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Langeweile

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Himmel, was ich mich schon gelangweilt habe! Ein Defekt, sicher, denn wer etwas will, langweilt sich nicht. Doch seien wir gerecht: sie, die Langeweile, ist jene Reibung, ohne die man nicht gehen könnte — jenes Schwachstromsignal, welches anzeigt, daß unser Kostbarstes, unsere Einmaligkeit des Lebens, beleidigt wurde — jene Göttin, die, stärker noch als Liebe und Tod, sich durch alles drängt — ach, vielleicht auch durch diesen Aufsatz! Ja, die Langeweile ist ein Unterpfand des Himmels. Denn sie ist die Karikatur der Ewigkeit.

Hunger und Liebe, das sind die sich selbst spannenden Triebfedern des Lebens. Erst beim Menschen gesellt sich ihnen als dritte, gewaltigste, die Langeweile. Sich langweilen und Mensch sein ist eins; wie hätte der Mensch auch sonst die Uhr erfinden können? Das Tier langweilt sich nicht (es kurzweilt sich bloß mitunter); das Tier weiß so wenig von der Zeit wie der Fisch vom Wasser — wir Menschen allein sind die fliegenden Fische, die ab und zu Luft schnappen! Erhaben legt der Hund seine Schuhputznase auf die Pfoten: „Man lebt!“ scheint sein zufriedener Seufzer als höchsten Wert zu verkünden. Oft haben wir Menschen darum die Tiere als Götter verehrt, denn auch beim Gotte ist Dasein bereits die höchste Tat. Selbst das geplagteste Tier käme nie auf den Gedanken, sich das Leben zu nehmen. Nur der Mensch, dieser geborene Selbstmörder, hält ständig seinen Protest „Man lebt nicht!“ vorrätig; er schmeckt noch in der kleinsten Langeweile den darin zuckenden Selbstmordbazillus heraus und ist allzu bereit, seinen Lebenshori-sont zu einer Revolvermündung einschrumpfen zu lassen... Doch nur selten drückt er ab. Meist flüchtet er ins Markensammeln.

Und diesen drei Triebfedern: Hunger, Liebe tmd Langeweile, entsprechen drei unmittelbar metaphysische Regungen unseres Körpers: Weinen, Lachen und Gähnen. Das Gähnen ist das große Symbol der Langeweile. Es wirkt ebenso ansteckend wie Lachen und Weinen. Zwar gähnt man auch vor Müdigkeit, wie man vom Gekitzeltwerden lacht oder von der Zwiebel weint. Aber unser eigentliches Gähnen ist von dem Tiere verschieden, ist geistig. Darum bekommen Hunde, wenn sie gähnen, einen menschlichen Ausdruck.

Wir langweilen uns, weil wir als einzige Lebewesen wissen, daß wir nur einmal leben. Unsere wohlgewachsene Lebenszeit wird peinlich befragt: Bleigewichte an den Füßen, die Hände oben zusammengebunden, wird sie gestreckt — gestreckt von der unerbittlich langsamen Spindeldrehung der Fadheit. Vielleicht schreit schon das Kind in der Wiege vor Langeweile. Immerhin, es hat Herkuleskräfte gegen die anschleichenden Schlangen, mit seinen Fäustchen würgt es die beiden Entartungstendenzen der Zeit: zugleich zu lang und zu kurz zu werden. Denn das Kind hat die geniale Kraft, zu spielen. So werden ihm die Sekunden kurz und ewig lang die Jahre; doch dem Alternden rollen die Sekunden immer langsamer vorüber und die Jahre immer schneller und schneller.

Die Langeweile tritt als endlose Gegenwart auf, welche sich wie ein Gletscher über die blühenden Phantasiezeiten Zukunft und Vergangenheit schiebt. Und das Wesen dieser Langeweile besteht in der Repetition, in jener Einerleiheit, die der größte Gegensatz zur Einheit ist. Repetition ist das, was die holde Einmaligkeit des Lebens zersetzt: der monströse sechste Finger an der Hand. Leben ist bezwungene Repetition! Ein Gebäude ist um so schöner, je regelmäßiger es ist — das heißt, je mehr bezwungene Repetition es enthält. O liebliche Wiederholung — der Melodie in einer Mozart-Sonate, der Säule am Parthenon, der Eltern im Kinde. „Auf Wiedersehen!“ — in diesem Worte ist Leben. Langeweile aber ist jene Tickrnckuhr, die sich als Herz aufspielen will. Mit jeder Raddrehung steigt die Anzahl der Repetitionen in der Welt. Unser moderner Kampf gegen sie kann die Repetition nicht mehr bezwingen, sondern bewirkt bloß jenen Zusammenprall, der Sensation heißt. Je mehr Repetition, um so heftiger der Zusammenprall: wie faszinierend wirkt die Oede des Kriminalromans, des Roulettespiels! Langeweile nimmt flas Leben unter die Zeitlupe, Sensation unter den Zeitraffer. Sensation ist die Kehrseite der Langeweile.

Langeweile ist die Voraussetzung aller menschlichsten Kräfte des Menschen. In jeder Langeweile steckt bereits ein Protest gegen den Tod. Sie ist das, was den Menschen zum Verbrechen, aber auch zum Schöpfertum aufreizt. Noch nie ist ein großes Werk ohne bezwungene Langeweile vollbracht worden! Aber wehe, wenn sie sich selbständig macht. Wie Millionen Blutkörperchen gegen Millionen Grippeerreger, so kämpft auch unser Geist ständig gegen die Bakterien der Langeweile, die unsichtbar, unfaßbar, überall zugegen sind. Ach, sie töten nicht durch Zerstörung, sondern gerade durch Fortbestehenlassen! Wir aber wollen sie vernichten und nehmen die Zeit als Sündenbock: „daß die Zeit vergeht“, „sich die Zeit vertreiben“, „die Zeit totschlagen“ — immer flößt uns schon das bloße Sichtbarwerden der Zeit Ekel ein, wie wenn in einem strotzenden Körper das Gerippe geröntgt wird. Aber die Langeweile ist viel mächtiger, als wir es wahrr haben wollen. „Die Langeweile als bestimmender Faktor in der Weltgeschichte“ — ein Buchtitel, warum nicht? Betrachtet man die Milliarden der Langeweile entsprossenen Handlungen des Alltags, so wäre es ja noch viel wunderbarer, wenn nicht ab und zu ein Krieg, eine Völkerwanderung, ein babylonischer Turm bloß aus dem Streben nach Abwechslung entstünde. „Mal was anderes...“ — wie konnte man nur diesen ungeheuren Hebel menschlichen Tuns übersehen? Wie konnte man über so vielen Choleras den Bazillus vergessen? — Vielleicht aus Scham. Denn die Langeweile hat etwas so gespenstisch Schamloses, daß man darüber besser nicht spricht. Ungerufener Gast! Sie erscheint als Dritter zum Stelldichein mit der Liebe, und die Liebe wird schal, zum Stelldichein mit dem Tode, und der Tod wird banal, ja sie drängt sich noch ins Gebet, und, schrecklich, es wird zur plappernden Repetition. So wird sie mit allem fertig, nur nicht mit dem Geist. Denn sie ist heimlich in ihn verliebt, sie nimmt für ihn Rache, sie ist jener Schatten, der die Sonnenhöhe deutlich macht, sie — die riesig gähnende Fehlanzeige des Geistes!

Warum gibt es also diese große Göttin nicht, da es sie doch gibt? Die göttergierigen Römer, die doch sogar ihre Dea Cloacina, ihre Göttin der Kanalisation hatten — wie konnten sie sich nur die Göttin der Langeweile entgehen lassen? Ihr Vater nämlich war Chronos, den die Engländer später „old father time“ nannten. Dieser Gott begab sich einmal in die numidische Wüste, um aus deren Sandbeständen sein Stundenglas neu aufzufüllen. Als er nun das Glas prüfend vors Auge hielt und Korn um Korn fallen sah, da kam dem Gott ein ungeheures Gähnen an (das übrigens die ganze Plombierbedürftigkeit des Zahnes der Zeit unter Beweis stellte). Da aber bei einem Gott selbst das Gähnen schöpferisch ist, so trat im selben Augenblick ein blutjunges Wesen aus seinem Rachen, stieß sich leicht von seiner Zungenspitze ab und schritt ins Leben hinaus. Offenen Mundes starrte Vater Chronos ihr nach, denn sie, die eben geborene Langeweile, hatte eine endlose Kleiderschleppe, welche, wie der Streifen auf dem Telegraphenticker, immer noch dem Gehege seiner Zähne entquoll... Schnapp! klappte seine Kinnlade zu (denn der Gähnkrampf ist jener Punkt, wo die Langeweile wieder interessant wird) — die Schleppe riß, und nun flog die Langeweile frei durch alle Lüfte und Welten. Immer sucht sie seitdem nach dem nächsten gähnenden Munde, um dort ihren Einzug zu halten. Und seitdem halten wir Sterblichen beim Gähnen die Hand vor den Mund oder klopfen uns gar dabei rhythmisch auf die Oeffnung — immer in der Hoffnung, durch solche Magie die Göttin fortzuscheuchen. Ja, wir gähnen sogar mit gepreßten Lippen durch die Nase ... vergebliches BemühenI Denn längst schon ist sie hereingeflogen und läßt uns, Tropfen um Tropfen, ihr furchtbares Gift verkosten. Den einen wirft es um. Den andern rafft es auf. Uns aber, uns frohgemuten Markensammlern und Skatspielern, kann es nichts mehr anhaben. Denn wir haben uns gegen dieses Gift — wie sagt man doch? — mithridätisiert...

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