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Lächelt Stalin im Grab?

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Welch ein Schauspiel! Welch ein Akteur!

Die viertausend, die vierzigtausend, die achtzigtausend, die einhundertfünf' zigtausend Menschen drängen sich begeistert, ergriffen um den einen Mann. Arbeiter an der Ruhr; hamburgische Großkauflcute; Pommern, Sudetendeutsche und Bayern in München; Kinder und Jugendliche, Frauen und Männer aller deutschen Schichten jubeln ihm zu. Nie zuvor — es sei denn, daß wir im Angesicht des Jubels vor der Feldherrnhalle des schrecklichen Vereinfachers gedenken — hat sich ein so beglückendes Gefühl breiter Massen des deutschen Volkes bemächtigt: Wir sind nicht allein; wir sind nicht mehr allein! Wir besitzen einen starken und edlen Freund,, einen großen Mann unseres Vertrauens. Tausend Jahre deutsch-französische Feindschaft sind beendet..

Diese „tausend Jahre Feindschaft“ sind an sich ein Mythos. Die geschichtliche Wirklichkeit sah anders aus. In den triumphalen sechs Tagen de Gaulies wurde aber oft auf ihn Bezug genommen. Von deutscher und französischer Seit her.

De Gaulle selbst hat in der offenen Art, die diesem klügsten aller Um-schweiger seiner Fernziele eigen ist, seinen Deutschlandbesuch als ein historisches Ereignis angesprochen. Die Londoner „Times“ bestätigte bereits zuvor: „Der Besuch des französischen Staatspräsidenten de Gaulle in der Bundesrepublik ist ein Meilenstein in der Geschichte.“

Der Rang und das schwere Gewicht dieser außerordentlichen Demonstration stehen außer Frage. Alle Betroffenen — und wer in Europa, in Amerika und Rußland wird nicht betroffen durch die Aktion und Aktivität dieses außerordentlichen Franzosen? — wissen dies. Sehr zur Frage aber steht, welche Kettenreaktionen aus ihr hervorgehen werden. Abwegig erscheint es uns, in de Gaulies Deutschlandwoche nur den festen Willen eines zweiundsiebzigjährigen Generals und eines sechsundachtzigjährigen Zivilisten zu sehen, die eben vor einem Gewitter im hohen Herbst ihres Lebens noch letzte, reichste Ernte einbringen wollen. ^

Ein anderes ist bereits dies: Was werden die heute Sechzigjährigen, Vierzigjährigen, Zwanzigjährigen aus der französisch-deutschen Allianz machen? Die Männer der Politik und der Wirtschaft, die Militärs und jene Jugend, die de Gaulle im Hof des Schlosses Ludwigsburg so ansprach: „Sie alle beglückwünsche ich! Ich beglückwünsche Sie zunächst, jung zu sein. Man braucht ja nur die Flamme in Ihren Augen zu beobachten, die Kraft Ihrer Kundgebungen zu hören, bei einem jeden von Ihnen die persönliche Leidenschaftlichkeit und in Ihrer Gruppe den gemeinsamen Aufschwung mitzuerleben, um überzeugt zu sein, daß diese Begeisterung Sie zu den Meistern des Lebens und der Zukunft auserkoren hat.“

De Gaulle beglückwünscht diese Jugend, „Kinder des großen deutschen Volkes“ und eine Jugend zu sein in einem Augenblick, „in dem für die Menschheit ein neues Leben beginnt“. Symphonie Hoffnung: De Gaulle zeichnet in großen, starken Zügen das kommende Zeitalter, dessen Errungenschaften „für alle unsere Mitmenschen erschlossen werden“. „Somit soll den Milliarden der in den Entwicklungsländern Lebenden dazu verholten werden, Hunger, Not und Unwissenheit zu besiegen und ihre volle Menschenwürde zu erlangen.“

Diese Worte entstammen dem Feueratem des freiheitlichen französischen politischen Humanismus, der seit Jahrhunderten seine Funken in die Welt sprüht.

Gleich darauf aber malt der General vor dieser westdeutschen Jugend am Sonntagabend, den 9. September, im Ludwigsburger Schloßhof ein düsteres Bild, uns wohlbekannt in älteren und neueren Fassungen: die Gefahr, „Sklave“ zu werden in einem „Termitenhaufen“. „Darum geht es bei der großen Auseinandersetzung in der Welt, die sie in zwei getrennte Lager aufspaltet und die von den Völkern Deutschlands und Frankreichs er-r heischt, daß sie ihrem Ideal die Treue halten, es mit ihrer Politik unterstützen und es, gegebenenfalls, verteidigen und ihm kämpfend zum Sieg verhelfen.“

Deutsche, französische, amerikanische, englische Fachleute, Männer der politischen Wissenschaften, der Soziologie, der Wirtschaft, haben in den letzten Jahren in sehr sorgfältigen Untersuchungen das Problem behandelt, das die angesehene englische katholische Ökonomistin Barbara Ward so angesprochen hat: Heute streiten in der einen Welt nicht zwei Hemisphären, sondern mindestens ein Dutzend Revolutionen miteinander.

De Gaulle weiß aus eigenen Erfahrungen in Nahost und um Algerien recht gut um die Fülle der Weltkonflikte. Wenn er in seinen deutschen Reden in diesem September 1962 dermaßen vereinfacht, dann nicht nur. in sorgfältiger Rücksicht auf zeitgenössische deutsche Mentalität, sondern auch deshalb: De Gaulle ist fest entschlossen, Amerika und England mit allen ihm zur Verfügung stehenden Mitteln unter Druck zu setzen, um Frankreich zur militärisch fuhrenden Macht Westeuropas, in enger Allianz mit der Bundesrepublik Deutschland, zu machen. Seine Politik trägt einen Januskopf: sie trägt, etwa im schöpferischen Verzicht auf Algerien, Züge einer wahrhaft neuzeitlichen Politik des 20. Jahrhunderts (das ja nach Hiroshima beginnt), und sie trägt im Inneren (im Regieren mittels oft umstrittener Manipulationen) und nach außen Keime einer möglichen Reaktion.

In aufrichtigem Respekt vor der Persönlichkeit dieses Staatsmannes muß angesichts seiner Reden und seiner Erfolge in Deutschland von den Anrainern des großen Experiments, das da eben begonnen wurde, auch dies gesehen werden: Dieser Mann hat große Visionen, er spricht von einem Europa vom Ural bis zum Atlantik, er denkt aber weithin in militärischpolitischen Kategorien, die seiner eigenen Vergangenheit, seinen Erfahrungen in und um die beiden Weltkriege angehören. „Die Rüstung in ihrer Planung und Gestaltung verlangt heutzutage, um schlagkräftig zu sein — und wer wüßte dies besser als Sie —, daß wissenschaftliche, technische, industrielle und finanzielle Mittel und Fähigkeiten herangezogen werden, deren Grenzen jeden Tag weiter gespannt sind.“ Dies sagt de Gaulle in der Führungsakademie der Bundeswehr in Hamburg-Blankenese und fügt den Satz hinzu: „Frankreich und Deutschland können sich dieser Machtmittel um so eher vergewissern, wenn sich ihre europäischen Nachbarn mit deren Mitteln zu ihnen gesellen.“

Nun weiß natürlich de Gaulle: Die Regierung Kennedy hat ihm ihre Hilfe bei seiner Atomwaffe versagt, London, aber auch die Partner in der EWG und NATO sehen gespannt und besorgt auf die militärisch-politische Achse Paris-Bonn und fürchten deren geballtes wirtschaftliches Potential. In schöner Offenheit, hat ein angesehenes deutsches Blatt im Blick auf de Gaulies Besuch soeben erklärt, daß sich diese anderen Staaten eben nicht dem „Sog“ dieses Potentials entziehen werden können.

An eben dem Wochenende, an dem de Gaulle in der Bundesrepublik Deutschland seine hohen Triumphe feierte, erklärte in Washington der aus seinem Amt scheidende deutsche Botschafter Grewe, das Verhältnis der Bundesrepublik zu den USA sei gegenwärtig durch abweichende Auffassungen der beiden Regierungen - beeinträchtigt, die politischen Umstände hätten in letzter Zeit die Bemühungen um eine gemeinsame Linie des Westens erschwert.

Washington sieht nicht nur auf de Gaulles politische Aktivität und Programme mit einiger Sorge, sondern registriert die zunehmenden Auseinandersetzungen über den Gemeinsamen Markt in der amerikanischen Öffentlichkeit. „Das große Diskussionsthema für Amerikas Wirtschaft“ heißt: „Europamarkt — Partner oder Konkurrent der USA?“

Die Zahlungsbilanz der USA wies im Handel mit Europa 1961 ein Defizit von 1,9 Milliarden Dollar, also fast zwei Milliarden, auf.

An demselben Freitag, an dem de Gaulle in Hamburg sprach, und hier von Hamburgs Repräsentanten sehr nachdrücklich an Hamburgs weltwirtschaftliche Offenheit und — impli-cite — englische Traditionen erinnert wurde, erklärte in Washington der Leiter der Abteilung HarVdel und Finanzen im Außenministerium, Weiss, der Beitritt Großbritanniens zur EWG würde die passive US-Zahlungsbilanz entlasten und den Kapitalfluß aus Europa nach Übersee erheblich fördern.

Was gehen schließlich uns Österreicher de Gaulles Bemühungen an? Die amerikanischen Sorgen und Diskussionen sollten uns aufhorchen lassen, falls wir noch nicht genügend wach sind. Wenn das große Amerika, die erste Wirtschafts- und Kapitalsmacht der Welt, umfassende Vorbereitungen für die bevorstehenden wirtschaftlichen und politischen Auseinandersetzungen um und | mit dem „neuen Europa“ trifft, dann müssen wir „kleinen“ Österreicher bedeutende eigene Anstrengungen mächen, um nicht unter die Räder zu kommen.

Hart auf hart wird es zugehen. Zunächst in der Wirtschaft.

Lächelt Stalin in seinem Grab? Ein solches Bild erscheint uns unpassend und unangenehm; wenn' es heute dennoch von nichtkommunistischen westeuropäischen Beobachtern der internationalen Entwicklung vorgestellt wurde, dann in diesem sehr ernsten Bezug: Der schreckliche Georgier war geradezu besessen von der Idee: Die „kapitalistischen Mächte“ werden sich sehr bald wieder gegenseitig in die Haare geraten im Kampf um die Weltmärkte.

Wenn es nicht zu sehr weitsichtigen, großzügigen Planungen und Absprachen kommt, wird sich der bereits heute erbitterte und harte Konkurrenzkampf, in dem amerikanische, englische, japanische und westeuropäische Industrien miteinander stehen, in einer Weise verschärfen, daß nur noch ganz große Unternehmungen sich im Rennen halten können. Die politische Relevanz dieses Wirtschaftskampfes, in dem Giganten in die Kampfbahn treten, ist für kleinere und kleine Staatswirtschaften und Staaten von erheblicher Bedeutung. Um es ganz offen zu sagen: Was soll aus Österreichs Wirtschaft, Unabhängigkeit, Neutralität werden, in einer verplanten Welt, in der Wirtschaft, Politik, Rüstung (Rüstung, die Milliarden verschlingt und aufs engste mit der großen Industrie verknüpft ist) so eng verkoppelt werden, wie es in der Möglichkeit einer Achse Paris-Bonn liegt? Die Tatsache, daß man weder in Paris noch in Bonn das Wort „Achse“ verwenden möchte, unterstreicht nur die schwere Bedeutung der massiven Tatsachen. Man weiß, daß es in Paris, Bonn ebenso wie in London, Brüssel, Den Haag, Rom, Kopenhagen, Luxemburg, Oslo usw. politische und wirtschaftliche Kreise gibt, die das „neue Europa“ und seine wirtschaftlichen und politischen Verbindungen mit Amerika im Sinne einer durchaus föderalistischen, freiheitlichen Gemeinschaft freier Völker verstehen.

De Gaulle wünscht keinen Krieg. Sein Denken führt jedoch nicht übei^ den Krieg hinaus: über den Krieg als? ultima ratio, als Rüstungsaufgabe. Ebeä^ deshalb kreist er um seine WaffB Das ist de* tiefste Unterschied und' bildet die Kluft zwischen ihm und den“ Männern, die er anspricht, einerseits und den Männern um Kennedy und wohl auch um MacMillan: Diese jüngeren Angelsachsen, denen die beiden Alten in Paris und Bonn so mißtrauisch gegenüberstehen, sind nicht weniger „Realisten“, nicht weniger Patrioten als diese beiden Alteuropäer, die ein neu-altes Europa bauen wollen. Die Spitzenkräfte in der amerikanischen und englischen Gesellschaft gehören aber bereits einer anderen Zeit an: In sie gehört der Primat der „Gesellschaft“, der Bewältigung der wirtschaftlichen, politischen, zwischenmenschlichen und zwischenstaatlichen Beziehungen in der einen industriellen Großgesellschaft. Das ist eine bedeutende Akzentverschiebung! Es ist kein Zufall, daß (wie auch andernorts) in unserem Binneneuropa noch viele Menschen und Massen „Sicherheit“ bei charismatischen Männern und altneuen Waffen suchen. Eben hier verstehen sich de Gaulle, Adenauer und einige Massen so gut: Wenn der Primat dem Militärisch-Politischen gehört, geht es um „einfache“ Lösungen, „klare“, ja „leuchtende“ Ziele. Die Wirklichkeit ist jedoch viel komplizierter: Ein wirklich freies Europa kann sich nicht um eine militärischpolitische, recht autoritativ geführte französisch-deutsche Allianz gruppieren, sondern nur in vielfachen und vielfältigen Auseinandersetzungen um ein Frankreich und Deutschland, die beide „offen“ sind: im Inneren für eine gesunde demokratische Entwicklung und nach außen Amerika, England, den west- und mitteleuropäischen und dann' den osteuropäischen Partnern zu.

De Gaulles Septemberwoche in der Bundesrepublik Deutschland muß sich also erst weltgeschichtlich legitimieren: als einer jener von Volksiubel umrauschten Staatsbesuche, wie sie im Zeitalter der Allianzen, die zum ersten und zweiten Weltkrieg führten, in Paris, St. Petersburg, Berlin und Rom zeitüblich waren, oder als ein wirklicher Neubeginn: Einladung; in eine offene Welt, in der auch Österreich Platz hat und nicht nur „aufgehoben“ wird.

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