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Leben im Roman

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DIE FEINDIN. Roman. Von Margaret Milar, Aus dem Englischen übersetzt von Elizabeth Golbert Diogenes Zürich. 324 Seiten.

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DIE FEINDIN. Roman. Von Margaret Milar, Aus dem Englischen übersetzt von Elizabeth Golbert Diogenes Zürich. 324 Seiten.

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Es ist schwer etwas über diesen Roman zu schreiben, der im Gefüge fast ein Kriminalroman ist; dabei: was Psychologie, Menschenkenntnis und Kraft der Schilderung betrifft große Literatur ist. Charlie Gowen hat vor Jahren ein Sittlichkeitsdelikt begangen und lebt nun mit seinem Bruder Ben zusammen, der ihn auf Schritt und Tritt so kontrolliert, daß Charlie nie selbständig werden kann — auch nicht durch eine Liebe zu Luise. Dann trat die „Feindin“ in sein Leben: Jessi, ein neunjähriges Mädchen, das er behutsam umkreiste, ohne sich ihm zu nähern; er ist fasziniert. Jessi ist „ein halber Bub“, dünn, lang, aufsässig, wagemutig, spöttisch. Ihre gleichaltrige Gespielin ist Mary Martha, Tochter einer hysterischen, geschiedenen Frau, die ihren Haß auf den geschiedenen Mann zur tyrannischen Haß-Liebe auf diese beiden Mädchen lenkt. So wird Jessi auch zur „Feindin“ dieser Frau. Die Nachbarn von Jessis Familie haben keine Kinder, aber Virginia, die Nachbarin, vergöttert Jessi auf eine sehr ungesunde Art, so daß die Nachbarsehe auf dem Spiel steht. Jessi wird zur „Feindin“ der Nachbarn. Der Roman beschreibt in raffinierter Psychologie diese dreifache Feindschaft, von der das Kind Jessi am wenigsten ahnt: ihre eigensinnige Naivität verwirrt alle und alles. Was hier beschrieben wird, geschieht in weitmaschigerer Form jeden Tag: wie einer ;,schuldig wird in schuldlosem Tun“, und wie die Nebenmenschen sich durch das bloße Dasein eines solchen Menschen heillos verwirren. — Margaret Milar ist eine der vielseitigsten Frauen Amerikas, sowohl was ihre Berufe wie die Themen ihrer Werke angeht.

DER TOTE UND ANDERE ERZÄHLUNGEN. Von Hans H o r a 1 e k. Mit 23 Zeichnungen von Alfred Kubin. Diogenes, Zürich 1965. Preis: S 258.—.

Wer in diesem Buche blättert, entdeckt zuerst die 23 Zeichnungen von Alfred Kubin, die 1947 unter dem Titel „Ein neuer Totentanz“ erschienen waren. Diese Zeichnungen sind keine Illustrationen zu den Erzählungen Horaleks — sie machen in ihrer grotesken Grausamkeit kund, was den Leser des Buches erwartet: was der eine mit dem Zeichenstift konnte, ist dem, der die Feder führte, ebenbürtig. Begriffe wie makaber, zynisch, grausam, grotesk, ironisch, satyrisch, verstiegen — alle sind auf diese Geschichten anwendbar. Die verschiedensten Todesarten — teils aus Phantasie, teils aus historischen Vorbildern — werden schlicht, knapp, sachlich beschrieben und sind sehr gut geschriebene Literatur. Die Lektüre ist keineswegs vergnüglich, aber sie ist auch nicht überflüssig.

ZWÖLF STÜHLE. Roman. Von Ilja 11 f und Eugen Petrow. Zsolnay, Wien, übersetzt von Elsa Brod und Mary von Pruss- Glowatzky.

Mit beißendem Humor schildern die beiden Verfasser die Suche nach den Juwelen, die eine verstorbene Großbetrügerin in einem von zwölf Polsterstühlen versteckt hatte. Zwölf Stühle haben zwölf Schicksale, denen sich die Juwelenhändler aussetzen müssen, um den Schmuck am Ende doch zu finden. Die Geschichte spielt in der Anfangszeit der Sowjetregierung, und die Autoren sparen nicht mit satirischer Kritik an den seltsamen Verhältnissen im Land. Dieses Buch ist in fast alle Sprachen übersetzt und vor Jahren mit Heinz Rühmann verfilmt worden.

MOTTL, DER KANTORSSOHN. Von Scho- lem-Alejchem. Aus dem Jiddischen übersetzt von Grete Fischer. Insel-Verlag, Wiesbaden. 288 Seiten.

Mottl ist der achtjährige Sohn des Kantors in der russischen Kleinstadt Kasrilovka — aus seiner Sicht und in seiner Kindersprache berichtet er sein Leben daheim und wie die Familie nach des Vaters Tod nach Amerika auswandert. Man lernt Not und Elend und Hoffnung dieser Herumgestoßenen kennen sowie die Art, in der Kinder die Erwachsenen sehen und das Leben: immer ist an allen und allem etwas Liebenswertes, Gutes, Fröhliches. „Mottl“ ist der letzte, Fragment-gebliebene Roman des „jiddischen Mark Twain“ Schölern-Alejehern: große für das Volk geschriebene Literatur.

MÖGEN DIESE WORTE MEINE ANTWORT SEIN. Roman. Von Luc E s t a n g. Aus dem Französischen von Hansjürgen Wille und Barbara Klau. Jakob Hegner, Köln. 328 Selten. Preis: DM 19.80.

Die Eheleute Octave und Alice aus dem Roman „Das Glück und das Heil“, sind auch die Hauptgestalten

dieses neuen Romans. Über Rückblenden in das Land des einen wie des anderen erlebt man die Wurzeln, aus denen diese beiden Menschen wuchsen, zusammenwuchsen und auseinandergerieten. Beide haben ihr Schuld- und Lebensschicksal; jeder der beiden Ehegatten begeht am Partner und an den beiden Kindern neue Schuld: der Muschelkalk des Alltags legt sich wie ein Panzer um die beiden Menschen — wo „eigentlich“ der aufmerksame, der die Brille der Gewohnheit weglegen könnte, die Liebe hätte halten und mehren könne. Auf harten, unbequemen Wegen finden Octave und Alice wieder zueinander: „Wir sind noch einmal davongekommen“ zu einem neuen Anfang hin. Ganz realistisch und unfromm bekommt der Leser es beigebracht, daß es ohne Gott nicht geht und mit Gott durchaus nicht gut geht, wenn man auch Gott eine Gewohnheit wenden läßt

ZOO ODER BRIEFE NICHT OBER DIE LIEBE. Von Viktor Schklowskij. Aus dem Russischen übersetzt und mit einem Nachwort versehen von Alexander Kaempfe. Edition Suhrkamp, Frankfurt, 130. 144 Seiten.

Dieser kleine Liebesroman in Briefform ist 1922 in Berlin geschrieben worden. „Zoo“ ist also Berlin — als Stadtteil und als Bild der Berliner. Dreißig Briefe sind dreißig ironische Reflexionen des Dichters über Zeit und Umwelt und Sehnsucht und Liebe.

MEIN IMAGINÄRES MUSEUM. Von Jean T a r d i e u. Aus dem Französischen übersetzt von Gerhard M. Neumann und Werner Spies. Edition Suhrkamp, Frankfurt, 131.

Dieses Museum Tardieus ist nicht mit Bildern behangen. Es besteht im Wort eines Dichters. Achtzehn Maler haben des Dichters Einbildungskraft

erregt, so daß er Gemaltes und Gezeichnetes in Gesprochenes, Geschriebenes übersetzte. Nicht werden Gemälde beschrieben, sondern der Maler und sein Gemälde werden von eines Dichters Gnaden „zur Sprache gebracht“.

TANZSTUNDEN FÜR ERWACHSENE UND FORTGESCHRITTENE. Von Bohumil H r a - b a 1. übertragen aus dem Tschechischen von Franz Peter Künzel. Edition Suhrkamp, Frankfurt, 126.

Ein Buch ohne Punkt — auch nicht zum Schluß, weil die Erzählung einfach abreißt; sie hätte früher schon enden können und hätte fortgesetzt werden können. Das Selbstgespräch zu einem „Fräulein“, das ein alter Mann über seine Vergangenheit führt. Er wird von Assoziationen geleitet, die oft ein wenig gekünstelt erscheinen. Der Inhalt dieses Erzählten ist derb, manchmal von Wehmut, manchmal von Wut, manchmal von männischer Eitelkeit umrahmt. Der Titel ist gewiß zugkräftig, aber er sagt nichts über den Inhalt des Büchleins.

DIE PERSONENPERSON. Roman. Von Bar- bara König. Hanser, München. 205 Seiten. Preis: DM 15.80 (Als Hanser-Broschur DM 7.90.).

Als Motto steht über diesem Buch der Ausspruch des Novalis: „Jeder Mensch ist eine kleine Gesellschaft.“ Die junge Nadine spürt plötzlich, daß ihr „Ich“ gar nicht eins, einig und eindeutig ist. Es ist als lebten in ihr selbständige Personen, jüngere und ältere, männliche und weibliche; alle haben den Anspruch, „auch Nadine“ zu sein und sind doch von ihr in Erinnerung, Geschehen und Gesprächen distanziert. Jeder ist eine Person, die viele Personen personifiziert. Die Idee ist sehr verlockend, leider liest man sich mühsam in diesen geistreichen, ironischen, abgrundentdeckenden Text ein.

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