6688639-1962_28_05.jpg
Digital In Arbeit

Kurssturz in Sauerkraut

Werbung
Werbung
Werbung

„Sauerkraut“ verheißt zwar noch das Schild an dem Kiosk der Frau Rosa W. auf dem Karmelitermarkt, Sauerkraut ist aber längst nicht mehr der gängige Posten im Sortiment an Eingelegtem, Eingesäuertem und Konserviertem, es steht auch preislich niedrig im Kurs. Es ist schon einige Jahre her, als eines Tages die kleine Batterie roter Flaschen im Schaufenster leuchtete. „Das ist fein, daß Sie jetzt auch Tomaten-Ketchup führen, Frau Rosa“, meinte jemand. Frau Rosa zuckte mit den Schultern, und es schien, als bedauerte sie diesen Einbruch modernen Lebens in ihr alteingeführtes Geschäft: „Was wollen S' — die Leut verlangen das heut...“

Frau Rosa, die als Kind noch die Burgmusik aufziehen sah, mochte die neue Zeit nicht ganz verstehen, aber sie paßte sich der Entwicklung an. Neben den Ketchup-Haschen - drei Sorten — machen grüne Cornichons. weiße Perlzwiebelchen und in Essig eingelegte gelbe Maiskolben die Wahl zwischen all den pikanten Dingen schwer. Oliven bekommt man gefüllt mit Mandeln oder Haselnüssen und, eine besondere Delikatesse, mit Sardellen. Der Senf ist nicht mehr nur einfach Senf aus dem großen Tiegel, sondern die Hausfrauen wählen bedächtig zwischen Englischem Spezial-senf, Club-Senf oder Kremser Senf.

Und für den Nachtisch bieten sich, mit Etiketten bunt wie aus Filmen in Technicolor, Ananas aus Hawaii an, Pfirsiche aus Kalifornien und Kompott aus Südafrika. Rechts hinten in der Ecke steht noch das Krautfaß.

Doch das liebe Kraut ist schon lange nicht mehr wichtiger Bestandteil des winterlichen Speisezettels. Das heißt, es wird noch (und wieder) gekauft: von Frauen, die schlank bleiben oder wieder schlank werden wollen. Und häufiger noch als von anderen — freilich auch seltener als früher - von Müttern kinderreicher Familien, die Vitaminspender nicht immer nach dem Geschmack, sondern auch nach dem Inhalt des Geldbeutels wählen müssen.

Was unsere Märkte und Läden, was das Bild unserer Straßen, was die überfüllten Urlauberzüge und die steigenden Umsätze an langlebigen Konsumgütern zeigen, bestätigen die nüchternen Zahlen der Statistik, erweist auch der Vergleich mit früheren Erhebungen: Es geht uns gut, es geht uns, so scheint es, sogar besser als je zuvor, eine Feststellung freilich, die in einer Zeit der Konjunktur nach fast fünf Jahrzehnten Kriegs- und Krisenzeiten nur eine selbstverständliche Entwicklung wiedergibt. „Sowohl die mengenmäßige Zusammensetzung des Nah-rungsmittelvcrbraucb.es“, formulieren die Statistiker der Arbeiterkammer, „als auch die Struktur der Verbrauchsausgaben haben sich seit 1951 in Richtung auf ein höheres Wohlstandsniveau verschoben.“

Weil das Essen (und in unserer zunehmend außengeleiteten Gesellschaft weniger die Menge als die Möglichkeit, durch die Auswahl der Lebensmittel den anderen und sich selbst differenzierten Geschmack zu zeigen) seit eli und je der beste Gradmesser des Wohlstandes war, steht der Inhalt der Einkaufstasche an erster Stelle der Verbrauchsstatistik. Und was die Hausfrau heute vom Markt, „Greißler“ und Gemüsefrau nach Hause trägt, ist nicht mehr dasselbe wie noch vor zehn Jahren. Immer mehr, noch nach Einkommensgröße verschieden, in der Tendenz aber gleich bei allen Familien, lösen hochwertige Nahrungsmittel und Delikatessen die „einfache Hausmannskost“ von einst ab.

Gesunken ist seit 1952 der Verbrauch von Getreideerzeugnissen von durchschnittlich 135,1 auf 110 Kilogramm pro Jahr (die hier genannten Zahlen geben nicht den tatsächlichen ProVocfverbrauch der von der Statistik erfaßten Männer. Frauen und Kinder wieder, was das Gesamtbild Verfälschers- würde, sondern die auf VerVauchs-einheiten umgerechneten Werte; eine Verbrauchseinheit ist der Verbrauch eines erwachsenen Mannes). Der Verbrauch von Erdäpfeln verminderte sich von 64,8 Kilogramm am Jahre 1952 auf 52,3 Kilogramm im Jahre 1961, der Schmalzverbrauch von 5,3 auf 0,9 Kilogramm. Gestiegen sind im gleichen Zeitabschnitt der Butterverbrauch (von 4,9 auf 5,6 Kilogramm), der Konsum von Fleisch, Wurst und Geflügel (38,7 auf 48,9 Kilogramm), von Obst, Gemüse, hochwertigen Molkereiprodukten, anderen hochwertigen Lebensmitteln und verschiedenen Genußmitteln.

Besonders auffallend ist die Konsumsteigerung bei frischem Obst: 38,3 Kilogramm im Jahre 1952, 84 Kilogramm im vergangenen Jahr; bei frischem Gemüse (von 41,5 auf 52,6 Kilogramm), bei Eiern (144 auf 205 Stück), bei Schokolade (1,1 auf

3,6 Kilogramm) und Bohnenkaffee (0,5 auf 1,5 Kilogramm). Bemerkenswert ist daneben der Rückgang des Verbrauches an Frischmilch, der 1960 noch 175,5 Liter betrug, im Jahr darauf nur 168,2 Liter. Daraus einen Zusammenhang mit der Erhöhung des Milchpreises zu konstruieren, wie es die Statistiker der Arbeiterkammer taten, ist freilich vielleicht nicht ganz zutreffend, denn die Nachfrage nach hochwertigen Molkereiprodukten ist gleichzeitig trotz Freigabe der Preise gestiegen.

Als Randbemerkung sei in diesem Zusammenhang noch auf ein Ergebnis der Untersuchung hingewiesen, das ein weitverbreitetes Vorurteil widerlegt: Der Österreicher ist durchaus nicht, wie man ihm auch im eigenen Land gerne nachzusagen pflegt, „verfressen“. Gewiß erleben wir gerade jetzt eine Art „Bäckhendelzeit“ — Geflügel ist so billig wie nie zuvor —.aber der Fleisch- und Fettverbrauch ist in Österreich immer noch geringer als in anderen prosperierenden Ländern. Laut Ernährungsbilanz der FAO für 1960 betrug der Fleischverbrauch pro Kopf in Österreich 56,9 Kilogramm, in Frankreich 74, in Dänemark 73, in England 71, in der Bundesrepublik Deutschland 54, in den USA 94 Kilogramm. Auch hinsichtlich des Prokopfverbrauches von Alkoholika stehen wir — in Belgien etwa wird viel mehr Bier, in Frankreich mehr Wein getrunken als bei uns — hinter anderen Ländern zurück.

Daß die Arbeiterkammer als Durchschnittsverbrauch eines erwachsenen Mannes pro Jahr 19,6 Liter Bier, 7,5 Liter Wein und 1,3 Liter Spirituosen errechnete, dürfte freilich nicht ganz den tatsächlichen Werten entsprechen — hier drücken durch die Umrechnung in Verbrauchseinheiten offenbar die Ehefrauen, Kinder und Jugendlichen der erfaßten Familien den Durchschnittswert.

Ist schon das bessere Essen, der abwechslungsreichere Speisezettel allein ein Gradmesser des Wohlstandes, so noch mehr die Veränderung der Gesamtstruktur der Verbrauchsausgaben. Obwohl wir heute besser essen, geben wir für die Nahrung einen geringeren Teil dfs Gesamteinkommens aus. 1952 kostete die qualitativ weniger hochwertige Nahrung durchschnittlich 44,6 Prozent des Gehalts, Lohnes oder der Rente, 1961 nur noch 33,5 Prozent. Selbstverständlich ist dabei zu berücksichtigen, daß sich diese Durchschnittswerte aus verschieden hohen Einzelsätzen errechnen: Eine kinderreiche Familie (von der Arbeiterkam-mer werden fast ausschließlich Familien mit nuT einem Verdiener erfaßt), eine Arbeiterfamilie der niederen Einkommensklassen oder ein Rentnerehepaar wenden noch bis knapp mehr als 40 Prozent für Nahrungsmittel auf, jedenfalls aber auch etwas weniger als 1952. Die durchschnittlichen Angaben mögen bei den einzelnen Gruppen um einige Prozente nach oben oder unten differieren, geben aber die Tendenz der Entwicklung recht genau an.

Der Anteil der Ausgaben für Genußmittel ist seit 1952 etwa gleichgeblieben (Steigerung von 4,3 auf 4,5 Prozent des Einkommens). Gestiegen sind die Ausgaben für Bekleidung, Wäsche und Bettzeug (von 12,1 auf 14,5 Prozent), für Decken, Teppiche, Vorhänge und dergleichen (von 0,4 auf 1,3), Wohnungseinrichtung (von 4,5 auf 7,6), Wohnungszins (von 4,8 auf 5,5) und „sonstige Zwecke“ (von 22,9 auf 28,7 Prozent). Es eTweist sich somit, daß Einkommenssteigerungen vor allem für die Anschaffung langlebiger Konsumgüter sowie für Urlaub und Freizeit verwendet werden. Die Steigerung der Ausgaben für Miete führen die Statistiker auf die erhöhten Mieten in Neubauwohnungen (womit eine Qualitätssteigerung verbunden ist) zurück. Der im Vergleich zu anderen Ländern immer noch äußerst niedrige Prozentsatz des Wohnungsaufwandes läßt freilich auch ahnen, welche Erschütterungen eine zu abrupte Bereinigung des Mietenproblems auslösen würde.

11,3 Prozent der Verbrauchsausgaben dienten den drei „Wohlstandsindikatoren“: Urlaub und Erholung, Unterhaltung und Sport, Unterricht und Bildung. Wobei „Unterhaltung und Sport“ (hier verfließen die Grenzen; das Fußballmatch nennt sich Sportveranstaltung, zählt aber wohl — wie das Kino — zur Unterhaltung, daher war es berechtigt, diese beiden Begriffe in einer Gruppe zusammenzufassen) mit 5,58 Prozent weit vor „Unterricht und Bildung“ (nur 2,8 Prozent!) rangieren. Für Verkehr werden durchschnittlich 5,25 Prozent aufgewendet, dabei für eigene Fahrzeuge der größere Teil (3,09 Prozent). Von 100 Schilling, die ihm zur Verfügung stehen, gibt der Durchschnittsöster-reicher also nur 2,80 Schilling für Kultur aus (aus der Statistik ist nicht zu entnehmen, ob auch Kino und Illustrierte in diese Sparte fallen, doch will man das fast annehmen). Ein bedenkliches Faktum, das zu Schlußfolgerungen über den „geistigen Wohl-standsverfaU“ verleiten könnte!

Bei den langlebigen Konsumgütern und bei den eigentlichen „Wohlstandsindikatoren“ steigen — das ist nur allzu menschlich — die Wünsche meist stärker als das Einkommen, das sich eben nicht nach den Sirenentönen der Werbefachleute richtet, sondern nach den volkswirtschaftlichen Gegebenheiten. Eines Tages geht dann der Sinn für das Mögliche verloren. Wer will sich schon daran erinnern, was er sich vor zehn, zwölf Jahren alles nicht leisten konnte, weil er einen größeren Teil seines Einkommens als heute für bescheideneres Essen ausgeben mußte? Wer denkt noch an die Zwischenkriegszeit, da Auto, Kühlschrank oder Urlaubsreise an die Adria unerreichbare Träume waren? Wer drei Jahre in Jesolo war, will im vierten Jahr nach Mallorca! Werden wir eines Tages Demonstrationen für eine Senkung des Benzinpreises erleben? Die Nachricht über einen lokalen Streik mit dem Ziel einer Entschädigung für entgangene Spekulationsgewinne bei Aktien haben wir ja erst dieser Tage aus Kärnten vernommen ...

Das „Immer-Mehr“ ist eine menschliche Eigenschaft, und die Sozialpolitik hat mit ihr zu rechnen. Sie aber durch bewußte Propaganda zu fördern, um sie für die Erreichung machtpolitischer Ziele zu nutzen, ist nicht nur gefährlich, sondern ein schweres Vergehen an der Gesellschaft.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung