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Kritik des Publikums

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Schon immer galt das Wiener Publikum als das verwöhnteste und kritischeste, was mit anderen Worten auch das feinsinnigste und unbestechlichste und nicht zuletzt das begeisterungsfähigste bedeutet. Wenn in Wien die berühmteste Oper, das berühmteste Orchester der Welt entstanden, so hat letzten Endes das Publikum sie dazu gemacht, seine Aufnahmsfähigkeit, sein Unterscheidungsvermögen, sein sicheres Gefühl für Werte und der darauf beruhende fein differenzierte Beifall, der in der Welt schwerer wog als Zeugnis, Titel und Reklame. Denn Musik war hier niemals Sensation oder Unterhaltung allein — das gab es, allerdings auch und ausgiebig genug, doch man wußte scharf zu trennen — sondern Ausdruck geistigen und nationalen Lebens, wobei national im polyphonen Sinne österreichischen Weltgefühls zu verstehen ist, in dem Sinne etwa, als bei Joseph Haydn kroatische, bei Mozart böhmische (melische und rhythmische) Elemente anzutreffen sind, ohne den deutschen Charakter ihrer Musik zu beeinträchtigen.

Im Franzosenjahr 1809, während vor den Toren Wiens die Kanonen donnerten und das Staatsgefüge erschütterten, standen die Wiener allabendlich gedrängt auf dem Josefsplatz und hörten der bei offenen Fenstern übenden Hofmusikkapelle zu, die an den extremsten Schöpfungen der damaligen Moderne studierte, deren bedeutendste Komponisten Haydn, Mozart und Beethoven hießen. (Als Sekundgeiger des Orchesters wirkte der Konviktknabe Franz Schubert mit.) Das war keine Publikumsneugier und keine „Hetz“, das war bewußte Zugehörigkeit zum musikalischen Kunstwerk als letztlich entscheidendem Faktor, als unbefangenes und unbetrügliches Publikum. Tatsächlich ist kein Publikum weniger geblufft worden als das Wiener.

Natürlich hat ein so begeisterungsfähiges Publikum seine Launen, die mit seinem Wertbewußtsein wachsen, leider zumeist auf Kosten des letzteren, genau wie bei allen anderen Stars. Und wenn die böse Behauptung wahr wäre, daß die heutigen Komponisten nur mehr Zwerge gegen die damaligen sind, so gilt das vom Publikum zumindest in gleichem Maße und viel beweisbarer durch das Uberwuchern mancher Unarten, die durch keine Urteilskraft aufgewogen werden, weil sie eben diese negieren. Unarten fallen nämlich nicht nur bei den Ausführenden auf, sondern meist störender bei den Zuhörern. Der Verständnis- und rücksichtslose Zuhörer stört Ausführende und Publikum gleicherweise. Es gibt niemand, den er nicht stört, und zuweilen geschieht dies in solchem Ausmaß, daß man nicht begreift, warum solche Leute überhaupt gekommen sind.

Trotz Ablehnung jedes pedantischen und philiströsen Standpunktes wollen wir dennoch feststellen, daß es längst wieder an der Zeit wäre, Musikvereinssaal und Konzerthaus nicht in Knickerbockern und Ausschlaghemden zu betreten, sondern sich zum Konzert wieder wie eine gute Gesellschaft zu kleiden, was von selbst zu guter Haltung zwingt. Ein Konzertsaal soll keine Modenschau, aber noch weniger ein Sportplatz sein. Das Freistilringen ist nebenan. Daß ein Jüngling in Hemdärmeln und die Beine über zwei Stühle langgestreckt, in einer Loge des Musikvereinssaales liegt, wie es beim letzten Hindemith-Konzert beobachtet wurde, dürfte doch über das Maximum an Ignoranz hinausgehen. Man muß zum Publikum erzogen sein. Ungezogenheit gehört in die Lehre. Auch dieser Jüngling hätte im dunklen Anzug vielleicht mehr Haltung aufgebracht.

Die — sehr altmodische — Angst vor dem Zufrühkommen drückt sich in ostentativem Zuspätkommen aus. Es gibt Konzertbesucher, und es sind im großen ganzen stets die gleichen, die pünktlich, nachdem die Türen geschlossen sind und der erste Akkord erklungen ist, da sind und geräuschvoll, meist auch ziemlich ungeschickt, ihren Platz suchen. Gewiß wird dem und jenem die Zeit einmal knapp sein, doch die Achtung vor Kunst, Künstler und Publikum, zu dem man schließlich trotz Zuspätkommen selbst gehört, weiß, wenn sie nur vorhanden ist, Taktlosigkeit zu vermeiden. Wer diese Achtung nicht besitzt, ist im Konzertsaal deplaciert.

Das Publikum ist ein Plural, sein Urteil kann von dem des einzelnen Zuhörers sehr verschieden sein. Für den einzelnen ist daher die Erkenntnis, daß Konzerte nicht für ihn allein gemacht weiden, von Vorteil. Während einer Aufführung, deren Programm man aus irgendeinem Grunde nicht billigt, betont geräuschvoll den Saal zu verlassen, ist zwar Unfug und Störung, aber nicht im geringsten ein Argument, es sei denn gegen den Demonstranten selbst. Wie schwierig — und wenig sicher — ein allgemein gültiges Urteil in musikalischen Dingen ist, beweisen die vielen Fehlurteile selbst gewiegter und berühmter Kritiker aller Zeiten.

Wo nämlich das Publikum sich aufspaltet in Gruppen, die nur diese oder jene Richtung als wertvoll gelten lassen wollen und gegen alle anderen demonstrieren, hört die kritische Funktion des Publikums als mitschöpferischer Teil des Musiklebens auf und sein Wert reduziert sich auf den einer unbezahlten Claque. Kein Publikum klatscht mehr als das innerlich teilnahmslose. Die innere Beteiligung am musikalischen schöpferischen Geschehen und seiner Verkörperung durch die Wiedergabe (wozu gar keine Fachausbildung nötig ist), das ist der unschätzbare einmalige Wert des Wiener Publikums gewesen. Er ist es auch heute noch, trotz der aufgezeigten Unsitten, Ober die man hinwegsehen könnte, wenn sie nicht eben bedenkliche Anzeichen der Verflachung, des Verfalles wären, eben das also, was vielerorts den modernen Komponisten vorgeworfen wird. Das Publikum geht nicht beruflich ins Konzert und nicht zur Unterhaltung, sondern zum musikalischen Erlebnis, das immer eine

Art Andacht bedeutet, Erhebung und Erfüllung sein soll und auf der Ehrfurcht vor dem Kunstwerk und dem Künstler basiert. Je mehr dem so ist, um so un beirrbarer wird sein Urteil, um so größer sein Anteil am schöpferischen Impuls und um so entscheidender seine Differenzierung von den bloßen Besserwissern sein.

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