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KURZER BESUCH IN WEIMAR

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Erfurt verließ ich gegen Mittag. Ich hatte den ganzen Nachmittag und Abend Zeit, Weimar zu sehen. Jedenfalls mußte ich bis Mitternacht an der Grenze der „DDR“ sein, da mein Tagesvisum ablief. Wenig Zeit, wenn man vor hat, den Stätten Weimars zu begegnen, aber zugleich auch viel Zeit, zog man die politische Lage und die Schwierigkeiten, die vielen Menschen seit dem Kriege den Besuch dieser klassischen Kulturstätte erschwert oder vielleicht auch unmöglich gemacht haben, in Betracht.

Von Erfurt nach Weimar sind es 22 km. Erwartungsvoll und neugierig fuhr ich mutterseelenallein durch eine heitere, leicht gewellte Landschaft. Der Verlauf der Straße war anscheinend noch ganz der alte, denn es ging von Dorf zu Dorf und in den Dörfern mitten durch. Riesige Flächen links und rechts, sobald man aus den Siedlungen herauskam: Äcker, Wiesen, kleine dichte Waldflecken wechselten einander ab. Rechts, ganz weit gegen Süden, wurde das leichte Auf und Ab der Fläche lebhafter; dort begannen bewaldete Hügel, die dann in der Ferne den Horizont ausmachten — der Thüringer Wald.

Auch links waren Erhebungen zu sehen. Hier waren es aber nur einzelne Hügel, auf deren Hängen sich Buschwald bis nach oben zog. Auf einem dieser Hügel sah ich, kurz vor Weimar, einen riesigen, turmartigen Block. Über dessen Bedeutung sollte ich bald Näheres erfahren, denn als ich Weimar erreichte und wegen der Mittagszeit alles geschlossen vorfand, entschloß ich mich, einem Pfeil zu folgen, auf dem „Zum Nationaldenkmal Buchenwald“ zu lesen war; der Weg führte zu jenem Bauwerk.

bemerke links und rechts hinter Bäumen und Gebüsch Kasernen und russische Soldaten.

Nach etwa drei Kilometern war ich oben! Vor mir steht ein riesiger Turm, dessen viereckiges oberes Ende vergoldete, zum Himmel gerichtete Lanzen säumen. Im Erdgeschoß befindet sich ein Raum: beim Eintreten sieht man sofort in der Mitte eine große, bronzene Schale. In diese Schale sind, wahllos verstreut, mit bald größeren, bald kleineren Zügen die Namen der NS-Konzentrationslager eingeritzt. An den Wänden der düsteren Kammer hängen bronzene Lorbeerkränze. Riesige Treppen führen draußen ein Stück den Hügel hinunter. Unten sind im Boden drei Massengräber klar erkennbar.

Auf der anderen Seite des Ettersberges (so heißt die ganze Erhebung) ist das Lager. Man hat verschiedene Einrichtungen belassen, wie sie im Jahre 1945 vorgefunden wurden. So erhält der Besucher einen Einblick in das ehemalige Lagerleben: Wohnbaracken, Bunker, Krematorium, Genickschußanlage. Im Dokumentationsmuseum will man beweisen, daß derselbe Geist, der diese Stätte geschaffen hat, im heutigen Westdeutschland die Mächtigen beseelt.

Ich werde auch an die Nähe Weimars erinnert. Da gibt es einen photokopierten, stark vergrößerten Brief Die jüdische Kultusgemeinde der Stadt Wien fragt beim Bürger-: meister der Stadt Weimar an, warum die Übersendung der Asche des Herrn X trotz Überweisung der verlangten Summe Y vor sechs Monaten durch die Deutsche Bank an die Gemeinde Weimar bis heute noch nicht erfolgt ist…“

Endlich trete ich wieder ins Freie. Mein Blick fällt sofort auf die weitüberschaubare, große Landschaft unter mir. Alles ist friedvoll: die fernen Bergzüge, Wälder, ein Fluß, kleine Dörfer. Ich stehe, schaue und vergesse, daß ich mich mitten im Lager Buchenwald befinde. Ich kann es ja ver

In der Stadt fahre ich gleich zum Frauenplan. Es geht durch enge Straßen, über kleine Plätze. Einmal wäre ich beinahe falsch eingebogen; es gibt also auch hier Einbahnstraßen, Ampeln, Verkehrspolizisten.

Die Häuser sehen grau und vernachlässigt aus. Bei näherem Hinsehen erkennt man, daß die meisten eigentlich alte Patrizierhäuser sind und edle Bauformen aufweisen. Aber keines ist ordentlich renoviert.

Endlich komme ich zum Frauenplan. In einer Ecke, sofort erkennbar, die neoklassische Fassade des Goethe-Hauses. Als ich es gleich besuchen will, bekomme ich die Auskunft, daß alle Gedenkstätten Weimars an diesem Tage wegen des Geburtstages Goethes geschlossen seien. Tatsächlich, es ist der 28. August. Ich erkläre der Dame am Eingang, daß ich von weither komme und sehr enttäuscht sei. Die Dame sagt nun: „Heute abend ist hier ein Gartenfest für geladene Gäste. Kommen Sie um 18 Uhr, und ich werde sehen, was sich machen läßt.“

Zwei Stunden bleiben mir also noch für das übrige Weimar. Ich will gleich zum Gartenhäuschen Goethes gehen. Ein kleines Gäßchen führt mich zur Ilm hinunter. Dort steht das in leuchtenden Farben restaurierte kleine Palais der Frau von Stein. Etwa fünf Minuten wandere ich durch einen alten Park der Ilm entlang, dann sehe ich schon das Gartenhäuschen. Leider sind Haus und Garten abgesperrt.

Lange betrachte ich durch die Gitterstäbe der Gartentür das efeubewachsene Häuschen und den Terrassengarten mit dem berühmten Marmortischchen. Da klopft mir jemand auf die Schulter. Drei russische Soldaten und ein Mädchen bitten mich durch Zeichen um einen Schreibgegenstand. Die Gesten der Soldaten sind etwas unbeholfen, die Gesichter verlegen, aber freundlich. Sie tauschen mit dem offenbar deutschen Mädchen ihre Adressen aus.

Darauf will ich zum Friedhof. Auf der anderen Seite der Ilm komme ich am sinnenden Shakespeare vorbei. Im Friedhof führt eine Pappelallee zur Goethe-Schiller-Gruft. Das Mausoleum ist gesperrt. Ich finde noch die Gräber der Frau von Stein, der Familie Vulpius, Eckermanns.

Es ist bereits gegen sechs. Im Auto ziehe ich mich um, gehe wieder zum Frauenplan. Tatsächlich werde ich für vier Ostmark eingelassen. Das Haus Goethes ist festlich geschmückt. Überall sind Blumen, auf den Fensterbalken Kerzen.

gessen.

Auf dem Weg zurück nach Weimar sehe ich erst Schilder: „Fotografieren verboten, nicht die Straße verlassen!“ Ich

Ich gehe sofort in den Garten. Er ist ziemlich groß, wird auf zwei Seiten von einer hohen Mauer eingeschlossen. Die zwei anderen Seiten begrenzen das Haus Goethes und das neuerrichtete Goethe-Museum. Der Garten selbst ist nach französischer Art angelegt. Alles ist wohlgeordnet, wohlgepflegt. Überall im Boden Stecken Stangen, auf denen Kerzenleuchter angebracht sind.

Goethes Haus wurde im Krieg bombardiert. Auch dieses ist bestens hergerichtet, keine Spuren von Zerstörung sind zu sehen.

Langsam wird es dunkel. Die Kerzen im Garten werden entzündet. Das Publikum (es sind auffallend viel ältere Leute darunter) nimmt im Garten auf Stühlen Platz. Ein Sprecher, Präsident der lokalen Goethe-Gesellschaft, sagt ein paar Einleitungsworte und stellt einen Ehrengast vor: Major X, der Befehlshaber der sowjetischen Garnison Weimar. Ein Oktett spielt darauf Mozart, dazwischen spricht ein Schauspieler Goethe-Gedichte.

Nachher ist man frei, man kann nach Herzenswunsch im Haus und Garten herumgehen. Ich besichtige zuerst die Zimmer Goethes. Nach vorne, gegen den Frauenplan zu, sind seine Repräsentationsräume. Die besten Bilder des Dichters hängen an den Wänden, die schönsten Plastiken sind hier aufgestellt. Überall Bequemlichkeit, Wohlhabenheit, ja fast Luxus. An den Decken Kristalleuchter, an den Seiten stehen große Spiegel. Kleine Tischchen, Fauteuils und gepolsterte Stühle in Ecken laden zu geselligem Gespräch.

Welche Überraschung, welches Erlebnis aber — als ich zu den rückwärtigen Räumen, Goethes Privatzimmer, komme! Die kleinen Fenster gehen auf den Garten hinaus. Im Arbeitszimmer sind an den Wänden lange Schränke. Unten sind Schubladen und offene Fächer, oben Regale. In den Regalen stehen lange Reihen dicker, schwerer Bücher. Links vorne beim Fenster ist das bekannte Stehpult. Dieses hatte ich mir sehr schmal, etwa wie ein Musikpult, vorgestellt. Goethes Stehpult ist aber ungefähr 2,5 Meter breit, so daß man mit Bequemlichkeit beide Arme aufstützen, zudem noch daneben Bücher aufstellen kann. In der Mitte des Raumes steht ein einfacher Tisch mit vier gewöhnlichen Stühlen.

Rechts vom Arbeitszimmer ist der Bibliotheksraum, links das Schlafzimmer. In der Bibliothek reichen die Bücher bis an die Decke. Schmale Gänge zwischen den Regalen erlauben es, jedes Buch zu erreichen.

Das Schlafzimmer ist ein kleiner, fast viereckiger Raum. Die Wände sind in einem einfarbigen Hellgrün gestrichen. Die Decke ist weiß. Das Gestell des Bettes in einer Ecke ist so gewöhnlich, daß man es in jeder ärmlichen Behausung finden könnte. Der Lehnstuhl, in dem Goethe gestorben ist, steht gleich neben dem Bett. Er ist mit einem bescheidenen Tuch bezogen. Der kleine Bettvorleger ist ebenso von einfachster Art.

Sonst ist in dem Raum nicht mehr viel zu sehen. Ein kleines Tischchen, eine Glasphiole am Fenster, an der Wand eine geologisch-mineralogische Karte der Umgebung Weimars.

Der Glanz der vorderen Räume, die Bescheidenheit der Privaträume drücken echt Goethesche Lebensart aus. Die vorderen Räume waren für die Welt bestimmt, die Besuche wurden dort empfangen. Dort mußte man vorgeben, nach außen hin etwas darstellen. Hinten, in den eigenen Räumen, brauchte man diese Äußerlichkeiten, den Prunk nicht. Hier konnte man sein, wie man innerlich wirklich war: anspruchslos, nur dem Wesentlichen zugetan. Goethe veranschaulicht eine Lebensweisheit: Der Welt geben, was der Welt ist, sich selbst geben, was man selbst ist.

Vom alten Haus führt ein Gang zum neuen Trakt. Darin werden die reichen Sammlungen Goethes gezeigt. Alles ist gut sichtbar und klar geordnet. Man hat sich große Mühe gegeben. Lebhaft in Erinnerung geblieben sind mir die vielen Büsten und Bilder des Dichters aus den verschiedensten Lebensperioden. Man bekommt ein deutliches Bild des wachsenden und alternden Goethe. Weiters beeindruckt haben mich die naturwissenschaftlichen Sammlungen. Ich glaube, es gibt wohl kein Gerät der Zeit, keine Pflanze, kein Lebewesen, das er nicht gesammelt oder wenigstens studiert hat Man sieht Elektromaschinen, Räderwerke, ausgestopfte Vögel, Schlangen und Fische, Knochen, Farbenspektren, Prismen, astronomische Geräte, Mikroskope usw. Sogar das Modell einer Eisenbahn habe ich entdeckt.

Haften geblieben sind mir auch abgebildete und vergrößerte Briefe Goethes, die an gut sichtbaren Stellen gezeigt werden. Der Inhalt dieser Briefe sind Mahnungen des Ministers Goethe an seinen Fürsten, weniger Geld zu verschwenden, Brücken und Wege zu bauen. Aus diesen Briefen soll der Besucher offensichtlich erkennen, daß der Dichter sozial gesinnt, daß er ein Kämpfer gegen die absolutistische Willkür der Feudalherren war, daß er für das allgemeine Wohl gesorgt hat: also sei er durchaus in die Reihe der klassenkämpferischen Vorläufer zu stellen.

Ich gehe wieder zurück zur Gesellschaft. Sie hat sich in einem Raum, in dem ein Quartett klassische Kammermusik vorträgt, versammelt. Es fällt mir auf, wie ernst diese Menschen sind, wie aufmerksam und gesammelt sie auf die Musik lauschen. Keine Spur von großen Gesten und Allüren, von gesellschaftlicher Selbstgefälligkeit Sie scheinen alle sehr dankbar zu sein und nichts für selbstverständlich zu halten.

Für mich ist es nun höchste Zeit, Abschied zu nehmen. — Als ich auf den Frauenplan hinaustrat, lag dieser ruhig da, man hörte den alten Brunnen in der Mitte des Platzes. Auch die Straßen waren wie ausgestorben, die öffentliche Beleuchtung sehr dürftig. Kaum sah ich noch Licht in den Fenstern. Weimar schlief wirklich.

Bald war ich auf der Autobahn. Auch diese lag verlassen da, kein Auto war weit und breit zu sehen. Es war finsterste Nacht, die Strecke gerade und öde. Aber in meinem kleinen Gehäuse war es heimelig und warm. Meine Gedanken kehrten zurück zum Nachmittag. Immer wieder mußte ich mir die Frage stellen, wie das möglich war, Buchenwald und Weimar? Wie kann man Buchenwald sehen und an Weimar glauben? Was nützt eigentlich Weimar, wenn Buchenwald gleich daneben möglich war? Weimar lebte friedlich in der Nachbarschaft des Unmenschen!

Welchen Ausweg aus diesem Dilemma finden? Es ist doch eine unverzeihliche Vereinfachung, nichts anderes zu tun, als das eine einfach zu verdammen und das andere zu loben. Oder das eine zu sehen und das andere zu übersehen. Oder dem einen das Menschsein abzusprechen und beim anderen vom höchsten Menschen zu reden. Das genügt doch nicht, damit will man sich nur beruhigen, von sich abschieben, der wahren Problematik entfliehen und die Dinge oberflächlich zudecken!

Wir müssen unbarmherzig und tapfer die Linie von unserem Weimar zu Buchenwald und von Buchenwald zu uns heraufziehen. Dies ist uns vielleicht nur dann möglich, wenn wir in jedem von uns, im Menschen als solchen, ein Stück Weimar und ein Stück Buchenwald sehen. Beide Möglichkeiten sind uns allen gegeben. Leben heißt, sich täglich für das eine oder andere entscheiden, richtig leben: nur nach dem einen zu handeln.

Auf diese Weise könnte man vielleicht endgültig Buchenwald begreifen und Weimar retten.

15 Minuten vor Mitternacht kam ich zur Grenze.

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