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Kreuz und Thora

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DIE FRIEDGEWOHNTEN MAUERN DES STILLEN KLOSTERHOFES von Tinchebray waren an diesem Tage Zeugen einer denkwürdigen Szene: 4000 dunkel gekleidete, ernst blickende Menschen, nicht weniger an Zahl als die Einwohnerzahl des Städtchens Tinchebray, hatten sich von allen Enden Frankreichs eingefunden, um dem ehemaligen Klostervorsteher Lucien Leconte das letzte Geleite zu geben. Im Sonnenlicht leuchteten die bunten Farben von Kirchenfahnen, Flaggen der französischen Widerstandsbewegung und der Trikolore. Jetzt senkten sich die Fahnen dem Grabe zu, und mit ihnen neigten sich die entblößten Häupter. Dem Grabe zunächst jedoch, zu Füßen des Entschlummerten, stand neben seinem Amtsnachfolger in schwarzer Soutane eine Gruppe von drei Männern, die nicht ihre Häupter entblößt hatten, und von den Lippen eines von ihnen hallten in den schweigenden Raum die Worte: „Jitgadal wejitkadasch scheme raba...“ Es waren die Worte des jüdischen Totengebetes. Und die drei Männer mit dem Hut auf dem Kopfe waren Herr Solomon Brezis und seine beiden Schwä-

HERR SOLOMON BREZIS entstammt einer Rabbiner- und Gelehrtenfamilie der rumänischen Industriestadt Ploesti. Die „Brezis-Klause“ nannten die jüdischen Ortseinwohner das Bet- und Lehrhaus, an dem seine Ahnen und auch sein Vater wirkten. Dieser war eine religiöse Autorität weit über die Grenzen seines Wirkungsortes hinaus. Aber nicht nur jüdische, auch christliche Gelehrte und geistliche Würdenträger suchten und schätzten den Umgang mit diesem Manne. Als er starb, folgten sieben Priester seinem Sarge eine Strecke von drei Kilometer, die tief verschneit war.

Die Söhne eiferten dem Vater sowohl in seiner religiösen Strenge wie auch in seiner Weltoffenheit nach. Der eine folgte dem Vater im Amte eines Stadtrabbiners, verließ jedoch nach wenigen Jahren Ploesti, als es sich weigerte, seine religiösen Forderungen anzunehmen. Der andere, Herr Solomon B., kehrte ebenfalls mit Frau und Kind seinem Geburtsort den Rücken, aber nicht aus religiösen Gründen — Paris hatte ihn angezogen und wurde seine Wahlheimat.

Fünfzehn Jahre später floh er vor der anrückenden deutschen Armee nach Südfrahk- reich. In einem Städtchen der Vichy-Zone er- öffnete er, wie vordem in Paris, wenn auch in bescheidenerem Rahmen, ein Kürschnergeschäft. Wohl rückte die deutsche Wehrmacht auch in diesen Ort ein und setzte ihm einen Kommissar ein. Doch der hohe Herr hatte Besseres zu tun, als sich um den Laden zu kümmern, und erinnerte sich seiner nur dann, wenn er seinen Mädchen, Bekannten und Freunden ein Geschenk machen wollte. Sonst ließ er jedoch Herrn Brezis ungeschoren.

Das Geschick wollte es, daß sich Vater und Sohn auf ihrer Flucht von Paris trennen mußten. Der Junge war in ein Dorf verschlagen worden, das er nicht verlassen durfte. Als die Sehnsucht der Eltern nach ihrem Sohne übermächtig wurde, schloß Herr Brezis seinen Laden und übersiedelte in das Dorf, wo sich auch die beiden Schwäger von Herrn Brezis mit ihren Familien befanden. Die Enge des Ortes bot dem Besatzungsmilitär keine Abwechslung und den Juden keine Möglichkeit, unterzutauchen, so daß diese jenen stets unter den Augen waren. Die Lebensbedingungen waren daher schwerer als in dem Städtchen. Täglich mußten sich die Juden melden, die Männer mußten zu schwerer Waldarbeit hinaus.

Dies ging so, wie es ging, bis auch in das entlegene Dorf Nachrichten drangen, daß mit der Eröffnung der zweiten Front eine große Verhaftungswelle, besonders jener Juden, die nicht Frankreich-Gebürtige waren, eingesetzt habe. Der erste Gedanke der Schwäger des Herrn Solomon galt der Rettung ihrer Kinder, die von Mönchen bereitwilligst in Klöster aufgenommen und versteckt wurden. Nach 14 Tagen kehrten aber die Knaben zu ihren Eltern zurück und erklärten, daß sie an ihren Versteckorten nicht bleiben wollen — es gehe ihnen dort zu katholisch zu.

Eines Tages wurden Herr Brezis und seine Schwäger von den De"tschen festgenommen.

Den weinenden Frauen erklärte Herr Solomon mit fester Stimme: „Ich verbürge mich und verspreche euch, daß ich euch eure Männer heil und ganz zurückbringen werde.“

Die drei Männer wurden einer Gruppe anderer Juden angeschlossen, und nun ging es in langen Fußmärschen dem Nordosten zu. Von Zeit zu Zeit hielt die Gruppe an und mußte schanzen. Eines Abends hielt die Gruppe nach einem langen, ermüdenden Fußmarsch wieder an, um zu graben. Diesmal jedoch hatten die Spaten einen anderen Klang. Die 40 Soldaten, welche den 19 Juden als Wächter mitgegeben waren, damit keiner der Entkräfteten entweichen könne, waren ihres Amtes überdrüssig geworden, und sie befahlen den Juden, ihr Grab zu schaufeln. Die Schwäger, kleingläubiger als Herr Solomon, murrten gegen ihr Schicksal: „Was haben wir getan, daß wir sterben müssen? Was haben wir gesündigt, was verbrochen? Warum läßt dies Gott geschehen? Wo ist Er, dein

Gott?“ — „Versündigt euch nicht!“ entgegnete Herr Brezis mit leiser Stimme. „Noch lebt ihr ja, noch atmet ihr ja. Verzweifelt nicht! Hoffet und glaubet!“ Schon standen die Juden mit dem Gesicht zur Wand, um erschossen zu werden, als ein Offizier vorbeikam. „Was habt ihr verbrochen?“ fragte er einen der Juden. „Nichts, Herr“, erwiderte der Angesprochene in deutscher Sprache. „Unser einziges Vergehen ist unser Judentum.“ — „Für solch ein Vergehen töten wir niemanden“, sagte der deutsche Offizier und befahl den Soldaten, die Juden zum nächsten Flugplatz zu bringen, um sie nach Deutschland zu fliegen.

Was waren die Beweggründe, die den deutschen Offizier im Jahre 1944, auf dem Rückzuge „heim ins Reich“, für die Juden rettend ein- springen ließen? Die Angst vor dem morgen? Die Gewissensbisse des gestern? Was sollten seine Worte, sein Befehl? Wußte er nicht, wie die Soldaten es befohlen hatten, daß in zahllosen Fällen Dutzende, Hunderte, Tausende Juden gezwungen worden waren, Gruben auszuheben, um sie mit ihren Leibern zu füllen? Wußte er nicht, daß in Hitlers Deutschland die Unglücklichen der sichere Tod in den Konzentrationslagern erwartete? War Scheinheiligkeit die Triebfeder seines Handelns oder plötzlich aufwallendes Mitleid? Oder war er einer der wenigen, die sich rein erhalten hatten inmitten des Verbrechens, der nicht mitschuldig werden wollte als Offizier, der untätig dem Verbrechen der Gemeinen zusieht? Herr Brezis selbst, als er mir seine Geschichte erzählte, warf keine dieser Fragen auf, da sie für ihn nicht existieren. In der sicheren Hut seines tiefen Glaubens war seine Errettung Gottes Wille, und der deutsche Offizier — ein Werkzeug Gottes.

AN DEMSELBEN ABEND brachen die Wachsoldaten in den Weinkeller eines Bauerngehöftes ein und betranken sich bis zur Besinnungslosigkeit. Die Juden benutzten die Gelegenheit und flohen in die Freiheit, jeder nach einer anderen Richtung. Herrn Brezis und seinen beiden Schwägern hatten sich noch zwei Flüchtlinge angeschlossen. Sie verbargen sich auf dem Heuboden eines Bauernhofes, um dort zu übernachten. Des Morgens wollten sie weiterfliehen nach Paris, um sich dort mit ihren Familien zu vereinen.

Als sie beim Aufbruch der Morgenröte die Scheune verließen, begegneten sie einem Mönch, der auf einem zweirädrigen, von einem Esel gezogenen Wägelchen saß. Er hielt die Gruppe an und fragte sie, wohin sie gehen wolle. Als er ihre Absicht vernahm, nach Paris zu gelangen, geriet er ganz außer sich. „Seid ihr von Sinnen?“ schrie er die Erschrockenen an. „In diesem Aufzug gelangt ihr nicht weit. Alle Straßen sind vollgepfropft mit Deutschen. Sie werden euch sofort erkennen und erschießen. Wenn ihr meinem Rate folgen wollt, so wendet euch in diese Richtung“ — er wies mit dem rechten Arm in dieselbe Richtung, von der die Gruppe gekommen war, indes die linke Hand, welche die Zügel faßte, in seinem Schoß ruhte. „In einer Entfernung von fünf Kilometern“, fuhr der Mönch fort, „werdet ihr auf ein Kloster -stoßen. Klopft an das Tor, und es wird euch aufgetan.“

Die Juden wurden von der warmen Stimme des ältlichen Mannes eingenommen, und seine Argumente leuchteten ihnen ein. Halb und halb waren sie schon von ihm gewonnen und bereit, von ihrem Vorhaben, trotz aller Sehnsucht nach ihren Familien, abzulassen. Aber sie fürchteten, abgewiesen zu werden. Der Mönch zerstreute ihre Befürchtungen, verweigerte lächelnd, seinen Namen zu nennen, als sie ihn darum baten, um sich auf ihn berufen zu können, und schickte s:e auf den Weg.

Als sie nach mehr als einer Stunde schüchtern an das Tor klopften, öffnete es sich sofort, und mit einem herzlichen Willkommgruß trat ihnen derselbe Mönch entgegen, der sie hierhergeleitet hatte. Es war der Abt Lucien Leconte des Klosters Sainte-Marie de Tinchebray . . .

Im Jahre 1882 geboren, bekam der junge Lecont seine erste Ausbildung in dem Kloster seiner späteren Wirkungsstätte, bei den Vätern von Tinchebray. Er beendete seine Studien an der Gregorianischen Universität in Rom mit dem Diplom eines Doktors der Theologie und ging auf Mission nach Kanada, wo er 14 Jahre ein einfaches, aber erfolgreiches Leben führte, unaufhörlich reisend und sein Brot mit den Bauern teilend. Im Jahre 1931 wird er auf die führende Stelle in Tinchebray berufen, die er bis zu seinem Tode innehaben sollte.

Die deutsche Okkupation fand die Patres von Tinchebray, wie die meisten Bürger des Städtchens, in den Reihen der Résistance. Mit Hilfe der Patres Prével und Fauvel versteckte Leconte verbündete Flieger Und verhalf Gefangenen zur Flucht in die freie französische Zone.

Am 22. Juni 1944 klopfte es an die Türe von Lecontes Kloster. Als er öffnete, stand vor ihm ein verfallener, unsäglich schmutziger Mensch, ein wandelndes Skelett.

„Mon Père, wir sind fünf dem Tod entflohene Juden

„Wenn dem so ist“, erwiderte der Geistliche, „braucht ihr nicht mehr weiterziehen. Seht in uns eure Kameraden. Wir werden euch verstecken. “

„Unsere Familien glauben uns tot...'

„Gebt mir ihre Adressen. Ich werde es einrichten, daß sie noch heute abend in Paris erfahren sollen, daß ihr am Leben seid."

Die fünf Juden waren Solomon Brezis und seine Gruppe...

BEI HAUS- UND GARTENARBEIT hatten sich die Flüchtlinge bald in ihre neue Umgebung eingelebt. Nach kurzer Zeit mußte ihr Gönner nach Paris, um sich einer schweren Operation zu unterziehen. Vor seinem Scheiden empfahl er seine Schützlinge der Obhut seines Schülers und Mitarbeiters F. Prével. (Am 15. September 1944 kam Pater Lucien Leconte auf den Operationstisch und blieb unter dem Messer. Er verschied in Frieden mit sich und der Welt, in dem Bewußtsein, sein Werk in treuen Händen zurückgelassen zu haben.)

Noch einmal sollte der kalte Todeshauch die Verborgenen streifen. An einem Juli tag pochte es heftig ans Tor. Père Prével, dem nichts Gutes ahnte, versteckte schnell die Juden in der Klosterkapelle und öffnete. Im Nu füllte sich der Hof mit Deutschen, die sich auf dem Rückzug befanden und 600 Kriegsgefangene eskortierten. Die Deutschen verteilten sich sogleich im ganzen Anwesen und veranstalteten eine Durchsuchung. Nach kurzer Zeit fand ein Soldat ?in Bündel Kleider, auf denen Spuren der ab- gefrennten Judensterne noch sichtbar waren.

„Ihr haltet hier Juden versteckt !" brüllte der Offizier der Eskorte Pater Prével an. „Wo sind sie? Heraus mit ihnen!“

„Sie sind weitergezogen", sagte der Angesprochene und wies in die Richtung des Dorfes, von dem vor Wochen Herr Brezis mit seiner Gruppe gekommen war. „Ich glaube, sie sind in dem Dorf dort drüben, fünf Kilometer entfernt von hier."

Der Offizier sah den Pater ungläubig an und befahl eine neuerliche Untersuchung.

Indessen standen die Verborgenen in ihrem Versteck hinter dem Altar Todesängste aus. Sie hörten die schweren, tappenden Schritte der suchenden Soldaten. Wenn sie sich der Kapellentür näherten, trat den Juden der kalte Schweiß auf die Stirne. Jetzt rüttelten sie an die verschlossene Pforte, und die Armen hielten den Atem an aus Angst, daß er sie verraten könne. Sie hörten die stille, sichere Stimme des Père Plével. Sie konnten nicht verstehen, was er sagte, aber die Soldatenfäuste ließen von der Klinke ab und sie hörten den Tritt des sich entfernenden Häschers. Erleichtert atmeten sie auf...

LÄNGST IST DAS LEBEN DER GERETTETEN in das gewohnte Geleise zurückgekehrt. Herr Solomon Brezis eröffnete wieder ein Kürschnergeschäft, das er mit seinem Sohne gemeinsam führt. Ehrenamtlich ist Herr Brezis Vorstand der dem Rabbinerseminar von Paris angeschlossenen Synagoge. Das Bethaus atmet den Geist des stillen, würdigen Greises.

Wenn Père Prével in Angelegenheiten seines Klosters nach Paris kommt, kehrt er im Hause Herrn Solomons ein. Jeder segnet das Mahl nach seinem Glauben, und Bande der Freundschaft und des geistigen Austausches schenken den beiden Männern Augenblicke lichtvoller Gemeinschaft.

An der sonst schmucklosen Mauer des Klosterhofes wurde aber, nach langem Widerstreben Père Prévels, von Herrn Brezis und seinen Schwägern eine Marmortafel mit folgender Inschrift angebracht:

IM SCHATTEN DIESFR KAPELLE WURDEN FÜNF ISRAELITEN VOM TODE ERRETTET VOM 22. JUNI BIS 7. AUGUST 1944 LOB SEI DEM HERRN!

IN ANERKENNUNG FÜR T. R. F. LECONTE UND SEINEM INSTITUTE M. B.

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