6565827-1949_45_06.jpg
Digital In Arbeit

Kreuzweg eines Künstlers

Werbung
Werbung
Werbung

„Christus war ein größerer Künstler als alle Künstler. ,., hätte ich die Kraft gehabt, fortzufahren, so hätte ich Bilder von heiligen Männern und Frauen nach der Natur geschaffen, die das Gesicht unserer Jahrhunderte trügen: das waren Bürger von heute, und trotzdem hatten sie Beziehungen mit den allerersten Christen.“ (Vincent van Gogh)

„Alarm! Die Erde unter eurem Bette bebt, der Himmel rast!“

(Johann Gunert, „Sternennacht — St. Remy")

Alarm! Wer von den Christen der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts wurde durch das Beispiel des gescheiterten Christen Vincent van Gogh wachgerüttelt? Wer spürte den blutigen Ernst dieser Tragödie, die sich vor den Augen einer satten Heiden- und Christenwelt in der kurzen Zeitspanne von 1853 bis 1890 abspielte? „Alarm! Die Erde unter eurem Bette bebt, der Himmel rast!“ Raste und bebte es noch zuwenig in diesem Jahrhundert? Spürte es denn keiner, der die Briefe van Goghs las, die Bilder ansah, die brannten und lohten? Diese Briefe, die der Seelenarzt und große Philosoph Karl Jasper mit Recht zu den ergreifendsten Erscheinungen der jüngeren Vergangenheit“ zählt, als „Dokument einer Weltanschauung, einer Existenz, eines Denkens von hohem Ethos, den Ausdruck einer unbedingten Wahrhaftigkeit, eines tiefen irrationalen Glaubens, einer unendlichen Liebe, einer großherzigen Menschlichkeit, eines unerschütterlichen amor fati“. Wann kommt der Theologe, der uns die Exegese des bitteren Lebens und verzweifelten Sterbens des armen Sünders Vincent van Gogh schreiben wird, daß wir nicht minder arme Kreaturen daran lernen, was es heißt, eine christliche Existenz sein zu wollen, ein wahrhaftes Leben der Nächstenliebe zu leben mitten im Sumpf der Trägheit der Herzen und der Geister, und darüber nicht zu zerbrechen? Nicht unterzugehen im „Ozean der Wirklichkeit“, auf dem der Maler Vincent van Gogh „Fischer“ werden wollte, wie er seinem Freunde Rappard 1881 schrieb. Das Lebensschifflein dieses ewig Ringenden ist im Ozean der Wirklichkeit, nein, in der Brandung des Wahnsinns gescheitert. Ein Herz, das sich in übergroßer Liebe an Menschen und Dinge, an seine Kunst, die bekehren wollte, verschwendete, wurde von den Klauen der Angst zerfleischt, und die Hand, die noch „per intervalla insaniae“ den Pinsel meisterte, griff nach der Pistole.

Der Nervenarzt Karl Jaspers hat die Pathographie dieses . erschütternden Lebens geschrieben, so wie er die Leidensgeschichte Strindbergs und Hölderlins aufgezeichnet und gedeutet hat. Van Gogh aber hat ihn fasziniert, „vielleicht vor allem durch seine ganze weltanschauliche, realisierte Existenz, aber dann doch gerade durch die in seiner schizophrenen Zeit auftauchende Welt“. Von dieser Welt van Goghs bekennt der Denker: „Es ist, als ob eine letzte Quelle der Existenz vorübergehend sichtbar würde, als ob verborgene Gründe alles Daseins hier sich unmittelbar auswirkten. Aber für uns ist da eine Erschütterung, die nicht lange erträglich ist, der wir uns gerne wieder entziehen, die wir zum Teil in den großen Werken van Goghs einen Augenblick gelöst finden, ohne auch hier es lange ertragen zu können. Es ist eine Erschütterung,

die nicht zur Assimilation des Fremden führt, sondern zur Umsetzung in andere uns gemäße Gestalt drängt." (Karl Jaspers, „Strindberg und Van Gogh“, Berlin 1926, S. 150.)

Die gleiche Erschütterung, der gleiche „Appell an die Existenz“, von der Jaspers hier spricht, haben den Dichter Johann Gunert, von dem die Öffentlichkeit bisher nur das schmale Versbändchen „Irdische Litanei“ kennt, dazu getrieben, das Leben und die Welt Vincent van Goghs in siebzig Gedichten darzustellen:

Es hat mich hingezwungen und hernach erhoben,

so mächtig war das Fühlen, das ich vorgefunden,

die glühende Bereitschaft zu Gemeinsamkeit.

Das drängt mich nun, sein Leben und sein Werk zu loben vor allen jenen, die sich hassen und verwunden,

und auch vor allen lauen Künstlern dieser Zeit.

Da das Werk van Goghs nicht von seinem Leben zu trennen ist, da beide zusammen erst die „Existenz als Ganzes" (Jaspers) in ihrer einzigartigen Höhe erkennen lassen, so sind auch die Titel der einzelnen Bilder van Goghs, die Gunert in strenger Chronologie ihrer Entstehungszeit (ermittelt nach den Briefen des Malers und nach dem großen Bildwerk „Van Gogh" von Ludwig Goldscheider und Wilhelm Uhde, Phaidon-Verlag, Wien und London 1936, beziehungsweise 1947) den „Siebzig Ereignissen" voranstellt, nur als

Wegmarken für den dargestellten Lebenweg van Goghs von der „Berufung“ bis zu seinem Tode gedacht. Das Bild bietet für den Dichter nur den äußeren Anlaß, die jeweilige Lebenssituation, in der sich sein Held gerade befindet, die „Welt“ van Goghs in das dichterische Wort „umzuwandeln". Wir hätten es demnach nach der strengen Definition Hellmut Rosenfelds, dem wir die Entwicklungsgeschichte des deutschen Bildgedichtes von den antiken Vorbildern bis zur Gegenwart danken, nicht mit echten Bildgedichten zu tun, denn unter „Bildgedicht" versteht man „jede Dichtung, die es unternimmt, ein reales Werk der bildenden Kunst in Worte umzusetzen“. Gunert will vielmehr der „Lebensidee“ des Künstlers van Gogh mit seiner lyrischen Biographie dienen. Diese Idee ist ei'ne eminent humane und damit trotz ihres Scheiterns am Ende eine ausgesprochen christliche. Bei unserem Dichter liegt vielleicht der Ton vorwiegend auf der rein menschlichen Seite der sozialen Huma- nitas. In herben Worten, die etwas Holzschnittartiges haben und ganz dem harten Realismus van Goghs entsprechen, wird der Kreuzweg dieses Künstlers geschildert, der Kreuzweg jedes Großen, den die Welt verkennt, verlacht, dessen eindringliche Mahnung sie in den Wind schlägt, nicht wissend, was sie tut, Die Bilder van Goghs reden hier durch den Mund des Dichters eine eindringliche Sprache, die nicht mehr überhört werden kann, man teilte sich denn taub! Da ihr Inhalt sich mit der Lebensweise des Malers deckt, so kommt es doch dazu, daß man diese Sonette in freier Form (vierzehn sechs- bis siebenhebige Jambenzeilen) auch als Bildgedichte ansprechen darf, deren Rahmen zwar der überbordenden und überschäumenden Kunstweise van Goghs durch die Auflockerung der Sonettform durchaus gemäß ist, die aber andererseits das feine Empfinden des Dichters für die Rahmenform des Bildsonetts, wie sie August Wilhelm Schlegel gefunden hat, erkennen lassen. Sie vermitteln das, was Rosenfeld gegenüber den ästhetischen Mischgebilden vollkommener formaler Einheit (etwa bei Goethe, Schlegel, George) als das „Reizvollere" bezeichnete: „jene Tiefe der Symbolik, die dem Menschen die nicht mehr rational zu fassende Sinnhaftigkeit seines Daseins an- schauungshaft aufleuchten läßt“. (Rosenfeld, „Das deutsche Bildgedicht“, Palaestra 199, S. 262.)

Für die besten dieser aus den Fugen geratenen Zeit ist Vincent van Gogh ein hohes ethisches Symbol geworden. Ihm ein echtes Standbild errichtet zu haben, ist das Verdienst Johann Gunerts. Es ist die verfrühte Gabe für das Jahr 1950, da die Welt des 60. Todestages des großen niederländischen Malers gedenken wird.

Österreichische Verlagsanstalt, Innsbruck 1941.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung