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Kühnheit physikalischer Weltschau

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Aufregender und fesselnder als Film und Roman eines britischen Meisters der Spannungsmache ist es, über den Bereich unserer Sinne hinaus mit den Großen unserer Zeit an die Grenzen menschlicher Entdeckungen vorzudringen. Freilich laufen nicht nur die Laien hiebei Gefahr, daß beim Anblick ihrer Bemühungen einer jener Großen schmerzlich lächelnd den berühmten Ausspruch wiederholt: „Einer nur hat mich verstanden und der hat mich mißverstanden!“ Denn um sich im Raum der Naturwissenschaft ein eigenes Urteil anzumaßen, bedarf es mannigfacher Sonderstudien und beträchtlicher mathematischer Kenntnis. Wer nicht über diese verfügt, muß den Lehrmeinungen anerkannter Denker vertrauen. Ihre genialen Schlußfolgerungen aus Erfahrung und Versuch bewirken, daß sich der Belehrte zugleich als unendlich klein und unendlich groß erkennt. Die eigene Kleinheit vermag er an Abständen von Stern zu Stern ermessen, die nach Lichtjahren berechnet werden; ein Lichtjahr aber zählt zehn Billionen Kilometer. Der Göttinger Gelehrte von Weizsäcker erzählt in. seiner „Geschichte der Natur1“, daß wir uns in einer räumlich und zeitlich endlichen Welt befinden, deren Halbmesser mit drei Milliarden Lichtjahre anzunehmen ist. Dem denkbar Größten gegenüber setzt sich jedoch heute, mehr denn je, die Wissenschaft mit dem denkbar Kleinsten auseinander, mit den Bausteinen der Materie, wobei sie als Mindestmaß den zehnbillionsten Teil eines Zentimeters verwendet. Jeder von uns — eine Welt, eine Welt aus Atomen.

Das Wort Atom läßt an die Wohltaten der Isotope in der Heilkunde wie an die Schrecken der Atombombe denken. Nicht vergessen darf aber werden, daß das berühmte Atommodell, dessen Durchmesser etwa zehnmal die vorerwähnte kleinste Länge mißt und in dessen Innerem gleichwie in einem Sonnensystem die Elektronen kreisen, nur eine Gedankenstütze ist. Sie gestattet uns, wie Hardung-Hardung im „Handbuch des Wissens 2“ erklärt, im Bereich des Allerkleinsten „mit begrifflich aus der Erfahrung Bekanntem zu arbeiten“. Freilich ist dieses Atommodell aus experimenteller Erfahrung entwickelt. Erfahrung lehrt aber auch, daß von jedem Atom eine genau definierte elektromagnetische Wellengruppe ausgesandt wird. Da viele dieser Wellen als Lichtwellen im Bereich der Sichtbarkeit liegen, vermag man durch Spektralanalyse das Atom chemisch zu bestimmen. Woraus besteht es?

Die Wissenschaft vermag nicht nur diese Frage zu beantworten; sie lehrt als Wellenmechanik das Vorhandensein von Kräften, denen gegenüber der Unwissende dahinlebt, wie der augenlose Molch der Karsthöhlen, der Grottenolm, zu dem nie ein Strahl natürlichen Lichts hinabdringt. Wir freilich verwerten bereits, was wir nur mit Hilfe besonderer Vorrichtungen wahrzunehmen vermögen: ultraviolette, infrarote und Ultraschallwellen.

Mehr denn je gilt das ahnungsvolle Wort, das Heraklit vor zwei Dutzend Jahrhunderten aussprach: „Alles strömt.“ Alles ist in Bewegung, noch dazu in schwindelerregendem Maße. Als Goethe an einem Septemberabend 1780 im Jagdhäuschen auf dem Gickelhahn Verse an die Wand schrieb, die wie kein anderes Gedicht den tiefsten irdischen Frieden eines Herbsttages, der zu Neige geht, erleben lassen — „über allen Wipfeln ist Ruh...“ —, da jagte dieses einsame Plätzchen unaufhaltsam in rasender Eile binnen vierundzwanzig Stunden den Weg um die Erdachse, schoß es mitsamt der Erde, die es trägt, mit einer Geschwindigkeit von dreißig Kilometern in der Sekunde um die Sonne. Die Sonne selbst hinwiederum — und mit ihr ein Planetensystem — umkreist damals wie heute ein Himmelszentrum, das von uns 50.000 Lichtjahre entfernt sein dürfte.

Als der 64jährige Dichter die Schrift seiner Verse 1813 in gleicher Stimmung — „In allen Wipfeln spürest du kaum einen Hauch...“ — nachzog, da hatte dieses stille Plätzchen unter seinen Füßen

Die ethische Welt- und Lebensbejahung stellt an den modeinen Staat das Ansinnen, daß er danach trachten solle, ethische und geistige Persönlichkeit zu werden. Hartnäckig dringt sie damit aul ihn ein. Sie läßt sich durch kein überlegenes Lächeln einschüchtern. Die Weisheit von morgen lautet anders als- die von gestern.

Nur dadurch, daß eine neue Gesinnung im Staate waltet, kann er im Innern zum Frieden kommen; nur dadurch, daß eine neue Gesinnung zwischen den Staaten entsteht, kommen sie zur Verständigung und hören aul, einer dem andern Verderben zu bringen; nur dadurch, daß die modernen Staaten der überseeischen Welt in anderer Gesinnung als birhei begegnen, hören sie aui, sich dort mit Schuld zu beladen.

Aus: Albert Schweitzer „Verfall und Wiederaufbau der Kultur Gebetshäuser und Moscheen zu entstehen, teilweise so zahlreich, daß selbst religiöse Blätter, wie „Ehli Sünnet“ (Nummer 7) in seinem Artikel „Es ist keine Zeit, Moscheen zu bauen“, den übereilten Eifer zu dämpfen suchten und dafür mehr Arbeit für die innere religiöse Erneuerung forderten. Neben dem Bau neuer Moscheen wurden auch zahlreiche alte, die unter Atatürk zu Schneiderwerkstätten, Klubs, Bibliotheken und ähnlichem umgewandelt worden waren, ihrem Bestimmungszweck zurückgegeben. In Ankara wurde eine islamische theologische Fakultät gegründet. Der Religionsunterricht in den Volksschulen wurde wieder eingeführt.

Auch die Pilgerfahrten nach Mekka kamen seit zwei Jahren wieder in Gang. Es sind wieder Devisen für diesen Zweck da, deren angebliches Fehlen bisher die Abhaltung von Mekkapilgerfahrten praktisch verhinderte. Auch die staatliche Aufsicht über die Geistlichen ist gelockert worden. Voriges Jahr durfte der Reis ud-Diyanet, das geistige Oberhaupt des türkischen Islam, sogar einen ausländischen Würdenträger, den Reis ul-Ulema von Jugoslawien, offiziell empfangen. Türkische Schriftsteller durften wieder an islamischen und selbst ausgesprochen panislamistischen Blättern mitarbeiten. Neue Religionsbücher wurden veröffentlicht und das Erscheinen des Korans in arabischer Urschrift mit türkischer Übersetzung wurde angekün-digtt. Alle diese weitreichenden Veränderungen, die sich schon in den letzten Jahren vollzogen haben, wurden merkwürdigerweise vom Ausland wenig beachtet.

Die durch den überraschenden Ausgang der kürzlichen Neuwahlen für das Parlament in Sattel gesetzte neue, demokratische Regierung findet mit dieser Rückkehr der Religion ins freie Leben bereits eine gegebene Ausgangssituation vor. Zwar hieß es in der Regierungsproklamation, „der Kampf gegen die Reaktion solle fortgeführt werden“; doch schließt der betonte Wille der neuen Machthaber, vom bisherigen Interventionismus in Wirtschaft und Kultur abzugehen, die Möglichkeit einer Rückkehr auf den alten Weg von vornherein aus. Die verantwortlichen Führer der Demokralen haben es bisher freilich vorgezogen, sich über das kulturpolitische Problem auszuschweifen oder sich sehr vorsichtig auszudrücken. Sie sind dabei offenkundig bemüht, nicht den Anschein zu erwecken, Verletzer der von Atatürk aufgestellten Hauptgrundsätze zu sein. Die Stellungnahme des neuen Ministerpräsidenten Celäl Bayar, des Sohnes eines Mufti, ist ungefähr die gleiche wie jene der letzten Volksparteiregierung mit dem ehemaligen Theologen Semseddin Günaltay an der Spitze, der seinen Standpunkt anläßlich einer Wahlrede, in der er die Propaganda für die Wiedereinführung der arabischen Schrift verurteilte, folgendermaßen formulierte: „Wir wollen das . Bewußtsein der kulturellen Zusammengehörigkeit wachhalten wie die gemeinsamen heiligen Gefühle der Nation fördern, damit wir den von außen- kommenden schädlichen Ideologien mit Erfolg Widerstand leisten können.“ („Cum-burivet“ vom 13. April 1950)

Eigentlich waren es neben den Anhängern der Millet Partisi die Demokraten, die während des Wahlkampfes von religiösen Parolen ausgiebigen Gebrauch machten. In Antakya erschienen bei einer ihxer Kundgebungen sogar.alttürkisch gekleidete Bauern, mit Turban und Fes auf dem Kopf, die Transparente mit arabisch geschriebenen Sprüchen des Propheten trugen, wie „Wer sich geduldet, der siegt“. Dennoch ist mit Hinblick auf die türkischen Verhältnisse und das Fehlen eines festen eindeutigen Programms der nunmehr regierenden Demokrat Partisi die weitere Entwicklung nicht mit Bestimmtheit .vorherzusehen.

Zusammen mit der Verbesserung der Lage des Islam hat sich auch die S i tu a-. tion der christlichen Kirchengemeinschaften günsfig geändert. Auch den, weniger zahlreichen katholischen Instituten im Lande — neben denen der armenischen Kirche namentlich das österreichische St.-Georgs-Lyzeum und das amerikanische College — kommt die neue Atmosphäre zugute. Gerade diesen Monat kommt unter Führung österreichischer Karmeliterinnen eine Gruppe türkischer Schulmädchen upd Buben nach Wien, um Kunst und Kultur des Abendlandes aus eigener Anschauung kennenzulernen. Es ist dies das erstemal in der Geschichte, daß türkische Kinder nichtmoslemischen -geistlichen Personen in dieser Art anvertraut werden.

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