Gerhard Roth: "Labyrinth" - Kontinente des Wahnsinns

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Gerhard Roths neue Reise durch Wirklichkeitskonstruktionen und psychische Abgründe.

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Gerhard Roths neue Reise durch Wirklichkeitskonstruktionen und psychische Abgründe.

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Gerhard Roths neuer, wie immer umfangreicher Roman beschäftigt sich nicht primär mit der österreichischen Gegenwart. Das können Kritiker mitunter schwer ertragen - ein Autor wie Gerhard Roth hat einfach immer ein Empörer gegen die heimische Politunkultur zu sein. Also fanden sich bislang in allen Berichten über das Buch (und vor dessen Erscheinen) jene auf 450 Seiten auffindbaren zwei Sätze, die diesbezüglich etwas hergeben. Sie werden auch in den kommenden Besprechungen zu lesen sein und sollen hier nicht wiederholt werden - dem Buch und dem Autor wird diese blätternde Suche nach griffigen Aufregern sicher nicht gerecht.

Nicht ganz leicht

Allerdings macht es Gerhard Roth dem Leser auch nicht ganz leicht, am Buch dranzubleiben. Es zerfällt in viele disparate Elemente, die mitunter etwas neben der Handlung stehen, obwohl sie der Autor mit vielen Verbindungsseilen festzurrt.

Der Auftakt ist durchaus fulminant: Der Brand des großen Redoutensaals der Wiener Hofburg 1992, bei dem drei der fünf Hauptakteure des Romans aus unterschiedlichen Gründen zu Augenzeugen werden. Der Psychiater Heinrich Pollanzy, sein ehemaliger Patient und jetziger Pflegegehilfe im "Haus der Künstler" in Gugging, Philipp Stourzh, und der namenlos bleibende Schriftsteller, der zufällig dieselben Werke geschrieben hat wie sein Berufskollege Gerhard Roth und der aktuell eine Monografie über Franz Lindner schreiben soll.

Lindner ist die eigentliche Zentralfigur des neuen Romans und es ist tatsächlich jener Franz Lindner, der sich aus Roths monumentalem Roman "Der landläufige Tod" (1984) ins Gedächtnis eingeschrieben hat. Auch der Anwalt Jenner spielt wieder mit, und das lässt einige Verunsicherung darüber aufkommen, in welchem Roman-Zyklus man sich hier befindet.

"Das Labyrinth" scheint der ersten Werkgruppe "Die Archive des Schweigens" fast näher zu stehen als dem neuen Zyklus "Orkus - im Schattenreich der Zeichen". Wie in den bisher erschienenen Büchern dieses Projektes - "Der See" (1995), "Der Plan" (1998), "Der Berg" (2000), "Der Strom" (2002) - ist das Reiseaufkommen mit Blick auf den Bezugstext der Odyssee auch diesmal wieder hoch, alle fünf Hauptakteure werden auf Irrfahren in den iberischen Raum geschickt. Das Prinzip, alle Romantitel des Zyklus aus einsilbigen Nomen mit bestimmtem Artikel zu bilden - dahinter lugt naturgemäß der Bernhardsche Marketinggag analog gebildeter Untertitel mit unbestimmtem Artikel hervor -, ist mit "Das Labyrinth" allerdings durchbrochen.

Die sechs "Bücher" dieses Romans werden von wechselnden Figuren erzählt, wobei ein jeweils angehängter Epilog die Identität des Schreibers oft rasch wieder in Frage stellt. Das mag etwas absichtsvoll wirken, erzeugt aber doch einige Irritation, auch kriminalistische Spannung und lässt eine Art erzählerisches Labyrinth entstehen. Das Spiel mit Identitäten signalisiert, dass es dem Autor um das Aufspüren und Ausloten der "Kontinente des Wahnsinns" geht, an denen die Figuren unterschiedlichen Anteil haben.

Spiel mit Identitäten

Pollanzy steht scheinbar auf der anderen Seite, er behandelt Lindner seit vielen Jahren und beschäftigt sich zunehmend mit Stourzh, denn er weiß um dessen pyromanische Phantasien und verdächtigt ihn der Brandstiftung in der Hofburg. Seine Einäugigkeit weist Pollanzy die mythologische Rolle des Bewachers zu, der Lindner wie Stourzh zu entkommen trachten. Stourzh, der seit einem Jagdunfall in der Kindheit mit einer Kugel im Kopf lebt - auch das ein deutlicher mythologischer Bezug -, fühlt sich von Pollanzy verfolgt und schließt sich immer enger an Lindner an, für den sich auch der Schriftsteller interessiert. Stumm und verbissen wie Arachne malt Lindner an seinen Bildern von Mördern - die stets aussehen wie Jenner - und immer häufiger zeigen sie auch Feuersbrünste.

Das Karussell der Handlung treibt die promiskuitive Logopädin Astrid Horak an, die mit allen vier Männern Parallelbeziehungen unterhält - auch mit ihrem Patienten Lindner - und dadurch so einiges auslöst und auch erfährt. Zum Beispiel, dass Franz Lindner nicht stumm ist, sondern einfach verstummte, als er erfuhr, dass sein Vater KZ-Wärter war. Das erzählt ihr Lindner in einer Liebesnacht am Psychiatrie-Kongress in Toledo, und so holt Gerhard Roth das Thema Vergangenheitsbewältigung herein. Auf diesem Kongress passieren noch andere Dinge: Stourzh versucht, Pollanzy zu ermorden, und Lindner läuft weg, während sich der Schriftsteller in Wien einer genau geschilderten "endoskopischen Untersuchung (Koloskopie)" unterziehen muss.

Legendäres Recherchieren

Amalgamiert wird dieses Gerüst mit der enormen Gelehrsamkeit des Autors. Gerhard Roths Gewissenhaftigkeit beim Recherchieren von Fakten und Daten ist legendär. Als Link für lange Einschübe kann hier fast alles fungieren, etwa dass sich der Anstaltspfleger Stourzh für Franz Kafka oder Arcimboldos "Feuer" interessiert. Nacheinander lässt ihn Roth an Magisterarbeiten über Velázquez und den Tod des letzten Kaisers Karl von Habsburg schreiben. Zu diesem Thema hat Stourzh auch einen persönlichen Bezug: Seine Urgroßmutter war Kindermädchen im Kaiserhaus und begleitete die Kaiserfamilie ins Exil nach Madeira. Und so ordnen sich die umfangreichen Berichte vom Besuch in Pöcking bei Otto von Habsburg - inklusive wörtlich transkribiertem Interview - und von der Reise nach Madeira auf den Spuren der Kaiserfamilie und der Legende von Karls Tod in großer Armut mühelos in den Roman ein. (Ob der angehende Historiker deshalb einen so auffälligen Namen trägt, um an einen anderen, real existierenden Historiker zu erinnern, sei hier nicht erörtert.)

In Madeira phantasiert sich Stourzh Astrid Horak herbei und legt ihr den Auftrag in den Mund, ihren Liebhaber, den Psychiater Pollanzy, zu ermorden, was diese späterhin vehement bestreitet. Pollanzy arbeitet in Gugging, wohnt in der Hofburg, macht sich über vieles Gedanken und ist mit dem Restaurator des Kunsthistorischen Museums Wolfgang Unger befreundet. Das liefert Material für Abhandlungen über die Wiener Hofburg, die Schätze des Völkerkundemuseums oder Parmigianinos "Selbstbildnis im Konvexspiegel".

Der Schriftsteller wiederum liebt Cervantes und Fernando Pessoa, die er für seine "Hypothese der Sehnsucht nach dem Wahnsinn" als exemplarisch sieht, und bereist auf deren Spuren die iberische Halbinsel. In Lissabon begleiten wir ihn auf seinen ausführlichen Stadtbesichtigungen, erfahren eine Fülle interessanter Details über das Leben und die Identitäten Pessoas, das Erdbeben von 1755 und den großen Brand von 1988; in Madrid besucht der Schriftsteller - mittlerweile mit der rührigen Logopädin Astrid liiert - den Prado und eine Corrida. In diesem Labyrinth des Wissens ist - auch ergänzt mit Fußnoten und Abbildungen - zweifellos viel zu erfahren über Kunstwerke und Künstler, über den Stierkampf und Ludwig von Bayern, über Bewässerungssysteme, den Fischgang oder die missglückten Restaurationsversuche Kaiser Karls.

Grenzerfahrungen

Viele der herbeizitierten Referenzkunstwerke und Fallbeispiele haben mit Grenzerfahrungen und Wahnsinn zu tun, mit Identitätsverlusten, fragwürdigen Wirklichkeitskonstruktionen und psychischen Abgründen, und es gelingt Gerhard Roth über weite Strecken, sie zu einem kompakten Paket mit der Handlung zu verschnüren. Vielleicht sollte man trotzdem manche der eingebauten Informationsbündel einfach als Angebot sehen, das im Lesefluss folgenlos überblättert werden darf.

Verstörend ist für Gerhard Roth-Leser der ersten Stunde der versöhnliche Tod Franz Lindners. Der Autor lässt zu, dass Lindner nach seiner Flucht vom Kongress in Toledo noch ein halbes Jahr glücklich und zufrieden bei einem Bauern und Bienenzüchter in der Mancha lebt und arbeitet, um dann eines natürlichen Todes zu sterben. Wer sich an die beeindruckenden Szenen aus dem Frühwerk erinnert, etwa an Lindners sprechende Hände, die ihm, dem Verstummten, fortwährend Geschichten von höchster Eindringlichkeit und Grausamkeit erzählen, für den wirkt dieses Ende leicht wie die ungerechte Verkleinerung einer groß angelegten Figur. Durchaus möglich, dass ein so demonstrativ versöhnliches Ende nur unversöhnlichen Lesern ein Problem bereitet.

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