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Das Erscheinen der „Kleinen polnischen Enzyklopädie“ war für Polen ein mit ungeduldiger Spannung erwartetes Ereignis. Die erste Auflage des etwa dem Volks-Brockhaus oder, noch eher, dem Kleinen Herder vergleichbaren Handbuchs des allgemeinen Wissens war, in der Höhe von 50.000 Exemplaren, noch vor der Ausgabe vergriffen. Der nachfolgenden, textlich unveränderten Auflage harrte ein gleiches Schicksal. Sie verschwanden im Eiltempo in den breiten Massen des bildungshungrigen Leserpublikums. Gegenwärtig dürfte die Zahl der in den wenigen Monaten seit der Vollendung des Lexikons abgesetzten Bände zweihunderttausend überschritten haben. Man darf also behaupten, daß die „Mala Encyklopedia Powszechna PWN“, maßgebend auf die' Meinung und auf den Wissensschatz der gesamten Öffentlichkeit ihres Landes einwirken wird. Da weckt es denn beim ausländischen Beobachter der polnischen Gegenwart besonderes Interesse, was vom Warschauer Staatsverlag als Quintessenz der allgemein zugänglichen Weisheit dargeboten wird und w i e das geschieht. Man kann daraus die gültigsten Schlüsse auf die geistige Situation Polens und auf dessen politisches Klima ziehen. Unser Bericht stellt sich nur das eben erwähnte Ziel; er will beileibe nicht eine Rezension sein, sondern gewissermaßen die Psychoanalyse eines für seine Urheber und für deren Umwelt repräsentativen Unternehmens.

Selbstverständlich trägt dieses Lexikon, unauslöschlich und unverkennbar eingeprägt, die Merkmale seiner Herkunft aus einem kommunistisch beherrschten Raum. Eine Anzahl Tabus verpflichten. Allein innerhalb der so abgesteckten Grenzen beschreitet man den eigenen, polnischen Weg. Darin sehen wir eine Nachwirkung des „Lenzes im Herbst“ von Anno 1956, den die Polen mit so viel Hoffnung begrüßt hatten. In jener Zeit, da sich der Geist nach der finsteren Nacht der Ära Stalin-Bierut wieder freie'r regen durfte, ist offenbar der Plan, das Gerüst der Enzyklopädie entworfen worden. Ob es wohl heute, dreieinhalb Jahre später, den gleichen'Jtcjttpel 'trüge? ;^e%& i?ibt^S.;.2eijftl; nis von einem seine eingeschränkten Möglichkeiten ausnützenden Marxismus ä la polonaise, der sich gar vorteilhaft von der sturen Engherzigkeit des dem Umfang nach und durch einzelne Teile imponierenden entsprechenden sowjetischen Monumentalwerkes abhebt.

Die naturwissenschaftlichen, technischen und mathematischen Themen sind mit musterhafter Knappheit und Klarheit erörtert. Keine Spur von einer, auch auf dieses Gebiet hineingetragenen unwissenschaftlichen Tendenz. Als Beispiel sei der Artikel über den im kommunistischen Bereich zum „reaktionären“ überholten Pseudo-wissenschafter degradierten Mendel genannt:

„berühmter tschechischer Biolog, Abt (sie! mit kirchlichen Dingen beharren die Mitarbeiter des Lexikons zumeist auf Kriegsfuß) des Augustinerklosters in Brünn. Durch Kreuzungsversuche an mehreren Bohnenabarten entdeckte er die Gesetzmäßigkeit im Auftreten erblicher Merkmale. Die Arbeit .Versuche über Pflanzen-Hybriden', 1866 veröffentlicht, wurde erst 1900 durch Correns, Tschermak und De Vries nach ihrem Wert gewürdigt (s. Mendelsche Gesetze). Mendelismus, Richtung genetischer Forschungen, die sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts kräftig entwickelte und die, gestützt auf die Mendel-schen Gesetze, sich mit der genetischen Analyse der Organismen befaßt“.

Die abscheulichsten idealistischen Philosophen, bei deren bloßer Nennung einen gelernten Materialisten Zorn befallen muß, werden ohne die verdienten abschätzigen Prädikate erwähnt, von Husserl zu Ingarden, ja von Maritain zu Solo;'ew und Berdiajew. Überhaupt, diese Auswahl der biographischen Schlagwörter! Da wimmelt es von Agrarfeudalen, Ausbeutern. Lakaien der Bourgeoisie, von Leuten, die, wenn sie schon in der Sowjetenzyklopädie ihren (Schand)platz haben, wenigstens durch den Zusatz „jaryj vrag soveckago naroda“ (erbitterter Feind des Sowjetvolkes) entsprechend gekennzeichnet sind, und von Unpersonen, die infolge ihrer verruchten Gesinnung kein künstlerisches oder dichterisches Talent, keine politische Bedeutung gehabt haben.

Es kommt aber noch ärger. In der UdSSR und in den Volksdemokratien werden Porträts nur von „fortschrittlichen“ Personen in die Lexika aufgenommen und das nach mehreren Graden: farbiges Bild, ganzseitiges Photo (meist jämmerliche) Schwarzreproduktion im Text. In diesem polnischen Volkslexikon erblicken wir die Köpfe Kaiser Franz Josephs, der Königin Viktoria, Ludwigs XIV., der Königin Elisabeth IL, Eisen-howers, MacMillans, Churchills, Richelieus, Metternichs, Disraelis, Fochs, Joffres, ja sogar Friedrichs des Großen, Bismarcks und Adenauers, dazu die so übel bei den Kommunisten angeschriebener einheimischer Politiker und Gelehrter, wie die des Fürsten Adam Czartoryski, des Markgrafen Wielopolski, Pilsudskis, Dmow-skis, Goluchowskis d. Ä., des ehemaligen Präsidenten der Republik, Moscicki.

Die katholischen Poeten und Schriftsteller, besonders Polens, Frankreichs und Englands, sind in recht glücklicher, repräsentativer Auswahl vertreten. Schlechter steht es um ihre deutschen Kollegen, von denen aus der Gegenwart und aus der jüngsten Vergangenheit einzig Heinrich Boll einen eigenen Artikel hat, während zum Beispiel Theodor Haecker, Gertrud von le Fort, Reinhold Schneider, die Langgässer und Bergengruen fehlen. Überhaupt sind die Deutsches und Katholisches betreffenden Teile der Enzyklopädie deren schwächste Seite. Hier machten sich nationale und politisch-kommunistische Voreingenommenheit, oder sagen wir besser, der Zwang, anbefohlene Thesen zu verfechten, aufs störendste bemerkbar.

Das polnische Volkslexikon vermeidet zwar so plumpe Methoden des Kampfes gegen die Religion, wie sie in der Großen Sowjetenzyklopädie üblich sind. Dort wird Gott einfach als „mifi-ciskaja lienost“, als „mythisches Wesen“, bezeichnet, hier ist er nur „terriblement absent“, ohn.ij. eigenes Schlagwort, Dort wJinLdie Gestalt. isjCJ ganzi iflf, Zwielj,eht de rVqlgär-materialis-mus des 19. Jahrhunderts getaucht. Hier steht:

„Christus... im Alten Testament durch die Propheten verheißener Befreier des jüdischen Volkes; im Neuen Testament Jesus als dem Gottmenschen beigelegter Titel des Erlösers, der den Menschen, gemäß der christlichen Lehre, von der Erbsünde befreite.“

Aggressiver verkündet der Artikel über „Katholische Kirche“:

„Im Mittelalter und in der Neuzeit hemmte

sie öfter die Entwicklung der Wissenschaft____

im 19. und 20. Jahrhundert tritt sie gegen die fortschrittlichen Gesellschaftsbewegungen auf (Enzyklika rerum novarum [sie!]).“

Dann aber lesen wir:

„Im Mittelalter spielte die K. K. Polens eine sehr wichtige kulturelle (Bildung, Literatur, Kunst, Sitte) und politische Rolle (Aufrechterhaltung der nationalen Einheit in der Zeit der Teilherzogtümer). Der Sieg der Gegenreformation und die Eroberung der Stellung einer herrschenden Religion durch die K. K. führte im 17. Jahrhundert zum Anwachsen des Fanatismus und des Aberglaubens (Vertreibung der Arianer, Hexenprozesse) und in der Folge zum Verfall von Bildung und Wissenschaft. Inmitten des allgemeinen, Marasmus wirkte jedoch ein Teil der Geistlich' keit während der Aufklärungsepoche mit bei der kulturellen Erneuerung und der sozialpolitischen Reformen. Im dreigeteilten Polen widersetzte sich im allgemeinen die Hierarchie den Aufständen, die häufig durch den volksverbundenen niederen Klerus unterstützt wurden ...In Volkspolen gibt es eine Verständigung zwischen der Regierung und dem Episkopat, von April 1930, ergänzt 1956, auf den Grundsätzen der Trennung von Kirche und Staat, der Religionsfreiheit, der Achtung der Gesetze und der staatlichen Behörden durch die Kirche.“

Aus diesem Artikel mag man die prinzipielle Haltung der Enzyklopädie in ihrer politischen Haltung gegenüber der Kirche ablesen.

Das alles sind aber, sei es drückende, Hypotheken auf einem.kostbaren, und wie die „Mala Encyklopedia“ hundertfach dartut, unzerstörtem Besitz nationalen und europäischen Erbes an Kultur, an Wissen und an gutem Geschmack, einer Aufgeschlossenheit und Sachkunde, die überall zutage traten, wo sie nicht ihren politisch bedingten Tribut an, nun ja.. . an die bestehenden Verhältnisse leisten müssen.

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