht als Amtspersonen auftreten), verabscheut wird. Allein diese Eigenschaft teilt sie mit allen Bürokratien, die nfir je nach dem Klima ihrer Wirkensstätte milder oder böser sind. Und die zaristische Bürokratie war nicht besser; eine bürgerlich-republikanische oder eine sozialistische westlicher Tünche würde nicht weniger lästig und verhaßt sein. Senatores boni viri, senatus mala bestia. Der einzelne Tschinownik mag eine Seele von einem Menschen sein. Sowie er das Amtskappel aufsetzt und dem unbeamteten Sterblichen gegenübersitzt, von ihm durch Macht und Kraft und Herrlichkeit getrennt, verwandelt er sich in ein drohendes Schreckgespenst. Doch nur süße Träumer faseln von einer besten aller Welten, die ohne derlei unentbehrlichen Spuk auskäme. Und in Rußland, in dem so leicht die Anarchie auflodert, ist er nötiger denn irgendwo.

Nun gibt es aber gute und böse Geister. Die Bürokratie kann, ihren späteren Lästerern zum Trotz, ein Reich zusammenhalten und eine behagliche Ordnung schirmen, die erst aus der Rückschau, wenn sie zusammengebrochen ist, als segensreich, als verlorenes Glück begriffen wird. Das war im alten Oesterreich der Fall. Wenn die sowjetische Bürokratie auch von deren obersten Leitern getadelt wird, wenn die kommunistische Bürokratie der Volksdemokratien besonders der dortigen Bevölkerung ein Dorn im Auge ist, so nicht etwa — wie Scheuer andeutet —, weil sie zu den Ausbeutern des Sieges der Arbeiter und Bauern gehört, sondern vor allem da sie, in lähmender Angst vor „denen da droben“, des Morgen stets ungewiß, die Leute mehr schikaniert als sonst der Brauch ist, weil sie kleinlich und verbittert ihr eigenes Ungemach, ihre eigene Wirtschaftsnot auf die Unbeamteten abreagiert. Die Bürokratie als „neue Klasse“, als. Bürgerkriegs-gewinnerin, ist eine Konstruktion, ein Mythos, wie die gesamte Lehre von den einheitlichen Klassen überhaupt. Doch geht hin und sagt das einem Marxisten, und wäre er demokratisch bis über die Ohren! Ach, ich fürchte, der Autor dieser Geschichte einer als Konterrevolution angeprangerten, sehr waschechten Revolution, der konsequentesten, weil zerstörendsten in der Weltgeschichte, wird auch damit nicht einverstanden sein, wenn ich als Ergebnis unvoreingenommener Betrachtung der letzten Dezennien russischer, sowjetischer Geschichte — dabei in Ueber-einstimmung mit einer pathetischer ausgedrückten Feststellung seines Buches — das Wort Nestroys zitiere: „Das Volk is ein Ries' in der Wiegen, der erwacht, aufsteht, herumtargelt, alles zusamm'tritt und am End' wo hinfallt, wo er noch viel schlechter liegt als in der Wiegen.“

Ehe wir von einem Buch Abschied nehmen, das als politische Streitschrift seine Aufgabe erfüllen mag, das aber nicht als Geschichtsschreibung gewertet sein soll, haben wir noch zu unterstreichen, daß Scheuer nur aus wenigen Darstellungen in deutscher und, seltener, in französischer Sprache schöpft; daß er auch dabei sehr lückenhaften Horizont bezeigt — so fehlen zum Beispiel bei der Literatur über Stalin die grundlegenden westlichen Arbeiten von DeutscherMeißner, Windecke, von Rauch,—, daß “ er englische, geschweige russische oder polnische Werke oder gar die Quellen erster Hand nicht kennt und bei der Schreibweise russischer Namen, Worte, groteske Verballhornungen vornimmt. Doch wir haben es ja mit keinem Werk der „exakten“ Wissenschaft zu tun, nicht einmal mit einem der unexakten.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung