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Leben im Stein I

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Der Wiener Stephansdom: ein Ort, wo Symbole Wirklichkeit schaffen und die Wirklichkeit zum Symbol wird.

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Der Wiener Stephansdom: ein Ort, wo Symbole Wirklichkeit schaffen und die Wirklichkeit zum Symbol wird.

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Auf regenfeuchten Brettern tappe ich in ein paar Dutzend Metern Höhe Schritt für Schritt die Aussenfassade des Turms entlang. Tief unter mir das Pulsieren des Stephansplatzes, Autobuslärm, Pferde-wiehern, Menschen, klein wie Ameisen. Da plötzlich ein Knarren über mir, die Latten senken sich bedrohlich nach unten, jemand redet, ein Radio wird eingeschaltet. „Rudi, Rudi, gib acht!”, klingt es belanglos aus dem Kanal. Relanglos? Wohl nur für Ignoranten und Alleswisser, denen die Symbolkraft der kleinen Nebensächlichkeiten und Zufälle entschwunden ist. Denn wer sonst kann mit dem anonymen „Rudi” gemeint sein als Herzog Rudolf IV. von Osterreich, genannt der Stifter, einer der wichtigsten Rauherren des Wiener Stephansdomes, den ich eben im Regriffe bin zu erkunden?

Der junge Habsburger hätte tatsächlich besser „achtgeben” sollen, als er im Sinne einer Gegenaktion zur von Kaiser Karl IV. herausgegebenen „Goldenen Bulle” mehrere Urkunden fälschen ließ, welche seinem Geschlecht Privilegien sichern sollte. So zog er sich zu Lebzeiten den Zorn Petrarcas, im 19. Jahrhundert jenen der Historiker zu. Die andere Seite Rudolfs: er ließ nicht nur 1365 die Universität errichten, sondern nahm auch voller Elan den gotischen Neubau des Langhauses des Stephansdoms in Angriff dies alles in einer kurzen Lebenszeit von 26 Jahren. Sein Grabmal steht seit 1952 beim Wiener Neustädter Altar. Ursprünglich befand es sich als Monument in der Mitte des Chormittelschiffes beim Abgang zur Herzogsgruft.

Vom Gerüst hinuntergeklettert, gelange ich über ein verzweigtes System von Stiegen in den überdimensionalen Dachboden des Domes. Vor einem Miniaturmodell des Gotteshauses sind Stuhlreihen aufgestellt. Im Sommer finden hier Vorträge statt. Mit Thomas Weber, gelernter Steinmetz, jetzt Polier der Dombauhütte, fahre ich im Lift nach unten. „Immer rauf und runter, wie im Leben”, kommentiert er sein häufiges Liftfahren. Die Dombauhütte ist sein Arbeitsplatz. „Wir arbeiten hier genauso wie im Mittelalter”, sagt Weber, „das meiste wird händisch gemacht”. Ein sich eben in Reparatur befindlicher Wasserspeier blickt vorwurfsvoll auf mich Eindringling.

Eine Ebene tiefer: die Katakomben. Etwa dreißig Grabkammern mit bis zu 500 Särgen pro Kammer waren hier, insgesamt wurden etwa 16.000

Menschen bestattet. Aber weniger das Grauen kommt beim Spaziergang durch die sterilen Gänge als vielmehr die Groteske: Leicht makaber wirken die in Wandregalen aufgestellten Urnen, in denen viele habsburgische Eingeweide aufbewahrt sind. Wie wohl die Refindlichkeit der Organe jetzt ist? Der Domführer zeigt mir ein kleines Loch am unteren Rand eines Topfes, legt den Zeigefinger auf die Lippen und blickt gen Himmel.

„Betreten der Baustelle verboten” steht auf jener Tür, durch welche ich wenige Minuten später die augenblickliche Baustelle am Riesentor betrete. Zu meiner Linken stehen neun, zehn große Plastiksäcke, die mit Knochen gefüllt sind, die man bei den Ausgrabungen unter dem Riesentor gefunden hat. „Über 60 Personen hat man ausgegraben”, erzählt Dombaumeister Wolfgang Zehetner. „Es waren aber keine bedeutenden anthropologischen Funde.” Außerdem sei bei den Arbeiten auch viel zerstört worden. Wie auf ein Stichwort setzen plötzlich Orgelmusik und Gesang ein, vermischen sich mit dem Baustellen -lärm.„Der Dom soll so gut wie möglich erforscht und dokumentiert sein,

Ungewöhnliche Bilder, die das vielfältige Leben im Wiener Stephansdom dokumentieren, verknüpft mit sparsamem aber informativem Text - das präsentieren Franz Hubmann und Rupert Feuchtmüller in ihrem neuen Buch. Die Symbolkraft und die Faszination eines 850 Jahre alten Gotteshauses sprechen aus den nicht alltäglichen Bildern, ebenso das Leben, das es erfüllt.

St. Stephan in Wien. Der Dom lebt.

Von Rupert Feuchtmüller und Kranz Ilubmann, Wiener Dom-Verlag 1996. | 216 Seiten, ca. 250Abb., öS 980- (Davon kotnmen 100-der Erhaltung des Domes zugute) aber er soll nicht in ein Museum umgewandelt werden”, folgt unvermittelt das kurze aber leidenschaftliche Plädoyer Zehetners.

Ein paar Schritte weiter arbeiten derzeit acht Restauratoren an der Renovierung des Portals. Mit Hilfe von zwei hochmodernen Lasergeräten -zum ersten Mal in Österreich eingesetzt - werden die verkrusteten Schmutzschichten vom Stein abgetragen und so wird seiner weiteren Zerstörung vorgebeugt. Über wackelige Leitern klettere ich auf das Gerüst am Riesentor. Nur wenige Zentimeter trennen hier das Auge des Betrachters von den Gewändeskulpturen, die normalerweise nur aus der Untersicht betrachtbar sind. Eröffnet wird das Rie-sentor wieder am Palmsonntag.

Der Aufstieg über die Wendeltreppe zur Westempore ist geschlossen. „Wir nehmen den Lift”, teilt mir die Leiterin des Diözesanarchivs, Annemarie Fenzl, mit. Den auf der Lifttür angebrachten blaßgelben Zettel ignorierend, auf dem in roter Schrift „Außer Betrieb” zu lesen ist, steigen wir ein. „Ich sag' gerne ,gotischer' Lift, weil er so gerne stecken bleibt”, plaudert die Historikerin und schließt die Türe. Oben angekommen tut sich ein herrlicher Blick vom Langhaus zum Chor auf. Die Westempore ist einer der ältesten Teile des Domes, mit ihrem Bau wurde 1237 im Zuge des Umbaus der ersten Stephanskirche (1137-1147) begonnen. Der Chor wurde in der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts, das Langhaus von etwa 1359 bis 1440 errichtet.

Über eine enge gotische Spindeltreppe gelangen wir in die nördliche obere Kapelle, welche seit Anfang unseres Jahrhunderts als Beliquienkam-mer dient. „Rudolf hatte eine besondere Vorliebe für Reliquien”, weiß Fenzl. Knochen, mit Goldstickerei umwunden, Totenschädel, mit Seide und Brokat geschmückt, sind hier in Vitrinen aufbewahrt. „Gott war so groß, daß die Menschen ihm gar nicht direkt zu begegnen wagten”, erklärt Fenzl die heute unverständliche Reliquienverehrung mit dem im Mittelalter stark präsenten „Mittler”-Gedanken.

Ähnliche Kostbarkeiten birgt die Paramentenkammer. Franz Weinwurm, seit 15 Jahren Dommesner, holt einige Prachtstücke aus den Kästen hervor: Ein purpurroter Kardinalshut, das wunderschöne „Eleonoren-Ornat”, das allerdings steif wie ein Brett ist, ein Paar Pontifikalschu-he, vom Zweiten Vatikanum abgeschafft, die sinnigerweise ganz gerade geschnitten sind, und wo rechts oder links keine Rolle.spielt.

Im Haus „Stephansplatz 1” verläuft jeneWendeltreppe, die zum (mit Kreuz) knapp 137 Meter hohen Südturm führt. Auf halber Höhe kommen wir bei einem Spaziergang in der Regenrinne entlang des Dachfirstes wieder zu Atem. Gelbe, grüne und weiße Schindeln leuchten am regen-nassen Dach. Kurz darauf in der Türmerstube angelangt höre ich, daß wir genau 343 Stufen erklommen haben. Belanglos? Wohl kaum. 343 ist nämlich 7 hoch 3 - zwei hochsymbolische Zahlen begegnen sich. Ob es noch überraschen sollte, an diesem Ort?

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