6605625-1954_16_15.jpg
Digital In Arbeit

Künstler gegen Künstler

Werbung
Werbung
Werbung

Also sprach der einfache Mann von der Straße: „Wenn der Maler X vom Maler Y behauptet, dieser sei ein lächerlicher Nichtskönner, und umgekehrt der Maler Y das gleiche vom Kollegen X sagt, oder wenn der Bildhauer Z ernstlich die Meinung vertritt, es gebe außer ihm keine künstlerische Potenz im Lande — dann, verehrter Herr, gehe ich eben lieber zu einem Fußballmatch, wo ein Goal ein Goal ist und die Spielregeln bekannt sind.“ Worauf der schlichte Mann den Finger grüßend zum Hutrand hob und sich mit einem Lächeln empfahl. Dieses Lächeln war nicht ganz ohne Spott und gleichzeitig schien es die Freude auszudrücken, von etwas Belastendem befreit zu sein. Denn man muß wissen, daß der gute Mann von der Straße des öfteren hatte hören müssen, Anteilnahme an den Dingen der Kunst gehöre sich für einen Bürger eines Kulturstaates, ja es sei Pflicht, sich für Kunst und Künstler zu interessieren. Und so hatte dieser einfache Mann diese Verpflichtung auf sich genommen. Nicht gerade mit viel Begeisterung, aber dennoch gutwillig — und auch weil ihm keine Ausrede zur Verfügung stand, wie etwa seinem ehemaligen Schulkameraden, der als Hochschulprofessor sehr autoritär erklären konnte, was Kunst sei und was nicht, gleichzeitig aber zugab, daß er infolge Arbeitsüberbür- dung natürlich nicht Zeit habe, sich mit den Problemen der Gegenwartskunst zu beschäftigen. Nun aber atmete der Mann von der Straße befreit auf: er hatte sein möglichstes getan, war aber immer und immer wieder auf so gegensätzliche Urteile gestoßen, die Künstler über Künstler aussprachen, daß er die Berechtigung fühlte, sich mit reinem Gewissen von der Kunst ab- und dem leichter faßlichen Fußballsport zuzuwenden.

Wer vermöchte diesen Mann darob zu schelten? Er hatte doch recht — oder vergaß er vielleicht doch auf etwas Wichtiges, auf etwas, wovon man selten oder nie zu ihm sprach: vergaß er etwa auf die menschlichen Hintergründe solcher Intoleranz und solchen Größenwahns dieser oder jener Künstler, mit denen er zufällig zusammengekommen war oder von denen er diesen oder jenen bösartigen und überheblichen Ausspruch vernommen hatte? Ich hätte ihm gerne einig Aufklärungen gegeben — aber er war, als motorisierter Mann von der Straße, bereits davongerollt...

Sind wirklich alle Künstler so unduldsam? So sehr von ihrem eigenen Schaffen eingenommen? Sie alle, die malenden, zeichnenden, bildhauernden und schreibenden Männer und Frauen? Die Erfahrung wird einem zeigen, daß es Ausnahmen gibt, und daß die einen zurückhaltender und die anderen offener in ihrem Urteil sind. Sicher aber ist, daß die meisten ihr oft scharfes und unduldsames Be- und Verurteilen nicht so ernst meinen. War es doch immer am Kaffeehaustisch üblich, witzige und auch zuweilen recht bissige Apercus über Kollegen und deren Werke von sich zu geben — aber Witz und Bissigkeit, aus der momentanen Stimmung geboren, zersprangen wie schillernde Seifenblasen, ohne Schaden anzurichten. Man verstand die überspitzten Formulierungen und nahm sie, ihrer selbst willen, als das, was sie waren: als in dem Augenblick geborene und im nächsten Augenblick wieder vergessene Einfälle. Wenn aber heute solche, eher harmlose, Kaffeehausgespräche — etwa aus Erwerbsgründen — ihren gegebenen Standort verlassen, in Blättchen und Blättern gedruckt erscheinen oder gar im Rundfunk verbreitet werden, so verlieren diese leichthin gesprochenen Apercus ihren ursprünglichen Charakter und werden gefährlich. Aus schillernden Seifenblasen sind dann plötzlich mit Haß und Galle gefüllte Stinkbomben geworden. Scherzhafte Bemerkungen unter Gleichgesinnten und Freunden gemacht, werden nun von unkontrollierbarer Masse Mensch gehört und nicht ungern gehört, da alles Gehässige, Verurteilende und Beschimpfende immer Beifall zu finden vermag bei den vielen innerlich Unzufriedenen!. Von Menschen, die doch fast alle unerfahren sind im Gebrauch des Jargons literarisch-künstlerischer Stammtische. Der harmlose Witze- reißer aus dem Kaffeehaus wird nun zum Hofnarren einer namenlosen Menge, zur Belustigung bezahlt von irgendwelcher Zeitschrift oder irgendwelchem Sender. Und nun hört der Mann von der Straße diese bissigen Scherze und scherzhaften Gehässigkeiten und nimmt sie ernst. Und dann geschieht wirklich etwas: der Mann von der Straße wendet sich ab, weil ihm zu grausen beginnt vor dieser „Kunst“ ... Aber sehen wir von solchen Sonderfallen ab, so ist doch sehr oft ein hartes Urteil über einen Kollegen eben dem momentanen Gefühl entsprungen, unkontrolliert von der Vernunft und daher nicht so ernst zu nehmen.

Wichtiger aber mag ein anderer Umstand sein: die Vereinsamung des Künstlers wird immer größer. Hatte jeder dieser Maler, Bildhauer, Dichter und Komponisten ehedem einen treuen, verläßlichen mehr oder weniger großen Kreis von Freunden um sich, die ihm, in den Stunden der Verlassenheit die sich bis zur Verzweiflung steigern kann! Halt gewährten und mit ihrer Teilnahme seiner Arbeit wieder Sinn zu geben vermochten, so schwindet heute beängstigend die Zahl der echten Kunst freunde. Neben dieser Vereinsamung, über deren Gründe noch manches zu sagen wäre, ist auch die geistige Situation des modernen Künstlers eine viel gefährlichere als etwa in Zeiten, die eine solche Problematik des künstlerischen Schaffens nicht kannten und ein traditionsgebundener Kanon dem Künstler zumindest eine gewisse „handwerkliche“ Sicherheit gewährleistete und damit auch ein leichteres Verstandenwerden. Heute, bedrängt von der Fragwürdigkeit seiner Existenz und allen den Schwierigkeiten des Schöpferischen, bedarf der Künstler mehr denn je des verstehenden Freundes.

Man versuche bloß sich einmal diese Situation vorzustellen: ein Maler oder Dichter oder sonst ein Künstler, zermürbt und erschöpft von der Arbeit, die ja doch ein Wagnis ist, ein Sprung ins Ungewisse, ins Dunkle, steht vor seinem Werk und muß erkennen, wie wenig es der Vorstellung gleichkommt, die er sich davon gemacht hatte. Er fühlt, daß aller Kampf vergebens war, vergebens alles Ringen nach dem reinen und klaren Ausdruck, der echten, den Mitteln der Kunst entsprechenden Aussage. In solchen Augenblicken hilft auch nicht ein der Person des Künstlers Nahestehender, da muß der das Werk des Künstlers Verstehende vorhanden sein, der Freund der Kunst In solchen Augenblicken, in denen es vorkommen kann, daß plötzlich alles bisher Geschaffene dem Künstler falsch, unwahr und vernichtungswürdig erscheint und er der Verzweiflung nahe, sich selbst auslöschen möchte — bleibt er allein. Und er weiß:’ Kein Widerhall, der ihn bejaht, kein Verständnis, das ihn zurückholt aus den Abgründen der Entmutigung. Keine Freundesstimme, die ihn versteht.

Da kann es leicht geschehen, daß der Vereinsamte, dem Ertrinkenden gleich, sich zu retten versucht durch die radikale Umwandlung überstrenger Selbstkritik in übertriebenes Selbstlob, ein künstlich gesteigertes Selbstbewußtsein — um nicht ins Dunkel der Bewußtlosigkeit zu versinken. Jede Selbstüberheblichkeit kann aber nur auf Kosten des anderen gehen, also ist der aus solcher Not sich Rettende überstreng in der Beurteilung seiner Kollegen.

Auch der Künstler ist ein Mensch — durch die Gnade seiner Begabung herausgehoben aus der Menge der „Leute“. Von den Qualen der Arbeit ausgeschöpft und ausgehöhlt, verfällt er leichter der Verbitterung, wenn rund um ihn die Freunde verstummen und verlegen wegsehen von dem Werk, das ihm, der es geschaffen, natürlich wichtiger erscheint als alles andere in der Welt.

Also: nicht allzu ernst zu nehmende und oft allzu leichthin ausgesprochene Urteile, die mißverstanden zu neuen Mißverständnissen Anlaß geben — die böse Kettenreaktion der Mißverständnisse —, mögen den Anschein erwecken, als wäre jeder Künstler des anderen Künstlers Feind. Ebenso kann das Wagnis des schöpferischen Menschen mit seinen hier nur kurz und unzulänglich angedeuteten Begleit- und Nacherscheinungen, bei zu oberflächlicher Betrachtung ein Zerrbild des selbstüberheblichen Künstlers erscheinen lassen.

Aber noch ein Drittes wäre wohl zu bedenken: Hat unsere Zeit, diese Zeit der Unordnung, des Werdens einer Gesellschaft, diese Zeit zwischen Verwesung und Geburt, hat diese Zeit nicht überhaupt das Maß verloren? Die Maßlosigkeit, auch im Urteil, auch in der Selbstunter- oder Ueberschätzung, ist sie nicht überall vorhanden in der Welt? Bei denen, die sich Staatsmänner nennen oder Wirtschaftsführer, bei allen, die in ihren Mitmenschen nur ein Mittel zum Zweck sehen oder nur den gefährlichen Konkurrenten, den man vernichten muß, um selbst zu gewinnen? In einer Zeit, in der das Tempo des Werdens und Vergehens überschnell wurde und atemberaubend — ist in einer solchen Zeit nicht der große Suchende und Deutende, der Künstler, mehr als jeder andere bedrängt von der Unordnung um ihn? Einer Unordnung, die ihn ausschließt oder ausbeutet sobald er gehorsam Befehlen gehorcht, die nicht aus Bereichen der Kunst kommen. Eine Unordnung, der in seinem Werk Herr zu werden und sie wieder umzuformen in Ordnung, sein Bemühen ist, will man in einer solchen Zeit sich vorschnell und enttäuscht von der Kunst abwenden, weil die Künstler gegen Künstler zu stehen scheinen? Oder wäre es nicht eher angezeigt, durch das Kunstwerk dem Künstler und durch den guten Willen, den Künstler zu verstehen, seinem Werk näherzukommen?

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung