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LAND DER EINBEINER

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Stundenlang ging es noch, dann nicht mehr. Keinerlei Weg, nichts als Holperigkeit und Gestrüpp. Das Auto erstickt in Hustenanfällen, da renne ich es kurzweg in ein Dickicht und wate zu Fuß weiter. Durch ein hügeliges Allerlei, über Fußangeln aus Pflanzen und Wurzeln, über quabbeliges Erdreich, einmal buchstäblich an einer Tundra vorüber — tiefer und tiefer in die Undurchdringlichkeit, ins Unerklärliche. Ich halte das Unerklärliche für die Erklärung meines Wesens: trotzdem will ich das Dunkel klären, das über dem Sein oder Nichtsein der Einbeiner hängt, ich, Wladimir Munzik aus Lunsk, daß sowieso an der Grenze der Welt liegt. Ob ihr nun lacht oder ob ihr schaudert — ich glaube dem, was hartnäckig erzählt wird: daß jenseits der unermeßlichen Steppe die Einbeiner wohnen. Die Ymanto-peden, wie Solinus sie nennt, von denen Adam von Bremen berichtet. Nun muß ich aber, soll ich hernach den Kraftwagen wiederfinden, vorsorglich Zeichen stecken! Einen Spinnenleib haben, aus dem ich ständig einen Faden herausgebe, der die Verbindung zwischen mir und meiner Maschine aufrechterhält.

Er zieht in der Tat alle dreißig Schritt ein weißes Blatt aus sich, das er steinbeschwert niederlegt. Der Donnergeier holt mich, wenn es das Land der Einbeiner nicht gibt! Wenn ich das Ende der Möglichkeit betrete und totgewandert umkehren muß!

Als ich mich einmal vom Blattlegen hochrichte, ist eine Dunstwolke über mich gekommen, die mich in ihre leuchtende Finsternis mummt. Das fehlte gerade noch! Mit einer weißen Binde vor den Augen soll ich auf Entdeckung ausziehen? Nichtvorhandenes aus dem Nichts stöbern? Wie das noch ausgehen wird! Blind geht der Mensch in der Spirale, rund um sich selbst, bis er sich erreicht und an sich selber zerschellt.

Nun, Wladimir Munzik zerschellt nicht an sich selber, sondern gerät glücklich aus dem unerklärlichen Wladimir Munzik hinaus, gelangt aus der Wolke, die gottlob nur eine Wanderschwade war. Allein, wie hat sich die Landschaft geändert! Wie hat sie sozusagen einen gesitteten Stil angenommen, zeigt weniger Unebenheiten und Gebüsch! Ich sehe eine“ Reihe Punkte, diie beim Näherkommen zu Blöcken anwachsen, eine Grenze zu bilden scheinen. Die überschreitet Wladimir Munzik und wittert, daß er Menschen antreffen wird.

Eine grüne Breite dehnt sich vor ihm, aus der hier das Rechteck eines Feldes, dort der Zaun eines Gattens aufscheint. Statt der Wildbäume gibt es Obstbäume, inmitten ihrer, jetzt Häuser? Daß sie sich geraume Zeit seiner Sicht entzogen, ist zu verstehen: sie sind niedrig und ohne Stockwerk. Staunend lostrabend muß er feststellen, daß er eine Straße unter den Sohlen hat... Die ihn in eine Stadt führt, eine wie gestorbene Stadt... Eine nun Leben annehmende Stadt, ihr erster Atemzug ist ein Mensch, der aus einem der eingeschossigen Häuser tritt. Tritt? Nein, springt! Hat nur ein Bein! Sieht den Fremden nicht und tappelt n der gleichen Richtung wie er über die Straße — da gewahrt er ihn, den Zweibeiner! Hält betroffen inne, macht hüpfend kehrt, einverleibt sich hurtig wieder seiner Wohnung. Der Einbeiner flieht vor dem Zweibeiner!

Ein neues, diesmal doppeltes Tappeln, das sich aus einer Querstraße nähert, dringt an Wladimirs Ohr. Es sind zwei Männer, die sich je auf einem Bein voranbewegen, plötzlich haltmachen und mit schnellem Tapptapp in die nächste Haus-öffnuog verschwinden.

Wladimir Munzik befindet sich allen Ernstes in dem vielbesprochenen Lande der Einbeiner. Fenster krachen auf, Köpfe sehen aus ihnen, beklommene Gesichter. Ein vielstimmiges Klappern wird hörbar und sechs einbeinige Männer kommen um eine Straßenecke, die bedeppert stehen bleiben und den anormal bebeinten Fremdling anstarren, dann in eine unbändige Heiterkeit ausbrechen. Sie sind über den zweibeinigen Wladimir Munzik so belustigt, daß sie auf ihrem einen Bein um ihn herumspringen, zu je zweien einander umfassen und drei zweibeinige Einheiten herstellen, die Zweibeinigkeit des grotesken Ankömmlings nachäffend.

Wladimir entwindet sich ihnen mit leichter Mühe, seine Doppelbekiigkeit ausnutzend, und rettet sich in eine andere Gasse. Auch in ihr klaffen Fenster auf, aus denen es feixt und höhnt. Es belebt seine Schritte und drängt ihn erneut in eine andere Straße. Einen Handwerker sieht er, der in zwei Meter Höhe ein Fenster malt, als Einbeiniger keine Leiter verwenden kann und, Donnerwetter, das Pinseln im Springen bewältigt! Nun ist indes nicht jener Handwerker der Lächerliche, sondern der groteske Fremdling! Pfiffe und Pfuirufe die seiner ungewohnten Gestalt wegen ausgestoßen werden, geißeln ihn voran. Wie kann es Menschen mit zwei Beinen geben! Wie wenn jemand zwei Nasen hätte!

Fast laufend gelangt er in einen höher gelegenen Stadtteil, das fortschrittliche Viertel der Stadt. Eine breite Steigung führt zu ihm, die von fern wie eine schräge Ebene aussieht — in Wirklichkeit aber eine Treppe ist! Treppen hat er bei den

Einbednern bisher keine gesehen, was können Einbeiner mit Treppen anfangen! Hier ist nun eine, die nahezu keine ist, eher eine aufgerauhte Fläche, derart niedrig sind ihre Stufen. Zenti-meterhoch, wie aufeinandergelegte Bretter! Ein Ortsbewohner, der vor ihm hergeht, steigt sie hüpfend. Wladimir nimmt vier Stufen auf einmal und erregt die Lustigkeit zweier oben stehender Einbeiner. Das mißgezeugte zweiwüchsige Lebewesen, das Wladimir Munzik ist!

Er trifft in dem vornehmen Stadtteil endlich einmal eine Wohnung mit einem Stockwerk: es ist mittels einer Auffahrt, eines schief zum Giebel hinaufgebauten Weges, erreichbar. Voranschreitend sieht er den Straßengängern zu, wie sie sich vogelhaft springend mit Tipp und mit Tapp fortbewegen. Einzelne erleichtern sich das Gehen mit Hilfe eines Stockes und geben damit Wladiimar recht, über dessen zwei Beine sie hohnlächeln! In einer Haustür stehen zwei Jungen, die (wie Hunde beim Erblicken eines Fußgängers) förmlich bellen vor Lachen, als sie Wladimir zweibeinig dahertraben sehen. Die Einwohner von Tlimlo (so heißt die Stadt) laufen in wachsender Zahl zusammen und gruseln sich vor dem haarsträubend bebeinten Ankömmling, machen ihre Bemerkungen in einer Sprache über ihn, die Wladimir nur dem Tone nach versteht. Sie halten sich noch eine Zeit von ihm fern, sehen sich aber schließlich genötigt, einzugreifen. Drei hochgewachsene Einbeiner kommen auf Wladimir zugeklappert und einer von ihnen stellt ihn in Worten zur Rede, die er sich klangdeutend übersetzt:

„Wer sind Sie, fremdgestalteter Mensch?“

Er sagt: „Entschuldigt, ihr guten Andersgestalteten, daß ich die Ehre nicht habe, euch gleichgeartet zu sein! Unsereins braucht zwei Beine zum Gehen, ihr Privilegierten bloß eines. Nun möchte ich aufhören euch doppelt ein Dorn im Auge zu sein und bitte euch, mir den direktesten Weg nach Lunsk anzugeben.“

Sie verstehen nicht, runzeln spaßlos die Brauen und machen ihm ein Zeichen, ihnen zu folgen!

„Kein Zweifel, Tiltul, kein Zweifel. Er befindet sich in Schurzhaft und wird Männern vorgeführt, die mit ihm fertig weiden. Was meinst du nun zu dieser Zweibeinigkeit, Tiltul?“

„Stark, Pankpu, stark! Ist jedoch nur einer von Millionen. Fern, jenseits der weiten Steppe, gibt es ganze Länder mit Zweibeinern. Die Menschheit ist im Abstieg und braucht zwei Beine dazu. Entartung, Pankpu! Mein Ohm behauptet, auch unsere Urahnen seien einst Zweibeiner gewesen und wir hätten uns, im Gegensatz zu jenen, zu Einbeinern entwickelt..

„Möchte die Jahrtausende zählen, die sie zurück sind. Nähern sich den Vierbeinern. Meinen wohl: je mehr Füße, je mehr Grütze im Kopf. Gegenteil trifft zu: brauchen zwei, wo eins genügt. Schwerfällig abgestützte Menschenkadaver.“

„Klar, daß Zweibeinigkeit der Weg zur Tierheit ist. Auf wie niedriger Stufe befinden sich die Vierfüßler! Und erst die Sechsfüßler, die Insekten! Herumfliegende Nichtse! Und die Tausendfüßler, pfui Teufel! Das zweite Bein ist übrigens eine Krücke und das Gehen des Zweibeiners ein ewiges Wackeln.“

„Jedenfalls haben wir einen äußersten Grad der Entwicklung erreicht und sind als Einbeiner ganz nahe bei den Keinbeinern. Bei den Kugelmenschen, den Planetenmenschen. Die Kugel ist die Idealform eines Körpers, ist Welt, ist Stern.“

„Zur Eins gediehen, zur ungeteilten Wesenheit, wandeln wir über Gottes Erde.“

„Das eine ist das Feine, Entzweiung ist Zerbrechung...“

Während er draußen als Gegenstand des Ärgernisses durch die Münder der Bewohner Tlimlos geht, steht Wladimir Munzik drinnen im Rathaus auf zwei Beinen vor den Einbeinern, die ihn ins Verhör nehmen. Da ihm ihre Sprache unverständlich ist, müssen sie zur Weltsprache, zur Sprache der Zeichen und Zeichnung greifen. Der Pedell muß eine Tafel aufstellen, die rechts nach Süden, links nach Norden gekehrt ist. Ein Beamter kreidet an das südliche Ende (in der Richtung, aus der Wladimir nach Tlimlo gekommen ist) eine Art Stadt und läßt von Norden her einen Pfeil auf sie weisen, der unmißverständlich fragt, was für eine südländische Stadt seine Heimat sei. Ein Stadtvater sagt Wladimir etwas Urfremdes, streckt eine fragende Hand nach Süden und sieht möglichst fragend auf ihn.

Der Gefragte antwortet auf Zweibeinisch: „Ja, ich komme aus der dorthin gezeichneten Stadt, die Lunsk heißt.“ Zugleich geht er auf die Zeichnung zu und legt die linke Hand auf sie, während die rechte nach Süden zeigt und sein Kopf „ja, ja, ja“ macht.

Bei der zweiten Frage, die er wiederum auf Einbeinisch an Wladimir richtet, „Was suchen Sie hier in Tlimlo?“ deutet der Ratsherr auf die Häuser draußen und macht Fragegebärden mit Hand, Auge, Nase, Mund und Bein.

„Ich suche Kenntnisse, dichterisches Erleben, Bereicherung meines anthropologischen Wissens.“ Wladimir sagt es auf Zweibeinisch und mimt es, indem er für „Kenntnisse“ ein gescheites Gesicht macht, für „dichterisches Erleben“ ein schmachtendes. Für „anthropologisches Wissen“ betastet er sich selbst von oben bis unten, den Begriff „Mensch“ (anthropos) verkörpernd.

„Wie sind Sie zu dieser rückständigen, albernen und unmodischen Zweibeinigkeit gekommen?“ Der verhörende Stadtrat zeigt, während er es fragt, vorwurfsvoll auf die beiden Füße Wladimirs. Der Beamte kreidet derweil einen einbeinigen Mann an die Tafel, dann neben ihn einen Zweibeinigen, bei dessen Erscheinen ein krähendes Lachen durch den Saal schallt. Der Stadtrat grüßt das Bild des Einbeiners mit einem Nicken und richtet heftig fragende Augen auf Wladimir, klopft voller Rüge auf jedes seiner zwei Beine.

„Bei uns sind alle so. In jedem Land. Wir sind so geboren. Die Überbleibsel der vergangensten Vorzeit berichten, daß die Menschen von jeher so gewesen sind: zweibeinig, so wie sie zweihändig waren, zweiäugig, zweiohrig.“

Setze das in die Zeichensprache, Wladimir Munzik!

Er unternimmt es. Mit geradezu redseliger Geschäftigkeit zeigt er auf seine zwei Hände, seine zwei Augen, seine zwei Ohren. Um die femvergangenen Vorfahren zu bezeichnen, weist er mit dem rechten Zeigefinger in eine unwahrnehmbare Ferne, auf die er zugeht, bis er mit der Fingerspitze an eine Ecke des Saales tippt.

Der Beamte schüttelt schroff verneinend den Kopf, zeichnet einen Menschen, dessen Wirbelsäule er hervorsticht und blickt über die Schulter zu Wladimir mit einem Gesicht, das kündet: Nur eine einzige Wirbelsäule, he! Einen zweiten Mann malt er, dem er nur ein Herz gibt, nur einen Magen, nur einen Hals und Kopf, nur einen Mund, nur eine Nase und Stirn, auf jedes der bloß in Einzahl bestehenden Organe mit der Faust klopfend, und schaut sieghaft unter dem prasselnden Beifall der Versammlung auf Wladimir.

Die Stadtväter ziehen sich zur Beratung in einen Nebenraum zurück, während Wladimir mit dem Pedell und zwei Wächtern im Saale bleibt.

Einer der rathaltenden Väter sieht die einzig richtige Lösung des Falles darin, dem Mehrbeinigen das überzählige („hypertrophe“) Bein zu amputieren und ihn so zu zwingen, „zu gehen wie die andern“.

Der Vorschlag wird als logisch befunden, jedoch als zu blutrünstig abgelehnt.

Ein andrer fordert die bleibende Einsperrung des Zweibeiners. , Es ist für unsere Bevölkerung nicht gut, eine derartige Abnormität vor Augen zu haben, namentlich nicht für die Mütter, für die ihr Anblick störende Auswirkungen, ja monströse Folgen haben kann.“

Der Hinweis leuchtet ein. Alle sind sich einig, daß der Hergereiste als Mißgestalt anzusehen ist, als Scheusal fast, dessen Erscheinung bei Zartbesaiteten geradezu einen Schock hervorrufen kann! Es gehört sich, daß er „aus dem Verkehr gezogen wird“, aber das genügt nicht! Schon die bloße Aussicht, ihn in ihren Mauern zu wissen, auch wenn er unter Verschluß steht, wäre eine dauernde Beunruhigung der Bürger Tlimlos. Allem wird da am besten durch das eine Wort abgeholfen: Hinauswurf! Und sie beschließen einstimmig, den neulich aufgetauchten Zweibeiner über die Grenze zu schieben.

Wladimir Munzik hört den Spruch unter dem Geschrei und Getappe des Volkes, das sich draußen vor dem Rathaus zusammengerottet hat.

Ein Polizeikommando, gefolgt von einer Schar Einbeiner, führt Wladimir zu der Ausfallstraße, auf der er nach Tlimlo gekommen ist. Er erblickt die grenzebildenden Steinmale und tut, von nur zwei Polizisten begleitet, während das Gros des Polizeiaufgebotes mit der Menge haltmacht, die paar Schritte zur Grenze. Sich auf den Akt des Hinüberschubs gefaßt machend, sagt er sich, einen Entlassungstritt werde es immerhin nicht geben, zu einem solchen sind zwei Füße erforderlich!

So? Erinnerst du dich nicht des springend pinselnden Handwerkers?

Kurz bevor er zwischen zwei Grenzsteinen hindurchschreiten soll, springt der erste Polizist hoch und versetzt ihm schwebend einen Tritt. Im gleichen Augenblick trifft ihn ein doppelter des zweiten, der so blitzschnell operiert, daß er ihm in ein und demselben Sprung zwei Tritte verabfolgt.

Er fegt davon, dreifach beschwingt, und entzieht sich den Blicken durch Flucht ins nächste Gebüsch.

Wie er von dort zu seinem Kraftwagen und heim nach Lunsk finden wird, überlassen wir am besten ihm selbst.

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