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Landstreicher

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Hynko Giebisch hat einen schwächlichen und unvollkommenen Körper, und der leere Rucksack schwenkt daran herum wie ein Pendel an einer ruhelosen Uhr. Er sieht beim Gehen wie ein Kind aus, obwohl er so lange Beine hat.

Wir wandern seit heute früh dieselbe Richtung. Alles, was ich sage, läßt Hynko Giebisch unbeantwortet. Nur einmal flüsterte er nachdenklich: „Jetzt sind es schon bald fünf Jahre her...!“ Was er damit meinte, weiß ich nicht.

Sattessen ist beim Gehen ebenso wichtig wie ein Paar dichte Schuhe. Diesmal ist Hynko Giebisch an der Reihe, auch hat er mir die Geschicklichkeit voraus. Als wir durch ein Dorf kommen, meint er: „Warte irgendwo!“ und geht sogleich in ein Haus hinein, wo sicher gerade die Bäuerin emsig mit der Mahlzeit beschäftigt ist.

Am Ende des Dorfes warte ich und setze mich neben der Straße an den Rand einer Wiese. Sie ist farblos, und der Himmel darüber glänzt blau vor Kälte. Der Frost steigt aus dem trockenen Staub der Straße. Wenn der Wind“ fegt, nimmt er den Staub mit, der in den Augen beißt und widerwärtig schmeckt. Dazu machen die Telegraphenstangen ihr wehmütiges Gesusel und man muß an zu Hause denken.

Endlich kommt Hynko Giebisch. Er ist eilig. Sein Gesicht ist heiß geworden und hat einen verlegenen Ausdruck. Er bringt diesmal ein Scheibchen Speck mit. Eine

Seltenheit, „Wir müssen weiter“, sagt er und eilt in langen Sätzen vorwärts: „Hier dürfen wir nicht bleiben!“

Ich weiß nicht gleich, was er meint. Erst als wir ein paar Schritte weiter sind, fallen mir seine Worte auf und auch sein veränderter Rucksack. Der Rucksack ist kantig geworden, als wäre er plötzlich über ein Möbelstück gerutscht. Das ärgert mich gründlich, und ich beiße die Zähne zusammen. Ich kann es nicht glauben. Schließlich frage ich doch: „Hynko ... du, Hynko ...?“ Und ich zeige dabei auf seinen Rucksack.

„Das geht dich nichts an!“ gibt er schroff zur Antwort. Da zweifle ich nicht länger. Ich habe mich bitter in Hynko Giebisch getäuscht. Er ist natürlich ein Landstreicher, ein Dieb, der wahrscheinlich nicht einmal arbeiten will, sondern nur so tut. Ich bin recht ärgerlich auf ihn und fühle bei mir im stillen, daß idi ihn nur nach Verdienst behandeln werde, wenn ich an der nächsten Straßenkreuzung meine Richtung ändere und allein meines Weges gehe. Das kann aber noch kilometerweit dauern. Fehlt nur noch, daß sie uns bis dorthin erwischen. Nein, ich muß mich sofort von ihm trennen.

Als wir an einem Damm vorbeikommen, klage ich, daß meine Füße schmerzen und ich mich ausruhen wolle. Aber ich habe mich verrechnet. Er geht nicht weiter. Er packt seinen Rucksack ab und wartet. Während ich mir eine Zigarette drehe, beobachte ich ihn heimlich; ich möchte nur gern wissen, was er eigent-licrf gestohlen hat. Ich bin so gespannt, daß mein Herz stärker klopft.

Er faßt in den Rucksack hinein und bringt — eine halbe bunte Kiste zum Vorschein. Hält sie zwischen den Händen und ruft mir zu, als wenn nichts vorgefallen wäre: „Du, schau her... eine Puppenstube!“

Ich bin verblüfft. s

Ich erkenne wirklich eine Puppenstube, mit bunten Tapeten, sogar kleine Glas-fensterchen sind an der Seite.

Als sich meine Verblüffung löst, mache ich ihm in den heftigsten Worten, die ich finden kann, Vorwürfe: ob er sich nicht schäme, einem Kinde sein Spielzeug zu stehlen. Er antwortet nicht, sondern stellt die Puppenstube zu Boden und legt sich trotz der Kälte davor. Sogar kleine Stühle hat er und einen winzigen Tisch, ein Schränkchen und ein kleines Sofa. Auch Gardinen haben die Fenster, ganz kleine seidige Gardinen sind es, in grüner Farbe.

Hynko Giebisch's Ernst ist erstaunlich. Er streckt seinen struppigen Kopf in das Stübchen hinein und stellt die Stühle rund um den Tisch und den Schrank in die Ecke. Dann streicht er mit dem Zeigefinger über den weichen Samt des Sofas, verändert schließlich alles wieder vorsichtig und beginnt von neuem. Er streckt in.seinem Eifer sogar die Zunge aus, als wenn auch diese sich beteiligen wollte, und ist glücklich wie ein behaglicher Mensch — in einer guten Stube. Sogar die Landschaft scheint ringsum zu schlafen, als ob sie Hynko nicht stören wollte. Und jetzt erscheint auch mir alles so einfach und klar, kein Spiel, sondern harter, bitterer Ernst.

Ich schleiche, so vorsichtig ich kann, davon. Muß ich. Denn gestohlen hat er ja doch. Laufe atemlos über die Landstraße, die von zwei Reihen schlanker, kahler Pappeln umstanden ist, die sich im Winde wiegen und wie Pärchen aneinander schmiegen. Die Telegraphenstangen suseln wieder. Singen mit unsagbarer Traurigkeit, um so mehr, als man nicht weiß, warum. Es ist wohl die Traurigkeit der Verlassenheit, die nicht in den Tönen liegt, sondern in der Brust des Wanderers, der sie hört.

Ich sehe noch immer Hynko Giebisch vor der Puppenstube liegen. Sehe seinen struppigen Kopf vor mir, mit den glücklichen Augen, wie er auf dem Bauch liegt und die Zunge und die hageren, dünnen Finger nach den kleinen, weichen, behaglichen Stühichen ausstreckt... Weiß jetzt auch, was bei Hynko Gebisch bald fünf Jahre her' ist. Kann das aber keinen Grund nennen. Wo bliebe die Gesellschaftsordnung sonst, wenn man das schon Grund nennen wollte. Es gibt ja hunderttausende Hynkos in aller Welt, die schon länger in keiner Stube mehr waren und keine Heimat mehr haben. Denen man Platz und Arbeit verwehrt. Und doch liegt gerade darin die Ursache, daß der Landstreicher stiehlt. Auch andre Dinge als Puppenstuben.

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