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Kostbares Erbe

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Zur gewohnten Stunde war Leopold Kun-«chäk im Parlamentsgebäude erschienen, noch der Präsident des Nationalrates; nächster Tage würde er sein Amt dem Nachfolger übergeben. In dem Klüblokal der Volkspartei, in dem er seit Jahrzehnten gesessen, als einfacher christlichsoziäler Abgeordneter, bald Vorstandsmitglied und Führer, schließlich als zweithöchster Würdenträger im Staate, drückte er den Klubkollegen die Hand und dann im Präsidium des Hauses den Herren seines Beamtenstabes: »Jetzt heißt es Abschied nehmen...“ — Fühlte er schon das Irdische um sich versinken? Wenige Stunden später, kurz vor Mitternacht, war Leopold Kunschak in die Ewigkeit eingegangen. Als wollte er nicht mehr säumen, da sein Amt für Volk und Staat zu Ende, sein Lebensopfer für das heißgeliebte Land und seine Menschen dargebracht war, und als gäbe es fortan auf dieser Erde für ihn nichts mehr zu tun. Er kehrte heim zu seinem Herrn und Schöpfer, dem er, der vorbildliche katholische Christ, mit reiner Seele gedient hatte.

Sieht man auf das reiche Leben Leopold Kunschaks zurück, so wird man ,von Station zu Station seiner über zwei Menschenalter reichenden Wegstrecke deutlicher gewahr, wie vielfältig sich in dem Antlitz dieser Zeit sein Lebenswerk ausspricht. Wir, die wir seine Zeitgenossen waren und sein Beispiel sahen, haben nun zu beweisen, daß wir bestehen können aus der Treue zu seinem Andenken und seinem geistigen Erbe, wenn er auch das Zeitliche verlassen hat und wir seine unerbittliche Grundsatzstrenge, seine restlose Hingabe an die Leitideen einer christlichen Volksbewegung; in der Leibhaftigkeit seiner Führerpersönlichkeit nicht mehr unmittelbar vor uns haben.

Nichts leichter, als »preisend mit viel schönen Reden“ den Toten zu feiern, der im Leben ein schlichter Demokrat war, nie einen Orden getragen hat, der bis zum lerzten Atemzug im Grunde seiner Seele ein Schwarzgelber war und ein Volksmann, der ehelos

Ein Achtzehnjähriger, der jüngste Arbeiter in der Sattlerei der Staatsbahnwerkstätte des Wiener Westbahnhofes, steht Leopold Kunschak schon auf der Rednerbühne, sammelt Standesgenossen um sich, vermag drei Jahre später den ersten „Christlichsozialen Arbeiterverein für Niederösterreich“ — das Kronland Niederösterreich umschloß damals auch Wien — zu gründen. 1894 erscheint er schon vor uns aus ganz Oesterreich versammelten Teilnehmern des epochemachenden Ersten Sozialen Kurses als Sprecher, gibt der anhebenden Bewegung christlicher Arbeiter und Angestellter eine Zeitung; 1902 ist es dann so weit, daß der erste zentrale Zusammenschluß im Zeichen einer christlichen Arbeiterbewegung in Gestalt des »Reichsverbandes der nichtpolitischen Vereinigungen christlicher Arbeiter“ erfolgen kann. In der jungen, siegreich gegen die Herrschaftstellungen des Liberalismus vordringenden Christlichsozialen Partei ergänzt Kunschak aus den rieh samrrielhden Massen der christlichen Arbeiter und Angestellten den Aufbau der echten, alle Stände umfassenden Volkspartei, die bei zunehmendem Erfolg und wachsender Macht auch mit schwerbeweglichen bourgeoisen Elementen zu tun hat, aber trachtet, nie ihre Verantwortung und Pflicht, die ausgleichende, versöhnende, schöpferische Kraft zu sein, aus dem Auge zu verlieren. So erringt sie durch ihre Wesenheit als Volkspartei der Bürger, Bauern und Arbeiter binnen eines Jahrzehntes mit dem zuvorderst von ihr parlamentarisch erkämpften allgemeinen Wahlrecht sich die Stellung als größte Partei in dem gesetzgebenden Volkshaus des alten Staates. Mehr als einmal ist vor dem ersten Weltkrieg an diese oder jene Gruppe der Partei, zumal der Bauern und der Arbeiter, die Verlockung herangetreten, sich unter dem Bekenntnis zu einer radikalen ständischen Interessenvertretung aus dem Ganzen der Christlichsozialen Partei loszulösen. Immer war es Kunschak, der, Wegweiser und Führer, dem Sturz in den Klassenkampf die Harmonie der Ganzheit und blieb, weil seine ganze und seine einzige Liebe dem Volk gehörte; es war ihm seine Familie. Und wer das tiefste Wesen dieses Mannes ausschöpfen will, der wird beifügen, daß er ein christlicher Bekenner war, der in allen seinen Lebenslagen, im friedlichen Werke wie in schweren Kämpfen, in Sieg und Niederlage, in Elend und in Verfolgungen seine Kraft schöpfte aus einer herrlichen Gläubigkeit, die in ostentationsloser Natürlichkeit sein ganzes Wesen durchstrahlte. Nicht umsonst fehlte er durch sechs Jahrzehnte nur ein einziges Mal in den Scharen der jährlichen Wiener Männerfahrten nach Mariazell. Das alles soll gesagt werden. Doch Worte genügen nicht. Am Grabe Leopold Kunschaks sollte wie eine unauslöschliche Flamme der Entschluß emporsteigen, Ernst zu machen mit der Obsorge um sein geistige s E r b e.

ihrer sozialen Ordnung entgegenstellte. Ihm und seinen Getreuen aus der Arbeiter- und Angestelltenschaft war es denn auch zu danken, daß die durch persönlichen Zwist heraufbeschworene Niederlage die Christlichsoziale Partei in den Juniwahlen 1911 nicht zu ihrem Untergang führte und in dieser Bewahrung ihres Selbst sich aufs neue die Kraft einer echten Volkspartei erwies, über deren Bestand nicht eine augenblickliche Wahlkonstellation entscheiden kann.

Ohne Kunschak keine Christlichsoziale Partei in ihrem geschichtlichen Bilde, aber auch keine Oesterreichische Volkspartei, die — man mag es übersehen oder leugnen, wie man will — doch auf den Aesten des geistigen Stammbaumes der von Vogelsang. Schindler, einem Alois Liechtenstein. Lueger, und Kunschak geschaffenen chrirtlichrn sozialrefor-merischen Bewegung sitzt. Nein, das Erbe Leopold Kunschaks Ist nichts Ueberwundenes, nicht eine Antiquität für den Glaskasten oder etwa ein Gemälde, das einmal schön war, aber heute bis zur Unkenntlichkeit nachgedunkelt ist, so daß man es am besten als Leinwand für ein neues, ganz anderes verwendet. Sehen wir klar: In dem Lebenswerke Kunschaks, das heute als verpflichtendes Erbe vor uns liegt, sind alle existentiellen Elemente einer Volkspartei umschlossen. Eine Partei, die sich — noch dazu in einer Zeit schwerer Bedrohung unseres Volkstums von der sozialen und sittlichen Seite her — verbourgoisieren, in bürgerliche Bequemlichkeit sich verklausen und dadurch sich aus dem gesellschaftsreformerischen Wettbewerb mit dem Sozialismus zurückziehen wollte, sie würde darauf verzichten, das Erbe Leopold Kunschaks zu verwalten.

Diese Gedanken seien zu ernster Erwägung gestellt. Vielleicht finden sie in einer Lage Gehör, in der jetzt eben über die Bildung der neuen österreichischen Regierung entschieden und zugleich bestimmt werden soll, ob wir, rückfallend um zwanzig Jahre, in eine ähnliche, damals verhängnisvoll werdende Periode, über unser öffentliches Leben eine neue Radikalisierung der Gegensätze von rechts und links mit allen Konsequenzen hereinbrechen lassen oder doch inmitten vieler Gefahren dem inneren Frieden ein sicheres Haus bauen wollen, weil eine unverwaschene, wahre, auf christlichem Grunde stehende Volkspartei neben _ dem Sozialismus am Werke ist,

Ihr Regenten vom Tage! Denkt anLeopold Kunschak!

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