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Leben..

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Spielend huschen die Sonnenstrahlen über die weiten Ebenen Nebraskas, hüpfen am Stacheldraht entlang, spähen naseweis durch die Fenster der Baracken, klettern an den Wachtürmen empor, tummeln sich auf den Lagerstraßen, kitzeln übermütig die Nasenspitzen der Menschen, die sich dort bewegen, so daß manch einer von ihnen lächelnd den Kopf hebt und ihnen zublinzelt.

Ich mache langsam meinen Morgenspaziergang und gehe gedankenverloren durch die Lagerstraßen. Man hat ja so viel zu denken. Noch ist all das große Erleben des Krieges in uns, das lange Jahre unser Leben ausfüllte und mit grausamer Hand Unvergeßliches in unsere Seelen schrieb.

Und nun bist du Kriegsgefangener. Bist in Amerika! Amerika!

Immer wieder kreisen meine Gedanken um all diese Dinge. Manchmal kann ich es so gar nicht fassen, daß ich tatsächlich in Amerika sein soll. Was hatte dieses Wort früher für eine Bedeutung für mich. AU meine kühnen Jugendträume., die herrliche Phantasie meines kindlichen Herzens mit ihren Karl May- und Zane Grey-Figuren endeten stets in dem Land jenseits der Meere. Auch später noch war Amerika in meinem Denken immer von einem bunten, geheimnisvollen, schillernden, lockenden Schleier umgeben, hinter dem sich eine andere Welt, eine Welt voll unbekannter Dinge und Geheimnisse verbirgt.

Nun bin ich tatsächlich in dem Land meiner unbeschwerten Jugendträume, aber statt der rothautigen, federgeschmückten, skalpbehangenen Indianer meiner Jugend reiten amerikanische Soldaten um unser Lager und alles ist von einer sehr modernen, kalten, nüchternen Sachlichkeit.

Gefangener! In mir ist alles innerlich aufgewühlt. Seit ich gefangen bin, ist es mir, als wäre der Faden zwischen mir und dem Leben zerschnitten. Das Gefühl, frühzeitig am Ende zu sein, auf das Leben verzichten zu müssen, weil man so gar keinen Anteil daran hatte, das stumpfe, gleichmäßige Einerlei des Lagerlebens läßt in mir eine merkwürdige Gleichgültigkeit gegen das Leben aufkommen, die sich selbst bei dem Gedanken an die Zukunft nicht verändert. Dann sind es immer wieder die Bilder flammendurchlohter Tage und Nächte, einer kaum verklungenen Zeit, welche mich bedrücken und quälen. Wie sehr habe ich mich nach dem Frieden gesehnt. Nun, da Friede ist, da mich schon lange nicht mehr das Dröhnen des Krieges umgibt, das Langersehnte Wirklichkeit geworden, nun kann ich den Weg zurück zum Leben nidit mehr finden. Wie entwurzelt ist mein Sein und mir ist's, als torkle ich ziellos und haltlos in einer furchtbar gähnenden Leere!

An all das muß ich denken, während meine Augen über die grünen Ebenen schweifen, aus denen sich weit verstreut die hellen Häuser der Farmen abheben. Plötzlich dringt ein Ton an mein Ohr. Ein süßer, zarter melodischer Ton, ein helles, heiteres Zwitschern, das sich stetig steigert und alsbald zum schmetternden, jubelnden Gesang wird. Überrascht blicke ich auf. Meine Augen suchen den gefiederten Sänger und finden ihn am Stacheldrahtverhau sitzend, seine Lieder singend. Was liegt nicht alles in dem bunten Melodienspiel dieser kleinen begnadeten Vogelstimme. Wie ein jauchzendes Bekenntnis zum Leben klingt es, wie ein Hymnus an Sonne, Meere und Gebirge, ein trillerndes, aus Lachen und Weinen gemischtes Lied der Liebe, und wie ein gewaltiger Choral sieghafter Kraft und Jugend.

Während all diese Empfindungen durch mein Herz brausen, ist's mir, als versinke der Stacheldraht und das friedliche Land dahinter würde sich in ein kleines Stück der Bretagne verwandeln.

Ich sehe mich erschöpft in meinem Erdloch sitzen. Um mich ist das unbestimmte dämmernde Zwielicht des erwachenden Tages. Schon steht ein schmaler Streifen von matter, fahler Färbung am östlichen Himmel, der sich zusehends in ein sanftes, grünlichviolettes Leuchten verwandelt, das schon das Ahnen des nahen Tages in sich trägt. Eine wunderbare Ruhe liegt über dem Land, mit seinen aufgerissenen Fluren, zersplitterten Bäumen und zerfetzten Häusern. Eine Ruhe, die um so wunderbarer und unbegreiflicher ist nach dem gewaltigen Inferno der vergangenen Nacht, mit seinem brüllenden, berstenden Stahlgewitter, das mit schaurig-heißem Atem alles Leben zu verschlingen drohte. Wo ich mich in die bebende, zitternde Erde krallte, Dreck und Steine auf mich prasselten, irre Schreie weidwunder Menschen wie Fanfaren des Todes durch den Schlachtlärm gellten und mein Herz schwer und dumpf schlug in den unnennbaren Empfindungen dieser Stunden. Drüben am Horizont hängen jetzt schon kleine zarte rosarote Wölkchen und der Hintergrund ist in ein tiefes feuriges Rot getaucht, aus dem sich langsam der Feuerball der Sonne hebt, den neuen Tag gebärend.

Meinen Stahlhelm habe ich vor mir am Grabenrand hingelegt, darauf nun meine Hände dem Kopf als weichen Polster dienen und sehe hinüber zu dem großen, ewig sich wiederholenden Naturschauspiel. Niemand stört midi und es. ist, als wäre diese Pause zwischen Freund und Feind nur zu diesem Zweck vereinbart.

Und just als der erste, helle Sonnenstrahl vorwitzig über die zerrissenen Drähte der nahen Telegraphenleitung huschte, schwingt ein heller Ton durch den keimenden Morgen, eilt jauchzend, schmetternd dem Licht entgegen, um sich mit ihm in taumelnder Lust zu vermählen. Immer neue, schönere Töne folgen, purzeln und kollern übermütig, heiter und unbeschwert aus der Brust des frühen Sängers hinein in den neuen Tag, dem neuen Leben entgegen.

Leben. . .! Mir ist, als höre ich nie Gehörtes, als käme dieses Wunder aus einer anderen Welt, aus einer Welt, die ich nur me.hr aus Träumen kenne und der meine ganze Sehnsucht gehört. Je länger ich lausche, desto mehr schmilzt etwas in mir zusammen, etwas, das mein Inneres mit unerbittlicher Starrheit umkrallt und jede Regung meiner Seele erstickt. Auf einmal sind Tränen in meinen Augen und ein wildes Würgen kriecht in meine Kehle. Ich möchte schreien, schreien, immer nur das eine Wort schreien: Leben...! Meine Hände wühlen in der taunassen Erde, die schon die ersten Keime des neuen Werdens in sich trägt und so herrlich nach Gras und Blumen duftet.

Leben . . . Leben . .. LTnd die Lerche jubelt, trillernd singt sie ihr Lied vom Leben, so daß ich mit einem Male zu begreifen anfange, daß sie es auch für mich singt. Und dankbar blicke ich der aufgehenden Sonne entgegen.

Das eben geschaute und erlebte Bild verblaßt und sdion dämmern von neuem Bilder aus der Unendlichkeit unseres Seins herauf, überstrahlt von der göttlichen Musik des kleinen Zauberers. Mir ist, als wüchsen die Hügel und Berge meiner fernen geliebten Heimat aus der Erde und staunend sehe ich mich neben einem Mädchen gehen, in dessen Blondhaar ein Gleißen und Flimmern ist, als trüge sie eine güldene Krpne. Ihr weites weißes Kleid umhüllt sie zärtlich, läßt die zarten Formen ihres jungen Körpers mehr ahnen, als sehen, so daß sie fast genau so aussieht wie die vielen kleinen Leberblümchen, die auf den satten, grünen Wiesen wie Millionen Sternchen leuchten. Die Luft trägt den wilden, jauchzenden Geruch des Frühlings in sich, durch den taumelnd, berauscht der erste bunte Schmetterling flattert.

Langsam und andächtig schreiten wir beide durch diese verzauberte Welt. Da jubelt es mit einem Male aus den Zweigen eines knospenden Strauches und der gefiederte Herold des, Frühlings singt uns sein schönstes Lied. Wir bleiben stehen und lauschen ergriffen den herrlichen Tönen des kleinen Meisters. Unsere Hände finden sich im zarten Druck ... Leben ... Leben ... Ach du herrliches Leben!

Schemenhaft wie die Bilder kamen, so verschwinden sie wieder und langsam kehre ich zur Wirklichkeit zurück.

Befreit atme ich auf, denn ich habe es ja wiedergefunden — das Leben. Ich weiß es wieder, daß es jenseits des Stacheldrahtes immer noch ein Leben gibt, ein Leben, das auf uns wartet und das gelebt werden will. Still sehe ich dem kleinen Sänger nach, der sich nun zwitschernd in das Blau des Himmels schwingt, der Sonne, dem Licht, der Freiheit entgegen. Und ich kann nicht anders, ich rufe ihm zu: „Grüß mir das Leben, das ewige, wunderbare Leben!“

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