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Krakau — ohne Juden

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DIE WOLKEN HINGEN NIEDRIG; es begann zu dämmern; die Straßen blieben dunkel; die Straßenlampen wurden — aus Sparsamkeitsgründen — nicht entzündet.

Durch die Starows'lna— die jetzt Straße der Helden von Stalingrad heißt —, nach Überquerung dieser Dietlallee kommt man zu der Stelle, wo vor dem Krieg die Juden Krakaus in geschlossenen Gruppen wohnten. Ich bin rechts in die Miodowa eingebogen; hier auf der Ecke von Podbrzezie befand sich der Tempel. Er stand da, dunkel, geheimnisvoll. Mit Mühe fand ich den Tempeldiener; er war kein Jude. Er sagte: „Nur Freitag abend und Sabbath früh beten wir hier...“ „Und sonst?“ fragte ich. „In der Synagoge in der Breiten Gasse“, erwiderte er sachkundig.

Die Breite Gasse war nicht weit von dort — eine Seitengasse der Miodowa.

Die Synagoge in der Breiten Gasse ist klein und alt. Sie wurde zu Beginn des 16. Jahrhunderts, als in Polen die Könige aus der Dynastie der Jagelionen herrschten, erbaut. Ich öffnete die Tür, an der sich noch der Staub des Mittelalters verbarg, und sah zehn Juden, größtenteils ältere Männer, in abgetragenen Gewändern; zehn Juden, die im spärlich beleuchteten Vorraum bei einem langen Tisch saßen und ein bescheidenes Mahl — Lachma ania — zu sich nahmen. Von Zeit zu Zeit unterbrachen sie das Essen, um Smiroth zu singen. Ich betrachtete sie und wußte nicht, ob es Wirklichkeit war oder Theater; es sah wie eine Szene aus Gorkis „Nachtasyl“ aus.

EINE OFFENE TÜR führte in den Betsaal. Der Unterschied zwischen dem armen Vorraum und dem noblen Innern war verblüffend. Die Synagoge zwar klein, aber wunderschön; nicht eine Synagoge, sondern ein Kleinod. Alles war hier bezaubernd — das alte Pult für den Vorbeter mit der antiken Menorah. Und der Platz an der Ostwand, der Platz des Remu, des Rabbi Mosche Isseries, des bedeutendsten Rabbiners Krakaus, der hier im 16. Jahrhundert die Jeschiwa leitete. Eine Inschrift an der Misrachwand bringt den Betenden in Erinnerung, daß hier, auf diesem Platz, der große Rabbi sich vor dem Allmächtigen in Demut beugte: eine Mahnung an den Andächtigen, die Weihe des Raumes zu achten. Und voll Ehrfurcht vor diesem Raum dachte ich an jene Epoche, eine der fruchtbarsten. Als Remu hier seine „Darkej Mosche“ verfaßte, arbeitete in einer Entfernung von weniger als einem Kilometer, an der Universität von Krakau, ein Mann namens Copernikus an einer Abhandlung, die den Titel „De revolutionibus orbium coelestium“ tragen sollte. In derselben Zeit wirkte in Deutschland Martin Luther; in Rom schmückte Michelangelo das Grabmal eines Papstes mit der Statue des Moses, und in Trient tagte das ökumenische Konzil.

DIE ZEHN JUDEN IN Gorkis Vorraum, hatten ihr Mahl beendet und kamen in den Saal zum Abendgebet. Sie beteten laut, einige von Ihnen weinten dabei.

Am späten Abend habe ich zusammen mit den letzten Retenden die Synagoge verlassen. Ich blieb auf der Straße stehen, im Wind, und dachte an andere Stürme. An den Sturm, der die Juden aus Spanien heraustrieb; und an einen anderen, noch grausameren, der die polnischen Juden direkt in die Öfen von Auschwitz trieb.

Am nächsten Tag schien wieder die Sonne, ,.. die kalte Sonne der Friedhöfe.

Ich ging zu Fuß. Wieder kam ich in das jüdische Viertel. Die Straßen blieben unverändert, sie hatten sogar ihre jüdischen Namen bewahrt. Hier ist die Berek-Joselewicz-Gasse, dort die Raw-Meisels-Gasse. Die Häuser blieben so, wie sie waren, vielleicht nur ein wenig vernachlässigt. Aber die Einwohner haben sich geändert. In der Joselewiczgasse, in der Raw-Meisels-Gasse wohnen Christen. Ein jüdisches Viertel ohne Juden.

Die Sonnenstrahlen wärmten nicht, von den Schornsteinen stieg Rauch, so wie ...

Und diese Gasse heißt Skawinska. Wie vor dem Kriege. Aber eben diesen Namen sollte man ändern; diese Gasse sollte man Auschwitzgasse „ulica Oswiecimska“, nennen. In dieser Gasse, im Hause Nr. 2, hatte die Jüdische Kultusgemeinde in Krakau ihren Sitz. Ich kam her, und beim Haustor sah ich nur ein Schild — einer Kooperative von Bekleidungserzeugern. Auch heute befinden sich hier die Büros der jüdischen Gemeinde, die jetzt „Kongregation“ heißt. Da die Gemeinde jedoch ein so großes Haus nicht mehr benötigt, wurde ein Teil davon einer Kooperative vermietet.

„Die Mitglieder der Kooperative“, sagte man mir in der Kongregation, „waren größtenteils Juden...“

„Waren?“ wunderte ich mich.

„Ja“, bestätigten sie, „waren, weil die Juden später ausgewandert sind und nur Christen blieben ...“

IM BÜRO DER KONGREGATION saß im Warteraum ein nicht mehr junger Mann, der eine russische Mütze trug. Ich hatte den Eindruck, er habe mich angesprochen.

„Bitte?“ fragte ich.

„Sie spielten Handball...“, sagte er, und in diesem Augenblick kam jemand heraus und ersuchte mich, in das Büro des Vorsitzenden einzutreten.

Es empfingen mich der Vorsitzende der Kongregation und zwei Vorstandsmitglieder. Sie erzählten, daß in der Gemeinde etwa sechshundert Juden registriert seien, daß jedoch in Krakau fast zweitausend Juden leben. Die Mehrzahl aber ist weder mit der Kongregation noch mit dem Judentum verbunden; es sind Leute, die in Mischehen leben, meistens Parteimitglieder. Während des Gespräches kam der Mann mit der russischen Mütze ins Zimmer, und wieder begann er, über Handball zu sprechen.

„Was für Handball?“ fragte ich.

„Ach, lassen Sie ihn“, sagten die Vorstandsmitglieder und gaben mir Zeichen, daß der Mann nicht in Ordnung sei.

An den Wochentagen, erzählten sie, kommen etwa fünfzehn Personen zum Beten, und sie beten in der Remu-Synagoge, aber am Sabbat kommen ungefähr dreißig, und man teilt sie in zwei Gruppen: Ein Minjan betet in der Remu-Synagoge und der andere im großen Tempel in der Podbrzediegasse. Die Kongregation hofft so, beide Bethäuser zu retten, und man glaubt auch beide zu benötigen, denn zu den Hohen Feiertagen kommen fast zweihundertfünfzig Personen zum Beten, und die kleine Remu-Synagoge könnte sie nicht fassen.

Der Mann mit der russischen Kappe begann wieder von Handball zu sprechen, und die Vorstandsmitglieder machten wieder Zeichen... Trotzdem wandte ich mich an ihn:

„Wer spielte Handball?“ fragte ich.

„Sie“, antwortete er. „Sie... auf Lastautos ... kleine Kinder... kleine...“

Und plötzlich wurde es im Zimmer ganz still. Mir kam das Gedicht des großen polnischen Dichters, des Juden Tuwim, ins Gedächtnis, das Gedicht vom kleinen und verrückten Judenjungen, der im Hof herumspringt, und der noble Herr mit den grauen Schläfen schaut von seinem hohen Fenster zu. Zum Schluß des Gedichtes fragte der noble Herr Tuwim wer hier verrückt sei — der Junge oder er?

Sie haben Handball gespielt... auf Lastautos... kleine Kinder...

IN KAZIMIERZ, dem jüdischen, aber doch nichtjüdischen Viertel von Krakau, ging ich den ganzen Tag herum. Alles wurde hier erhalten — Bethäuser, jüdische Institutionen — politische, kulturelle, philanthropische. Alles blieb erhalten; nur Juden gibt es keine. In einer alten Synagoge hat jetzt eine Kooperative ihren Sitz, in dem Haus der Talmudthora befindet sich ein Kindergarten, die Häuser der Misrachi und der Agudath Israel wurden Kooperativen übergeben. Im Hause der Gesellschaft „Tehilim“ wurde ein Ensemble für Tanz und Gesang untergebracht. Und noch eine Synagoge in eine Kooperative verwandelt, und noch eine geschlossene Synagoge, und noch und noch...

In Krakau sind nur drei Synagogen geblieben. Die alte Synagoge („die alte Schil“), die in ein jüdisches Museum verwandelt wurde, die Remu-Synagoge, die auch ein Museum ist, wenn auch nioht offiziell, und der Tempel in der Podbrzezie-gasse, in dem einst der Rabbiner Dr. Osias Thon predigte. Die Kongregation möchte jetzt um jeden Preis diesen Tempel für das Judentum retten. Und ich stellte mir die Frage: Liegt hier kein Mißverständnis vor? Für das Judentum? In zwanzig Jahren wird es in Krakau kaum einen Juden geben, der weiß, was Judentum ist.

Ich kehrte in die Remu-Synagoge zurück. Neben dem Bethaus, mitten in der Stadt, zwischen den Höfen von Wohnhäusern, befindet sich ein alter Friedhof, auf dem auch der Remu bestattet ist. Ich stand zwischen den Grabsteinen und fragte mich: Habe ich in den letzten Tagen etwas anderes als Grabsteine gesehen?

PLÖTZLICH BEMERKTE ICH ein Stück einer alten Zeitung, das aus dem Schnee hervorschaute, ich hob es auf und sah eine Todesanzeige: „Den Jizchak Abrahamowicz, der hingeschieden ist, beweint sein Bruder.“

Und ich dachte an eine andere Traueranzeige, die nicht gedruckt wurde, die man in Marmor eingravieren sollte: Das jüdische Volk beweint das polnische Judentum, das untergegangen ist.

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