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Krippe und Habergeiß

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„PAWERLWERI“ nennen in einigen österreichischen Gegenden die Bauern minderwertiges, billiges Zeug. Pawerl- werk. Das Wort geht auf die Zeit der Franzosenkriege zurück. Damals geriet so mancher französische Brocken in unsere Umgangssprache. „Pawerl“ ist nichts als eine Verballhornung des Wortes „pauvre". Es bedeutet: arm.

„Pawerlweri“ sagen viele österreichische Bauern auch zu ihren alten Lebkuchenmodeln, zu den Räucherpfannen, wo sie es noch gibt, zu Weihnachtspyramiden und Weihnachtsbögen und im übertragenen Sinn zu ihren Bräuchen überhaupt.

„Pawerlweri“ — dieses Wort ist, auf das Brauchtum der Vorfahren angewendet, vielleicht gar nicht so bös gemeint. Es hat nur den gleichen halb verächtlichen, halb mitleidigen Beigeschmack wie heute eben das Wort „arm“ überhaupt. Ebenso halb verächtlich, halb mitleidig sieht man auf den alten, pferdegezogenen Leiterwagen herab, an dem man im Opel, im Ford oder im Mercedes vorüberbraust.

Doch es gibt noch Pferdewagen. Und es gibt noch Bräuche. Führen die

Bräuche das gleiche, zum Aussterben verurteilte Dasein als Nachzügler der Entwicklung, wie die Pferdewagen? Oder haben sie nach wie vor einen Platz im Leben — auch in der Zukunft? Sind sie nur vorübergehend in den Hintergrund getreten oder ist es mit ihnen, auf lange Sicht, endgültig vorbei? Diese Frage soll hier an Hand der Advents- und Weihnachtsbräuche gestellt werden.

EINST WAR ES BRAUCH, am Abend des 5. Dezember unter reichlicher Zugabe zerbröckelter Semmeln die „Perschtmilch“ anzurühren. Jedes Familienmitglied aß einen Löffel davon, der Rest wurde über Nacht stehengelassen. Er war als Mahlzeit für die Frau Perchta bestimmt, die sich, alten Vorstellungen zufolge, vor allem um das Wohlergehen der neugeborenen, aber noch nicht getauften Kinder kümmerte. Weshalb einst auch neugeborene Kinder in ihrem Gefolge mitgetragen wurden, wenn die Frau Perchta in der Nacht auf den 6. Dezember durch niederösterreichische Ortschaften zog, Menge und Qualität des Gesponnenen begutachtete und dementsprechend Segen oder Unsegen über das Haus aussprach.

In der winzigen Holzknechtsiedlung Nestelberg in den Ötscherwäldern wurde noch vor zwei Jahren Perschtmilch für Frau Perchta bereitgestellt. Allerdings nur noch in zwei Häusern. Da heute eine Straße direkt an der Ortschaft vorbeiführt, haben es wahrscheinlich auch diese Leute aufgegeben. Damit ist der Brauch mit der Perschtmilch als ausgestorben zu betrachten.

Denn es ist eine seltsame, aber immer wieder beobachtete Tatsache, daß die alten Bräuche dort, wo die moderne Zivilisation hinkommt, rapid dahinschwinden.

SCHLAGEN WASCHMASCHINEN Autos und Kühlschränke Frau Percht: ln die Flucht? Ist modernes Denker wirklich unvereinbar mit alten Bräuchen? Wäre es wirklich so — warum heiraten dann auf einem großen, modernen Hof bei Höllenstein im Ybbstal alle Töchter in selbst geschneiderten Kleidern aus selbst gesponnenem und gewebtem Leinen? Warum werden dann die Kinder dort in der alten Wiege aufgezogen — wo man die doch anderswo längst auf den Dachboden gestellt hat? Warum singen sie dann dort noch immer jeden Abend gemeinsam die alten Volkslieder? Denn auch das Spinnen und das Weben der Stoffe für die überlieferten Trachten, die alte Wiege und das gemeinsame Singen gehören zum Brauchtum.

Der erwähnte Hof bei Höllenstein, der an sich aus dem Jahre 1305 stammt, wurde vor wenigen Jahren nach modernen Gesichtspunkten neu errichtet. Er wird von der Familie mit modernen Maschinen und Methoden bewirtschaftet. Alle Errungenschaften, die dem Bauern heute das Leben leichter machen, fanden dort Eingang. Trotzdem haben sich die alten Bräuche dort gehalten.

Und nicht nur das — sie wurden auch von einigen anderen Familien der Umgebung, von Leuten, die sie längst aufgegeben hatten, wieder aufgenommen. Aber auch bei ihnen handelt es sich um technisch gut eingerichtete und modern wirtschaftende Bauern.

Denn auch dies ist eine hinlänglich beobachtete Tatsache: In rückständigen, armen und abgelegenen Gegenden hat sich das alte Brauchtum zwar am zähesten erhalten, dort wurde es aber auch am schnellsten aufgegeben, als die Zivilisation kam. Hingegen zählen diejenigen, die es heute aus freien Stücken wieder aufnehmen oder die es wieder liebevoller pflegen, ausnahms los zu den modern denkenden, fort- schriftlich wirtschaftenden Bauern.

DAS IST KEIN WUNDER, wenn man die Macht des Vorbildes bedenkt. I Und als Vorbild in jeder Hinsicht Į wird heute nur der erfolgreich Wirt- schäftende anerkannt. Es war bestimmt nicht allein der Bedarf nach Mechanisierung, was die alten, pferdegezoge- nen Bauernwagen und die alten Wirt- ii schaftsmethoden so schnell dahin- sterben ließ. Es waren auch die halb verächtlichen, halb mitleidigen Blicke von der stolzen Höhe des Traktor- ! sitzes herunter. Die Rolle, die halb verächtliche, halb mitleidige Blicke in der Geschichte des menschlichen Fortschrittes gespielt haben, wird meistens unterschätzt. Ebenso waren es, auf der anderen Seite, sicherlich auch die gleichen verächtlich mitleidigen Blicke „aufgeklärter“ Nachbarn, die so manchem schönen, alten Brauch, der noch da und dort geübt wurde, der noch zu retten gewesen wäre, den Todesstoß versetzt haben.

Es war einfach nicht „schick", die alten Bräuche zu pflegen. Man könnte ohne weiteres dafür sorgen, daß es wieder „schick“ wird. Und man sorgt auch dafür.

In den landwirtschaftlichen Schulen ; sagt man vor allem den Mädchen: j „Seid doch nicht so dumm, eure alten j Bräuche aufzugeben! Glaubt doch nicht, der Nachbar, der seine Krippe wegwirft, sei modern! Modem seid ihr, wenn ihr sie behaltet!“

Wie groß die Möglichkeiten, zurückgedrängtes, aber noch nicht abgestorbenes Brauchtum wiederzubeleben, tatsächlich sind, zeigt der Erfolg der Bemühungen kirchlicher und der Kirche nahestehender Kreise, der

Weihnachtskrippe den verlorenen Platz wiederzugeben. Fast wäre sie in Vergessenheit geraten. Heute kann man von einer derartigen Möglichkeit wohl nicht mehr sprechen.

IN NIEDERÖSTERREICH hat sich vor allem das Landesmuseum unschätzbare Verdienste um das vorweihnachtliche und weihnachtliche Brauchtum der Bauern erworben — und innerhalb des Landesmuseums Frau Kraus-Kas- seck, eine unermüdliche Sammlerin alter Bräuche und der damit zusammenhängenden volkskundlich interessanten Gegenstände. Wie jedes Jahr im Advent ist auch heuer in der Herrengasse eine einschlägige Ausstellung zu sehen. Wobei es sich jedoch um kein rein museales Unternehmen handelt — mancher Brauch konnte auf diesem Weg neu belebt werden.

Tiefe soziologische Einblicke gestattet allerdings die Tatsache, daß diese Bemühungen in der Stadt oft auf fruchtbareren Boden fallen als draußen. Eine ganze Reihe von Wiener Künstler- und Intellektuellenfamilien holt sich in der Herrengasse Anregungen für ein Weihnachtsfest ohne Glaskugeln, ohne Weihnachtsengel aus

Papiermache, ohne Weihnachtsglocken vom Tonband.

Denn die Weihnachtskrippe, im direkten Sinn ebenso wie im übertragenen, steht zwischen Scilla und Charyb- dis. Und die Gefahr durch die Massenproduktion sinnentleerter Weihnachtsstimmung ist heute wesentlich größer als die Gefahr, die Weihnacht könnte vergessen werden.

Hier könnte ein wiederentdecktes, noch nicht massenproduziertes, noch nicht zum Klischee gewordenes weihnachtliches Brauchtum zur Gegenkraft werden. Zu einer Gegenkraft, die freilich ihrerseits gefährdet wäre, vom allgegenwärtigen, stets sprungbereiten Kommerz okkupiert zu werden, wenn sie sich stärker bemerkbar macht.

VÖLLIG VERGESSEN sind in Niederösterreich sämtliche Bräuche, die in der Thomasnacht (vom 21. auf den 22. Dezember) üblich waren. Völlig vergessen ist im Alpenvorland die „Habergeiß“, die in der Zeit vor Weihnachten bei verschiedenen Gelegenheiten auftauchte, vor allem aber als Begleiterin von Nikolo und Krampus. In Tirol gibt es sie noch.

Vergessen sind Frau Perchta und die Perschtmilch. Vergessen ist die Weihnachtspyramide. Vergessen ist der Weihnachtsbogen.

Vergessen ist der Brauch „Frisch und gsund“ am Tag der Unschuldigen Kinder. An diesem Tag gingen die Kinder von Haus zu Haus und strichen die erwachsenen Leute mit Ruten: „Frisch und gsund, frisch und gsund, lang leben, gern geben!“

Ein Vakuum ist geblieben. Der Mercedes füllt es nicht.

Was an Bräuchen erhalten geblieben ist, das lebt fast ausschließlich in den Tälern der Alpen und des Voralpenlandes. Der Flachlandbauer nimmt den Bräuchen gegenüber dem Vernehmen nach fast ausschließlich eine völlig nüchterne, das heißt ablehnende Haltung ein. Überdies soll vom Osten nach Westen, ein .starkes „österreichisches Brauchgefälle“ feststellbar sein: Je weiter nach Westen, desto weniger Bräuche. Der Fremdenverkehr favorisiert einige besonders bunte, folk- loristisch besonders reizvolle Bräuche, auf alle anderen wirkt er sich katastrophal aus.

Erhalten blieb der Brauch der „Kornsaat“: Eine Woche vor Weihnachten wird in einer Schüssel mit feuęhtem Sand und Sägespänen etwas Korn oder Weizen angebaut, um als besonders segenbringend an die Hühner verfüttert zu werden.

Erhalten blieb das „Nikolaushäuschen“. ein Gestell aus Stäben und roten Äpfeln, in das eine Nikolausfigur gestellt wird, während der Krampus draußen bleiben muß.

Erhalten blieb das „Herbergsuchen“, die Wanderung einer Madonnenfigur von Haus zu Haus.

Erhalten blieb der „Räuchergang“ durch den Hof; und die häßlichen alten Futtertöpfe und Mistschaufeln, die dabei nach dem Krieg Verwendung fanden, werden da und dort wieder durch künstlerisch ausgeführte Räuchergefäße ersetzt.

Einige Bräuche gewannen an Boden und wurden in Stadt und Land zu „Standardbräuchen“: das Bleigießen,

der Barbarazweig, der Zwetschkenkrampus und der Lebkuchen als Weihnachtsgebäck.

VIELLEICHT NEIGT man heute da und dort zu einer allzu einseitig „naturschützerischen“ Einstellung, die kritiklos jeden Brauch zu retten sucht, der vom Verfall bedroht ist. Vielleicht ist man heute da und dort allzu kritiklos bereit, zu bedauern, daß die alten Bräuche ihren „eigentlichen Sinn“ verloren haben. Daß die Menschen. die sie ausüben, nicht mehr empfinden, was sie tun.

Daß es so ist, wird niemand leugnen. Nur der Fremdenverkehr, und die Wochenschau haben die photogenen Umzüge von Imst oder von Tamsweg in die Gegenwart herübergerettet. Ein Ende dieser Überlieferungen wäre auch durchaus nicht nur aus Fremdenverkehrsgründen sehr zu beklagen gewesen.

Aber ist es schade, daß sie ihren „eigentlichen Sinn“ verloren haben? Ist es schade, daß sich die Bauernkinder vor den furchterregenden Masken nicht mehr fürchten? Ist es wirklich schade, daß die Menschen von dem Druck befreit wurden, den gewisse Vorstellungen auf sie ausüben mußten? Ist es schade, daß sie die Dämonen der Rauhnacht und alles, was es im Pandämonium der alpenländischen Vorstellungswelt sonst’noch gab, nicht mehr in Angst versetzt? Nicht alles, was Brauch war, war christlich. Nicht alles, was Brauch war, war gut.

Die Habergeiß ist ein nettes Tier und sollte nicht in Vergessenheit geraten. Zum Glück verbreitet sie keinen Schrecken mehr.

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