7109884-1995_46_20.jpg
Digital In Arbeit

Leben in Entsagung

Werbung
Werbung
Werbung

Sie gingen spazieren, im Wiener Viertel, in dem die Familie wohnte, und Sigmund Freud machte Annerl, sein sechstes und jüngstes Kind, auf die Schönheit der Hausfassaden aufmerksam. Sein Hinweis auf die Dinge hinter den Fassaden, denen es an Schönheit oft fehle, blieb Anna Freud in Erinnerung.

Der denkwürdige Spaziergang - im Jahre 1909 - wurde für die 14jährige zu einem der Schlüsselerlebnisse, die bewirkten, daß sie früh in die väterlichen Fußstapfen trat. Die künftige Kinderanalytikerin korrespondierte während ihrer Ferien als Jugendliche mit dem Vater über die Konflikte, die sie bewegten, und früh erfuhr die von der überlasteten Mutter zurückgesetzte Tochter von ihm jene innere Anteilnahme, die es ihr später leicht machte, im Vater ihr Vorbild und mehr noch ihr Ich-Ideal zu entdecken.

Sigmund Freud, auf Ordnung im Seelenhaushalt seiner Mitmenschen bedacht, gab seiner Tochter beizeiten zu verstehen, sie möge ihr Leben nach den Gesichtspunkten einer normierten Weiblichkeit ausrichten; was spätestens dann zunichte wurde, als sich Anna bei ihm in Analyse begab.

Anna Freud gelang es, die Störungen zu überwinden, die ihr der Vater prophezeit hatte, sollte sie die Frau in sich außer acht lassen. Beizeiten lernte sie, Schmerz durch Arbeit zu bezwingen und ihre sexuellen Regungen durch das, was sie selbst ihre „Uber-Güte” nannte, zu kompensieren. Daß sie trotz ihres Lebens in Enthaltsamkeit mit sich selbst eins werden konnte, verdankte sie - neben ihren zahlreichen beruflichen Aktivitäten - ihrer subtilen Fähigkeit zu langdauernden, tiefen Frauenfreundschaften, unter denen diejenige zu Lou Andreas-Salome ihren Werdegang entscheidend mitbestimmte.

Elisabeth Young-Bruehl, Professorin am College of Letters der amerikanischen Wesleyan University, Verfasserin einer vielgelobten Hannah-Arendt-Biographie, ist mit dem ersten - die Wiener Jahre betreffenden — Teil ihrer Anna-Freud-Recherchen ein informatives, faszinierendes Buch gelungen, das dem Menschen Anna

Freud ebenso wie den Personen im privaten und beruflichen Umfeld der klugen, schlichten Frau gerecht wird. Wenngleich Anna Freuds Eigenständigkeit als Analytikerin erst 1936 in ihrem Schlüssel werk „Das Ich und die Abwehrmechanismen” zum Tragen kam, sollte nicht vergessen werden, daß der Arbeitsschwerpunkt der Freud-Tochter stets in der Praxis -darunter immer auch im pädagogischen Bereich - lag und erst zweitrangig im Theoretisieren.

So war die während Freuds schwerem, schubweise verlaufendem Kieferhöhlenkrebs als zuverlässige Begleiterin und Krankenschwester amtierende Anna maßgebend mitverantwortlich für die Gründung einiger sozialpädagogischer Einrichtungen, darunter das experimentelle Projekt ^einer Krippe für Kleinkinder unter zwei Jahren aus sozial benachteiligten Familien und ein Montessori-orien-tiertes Projekt, das in England noch heute Früchte trägt.

Anna Freud, so Young-Bruehl, war die einzige weibliche Psychoanalytikerin, die keinen Aufsatz über weibliche Sexualität als solche geschrieben hat. Dieses Tabu in ihrem Leben mit einem Manko gleichzusetzen, wäre falsch. Anna Freud war alles andere als eine verbitterte Frau, und vielleicht.war es ihr Festhalten an dem, was wir noch immer Unschuld nennen, das ihr den Zugang zur kindlichen Seele so leicht machte.

Für die Intensität der Vater-Tochter-Beziehung findet die Autorin ein berührendes Schlußbild. Als Anna Freud von der Gestapo zum Verhör geholt wurde, brachte ihr sonst stoisch disziplinierter Vater weinend seine Fassungslosigkeit zum Ausdruck, nachdem er stundenlang auf seine Tochter gewartet hatte. Nach Annas Bückkehr am Abend erklärte Freud, er wolle, daß sie alle sofort aus Wien flüchten sollten. Freud blieb nicht zuletzt dank der Intervention von Prinzessin Marie Bonaparte vom Zugriff der Gestapo verschont.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung