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Kunst und Gesellschaft

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Dem kulturphilosophischen Beobachter der Gegenwart kann eine frappierende Tatsache nicht verborgen bleiben: der moderne Mensch hat zur Kunst seiner Zeit und vielleicht zur Kunst überhaupt ein äußerst distanziertes Verhältnis oder auch gar keines. Wahre Kunstenthusiasten sind selten geworden. Aber selbst der einigermaßen künstlerisch interessierte Durchschnittsbeschauer ist vor einem, sagen wir, surrealistischen Bilde nicht weniger hilflos als der normale Konzertbesucher beim Anhören atonaler Musik. Die heutige Kunst geht ihre eigenen Wege und wird darum nicht mehr verstanden. Die weitere Folge ist Kunstfremdheit und Gleichgültigkeit. Diese Diskrepanz zwischen moderner Kunst und Publikum besteht aber nicht nur in der westlichen Hemisphäre, sie scheint auch für Rußland zu gelten, wo die „Moderne" von Staats wegen zur Gemeinverständlichkeit und Faßlichkeit zurückgerufen wurde. Am wenigsten trifft sie für die Dichtkunst zu, die allein durch das Wort schon leichter verstanden wird.

Nun hat es aber Zeiten gegeben, in denen die Kunst einen integrierenden Bestandteil des kulturellen Lebens gebildet hat, jeweils ein Publikum und schaffende Künstler zueinander gefunden halben. Warum ist das heute anders?

Vielleicht vermag ein soziologischer Gesichtspunkt die Lösung des Problems näherbringen. Die Künstler haben kein Publikum, weil die alten, kulturell tragfähigen Schichten nicht mehr und neue noch nicht da sind. Die früher führenden Kreise, für welche als Auftraggeber Künstler geschaffen haben, sind der soziologischen Umwandlung, die mit der großen Französische Revolution begann und seit dem ersten Weltkrieg ein rasendes Tempo erreicht bat, zum Opfer gefallen.

Der Gedanke liegt unserer so sozial empfindenden Zeit nahe, durch „Kunsterziehung“ der früher an der Kultur nicht unmittelbar beteiligten Klassen der Bevölkerung, die aber inzwischen zu überragender politischer Bedeutung gelangt sind, die Künstler und mit ihnen die Kunst wieder populär zu machen. Sosehr aber eine Kunsterziehung breitester Kreise zu wünschen ist, die Kunstkrise wäre dadurch noch nicht beseitigt. Denn bestenfalls würde dadurch ein passives, aufnehmendes Publikum gewonnen. Fraglich bleibt die Rückwirkung auf den schaffenden Künstler und dessen Verständnis. Denn das wahrhaft große Kunstwerk wird begreiflicherweise immer den Horizont der Mehrheit übersteigen, welche die mittlere Linie bevorzugt.

Wir haben die Erfahrung gemacht, daß Allgemeinverständlichkeit leicht zur Banalität und Mittelmäßigkeit führt, die dann gerne, um die Existenz einer großen Kunst vorzutäuschen —- nicht ohne den Hintergedanken der politischen Nützlichkeit der „Kulturpropaganda“ —, künstlich überhöht wird. Kunsterziehung und Kunstlenkung durch die Staatsgewalt garantieren noch lange nicht eine Vertiefung des künstlerischen Verständnisses auf der einen und erhöhte Schaffenkraft auf der anderen Seite, denn sie müsse ja logischer weise auf die Aufnahmefähigkeit der Mittleren und Kleinen, auch der Kulturbanausen, im Auge behalten. Ein drastisches Beispiel war die Kunst des Dritten Reiches. Es wollte eine Kunst für alle Volksgenossen und hatte sie zuletzt in der Malerei in der großformatigen Ansichtskarte, in der Architektur in einem sterilen und zugleich aufgeblasenen Epigonentum. In der Plastik war der künstlerische Weg Arno Brekers von einer erschreckenden Tragik, Ein begabter, an Rodin geschulter Bildhauer, der in seinen Frühwerken eine stark persönliche Note hatte, wurde durch eine Überfülle von Aufträgen, die ihm eine wesensfremde

Formensprache aufzwangen, zu einem leeren Statuenfabrikanten. Der Strick der Lenkung durch ein autoritäres Regime hat den Künstler Broker erdrosselt. Die Kunst des Dritten Reiches blieb in Nachahmung, Propaganda oder kleinbürgerlichem Ungeschmack stecken. Mit Grauen erinnert man sich der diversen Füherbilder mit Hund, Kanone, aufgehender Sonne usw. oder des berüchtigten Bildes des Potsdamer Tages, auf dem allerdings zur Freude des Spießers jeder Teilnehmer wie auf einer Vereinsphotographie erkennbar war.

Autoritär gelenkte Kunst hat propagandistischen Charakter, eine dem Wesen der Kunst entgegengesetzte Bestimmung, und sie bleibt in ihrer Formensprache historisierend, konventionell-mittelmäßig. Sie findet leicht eip Publikum, das, wenn möglich ebenso autoritär, zu ihr geführt wird, weil sie an das Fassungsvermögen geringe Anforderungen stellt. In diesem Falle reißt nicht die Kunst den Empfangenden zu sich hinauf, sondern sie kommt ihm entgegen — allerdings mit einem Niveauverlust.

Das häufige Fehlen individueller Auftraggeber hat aber eine bedauerliche Rückwirkung auf die Künstler selbst. Denn jetzt erst können sie extrem subjektivistisch werden, schaffen, was und wie sie wollen, weil sie keine Rücksichten auf den gesellschaftlich bedingten Geschmack eines Auftraggebers zu nehmen brauchen. Wenn ein Maler zum Beispiel von vornherein weiß, daß das von ihm gemalte Bild in seinem Atelier verbleibt, wenn er den Raum nicht kennt, in dem es einmal nach einem etwaigen Verkauf hängen soll, fallen alle Beschränkungen, die formschaffend sind, weg. Auftrag und Aufgabe sind nur in der Begrenzung möglich und zwingen den Künstler zu einer bestimmten Formgebung. An diesem Zwange vermag sich das Genie des Schaffenden zu entzünden, wie das auf dem Gebiete der neuesten Musik bei Strawinsky und Hindemith nach ihren eigenen Aussagen der Fall ist. Beide Komponisten pflegten nicht ohne Auftrag zu arbeiten, gewannen ihre musikalische Form und Ausdruckskraft im Ringen mit dem Auftrage, das heißt der Aufgabe. Der für ich allein schaffende Künstler verliert den Zusammenhang mit den anderen Künsten und letztlich auch mit der Öffentlichkeit. Der Plastiker und der Maler sind innerhalb ihrer Kunst souverän geworden — aber auch einsam. Es gibt kein Gesamtkunstwerk mehr, wie es früher die Kirche, das Schloß oder das Bürgerhaus noch bis in das 18. Jahrhundert gewesen war. Unter den modernen Künsten gilt die subjektivistische Zurückgezogenheit des schaffenden Künstlers auf das Ich noch am wenigsten für die durch das Material, die Zwecksetzung und die Wünsche des Auftraggebers gebundene Architektur.

Es wäre übrigen falsch, zu glauben, daß in der Vergangenheit die großen Künstler immer erkannt und voll gewürdigt worden wären, ein ideales, aufnahmeberoites Publikum gehabt hätten. Auch Michelangelo, Rembrandt, Beethoven sind nicht allgemein verstanden worden. Aber ihr künstlerisches Wollen wurde wenigstens von einer Elite erfaßt oder geahnt. Die „Nachtwache" Rembrandts hat bei den Bestellern Ärgernis erregt. Papst Hadrian V. wollte die Blößen der Körper auf dem Jüngsten Gericht Michelangelos übermäten lassen, und auch Beethoven stieß im Wien Franz’ I. auf mangelndes Verständnis, wenn auch nicht in dem Maße, wie es Romain Rolland in seiner Beethoven-Biographie schildert. Aber das Glück dieser Künstler war es, trotzdem Gönner und Auftraggeber zu finden, Michelangelo einen Papst Julius I., Beethoven einen Erzherzog Rudolf, Bischof von Olmütz und andere.

Das Mäzenatentum ist heute so gut wie tot. Der Staat will oder kann noch nicht dessen Rolle übernehmen. Das Ergebnis wäre auch fraglich — man stelle sich eine Beamtenjury als künstlerisch entscheidend vor!

Daß der schaffende Künstler Neues will, aus der Tradition herausstrebt, bedarf keiner Rechtfertigung. Man kann nicht immer Porträts wie Velasquez malen oder wie Beethoven komponieren. Andererseits ist es ebenso selbstverständlich, daß das anonym gewordene Publikum einem Künstler auf seinen Wegen, die auch Irrwege sein können, nicht zu folgen vermag, weil sein Fassungsvermögen nicht ausreicht, der Künstler auf dieses keine Rücksicht mehr nimmt und —

die Grenzen seiner Kunst nicht einhält. Ein Maler wendet sich in erster Linie an das Auge mit den Ausdrucksmitteln der sichtbaren Welt. Er kann nicht philosophische Aussagen machen, die des Wortes bedürfen. Ein Bild, das erst eine lange Erklärung seiner Formenwelt verlangt, hat seinen Sinn verfehlt, ebenso eine Komposition, die etwas mitteilen will, was jenseits des musikalisch Sagbaren liegt.

Die Erklärung für den Verlust der Brücke zwischen schaffendem Künstler und Publikum ist neben geistigen Gegebenheiten vor allem also in soziologischen zu suchen. Der modernen Kunst fehlt die mäßigende Kontrolle des Auftraggebers aus einer kultivierten Gesellschaftsschicht, die durch Tradition oder Konvention hemmend und ausgleichend den Künstler mitbestimmt. Auch die Dichter der tragedie classique im Zeitalter Ludwigs XIV., Goethe in Weimar konnten nicht sagen, was sie wollten, die Gesellschaft ihrer Zeit hat regulierend auf sie eingewirkt, sie drückte, allerdings auf einer höheren Ebene, das Denken und Fühlen der führenden Schichten aus.

Dem früher vorhandenen engen menschlichen Kontakt der Wechselwirkung zwischen Künstler und Publikum haben wir heute nur die Kunstplanung und die anonyme Organisation' entgegenzusetzen (Theatergemeinde usw.).

Darum haben wir heute eine Kunstkrise, ein Künstlerelend, und es vermag die Frage nach der Zukunft der Kunst nur mit Bangen gestellt zu werden.

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