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Leben in Schichten -sterben in Schichten

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DAS NACHTLEBEN VON HONGKONG ist eine Sache; der Nachtmarkt eine andere. Das verstand ich nicht gleich; denn die Nachtmärkte sind hell und laut und in vielen Straßen bis hinaus ans Meer. Aber es kommt niemand in Hongkong vom Nachtleben auf den Nachtmarkt; und niemand vom Nachtmarkt ins Nachtleben; denn das Nachtleben ist eine Sache und der Nachtmarkt eine andere. Der Nachtmarkt ist kein nächtliches Volksfest bis in den Morgen, sondern das Zentrum und der Lebensplatz der Menschen, die nachts keinen Platz zum Schlafen haben und die in Tagschicht schlafen müssen.

In den Slums von Hongkong ist jeder Platz am Boden doppelt und dreifach belegt. Nur wenn einer aufsteht von seiner Schlafstätte, kann ler andere sich schlafen niederlegen. Das war besser vor drei Jahren, da gab es nur zwei Menschen an jedem Schlafplatz. Aber an jedem Tag kommen Flüchtlinge aus Rotchina herein. Jetzt gibt es schon drei, und bald wird es vier und fünf Schichten geben über jedem Platz am Boden, auf dem man schlafen kann. i Und auch die Kinder müssen in Schichten schlafen, nicht nur wegen des Platzes am Boden, denn sie sind klein und brauchen nicht viel Platz; sie haben nur große Bäuche, die aufgebläht sind. Aber da ist wieder die Sache mit dem Platz auf den Straßen. In den Straßen der Slums in Hongkong, wo keine Marktbuden stehen, sieht man oft das Pflaster vor lauter Kindern nicht. Sie können nur in Schichten auf den Straßen sein.

Man stirbt auch in Schichten in den Slums von Hongkong, denn die Friedhöfe der Reichen sind weit vor der Stadt. Und die Bestattungsunternehmen sind tagsüber damit ausgelastet, die langen elaboraten Leichenzüge aus den Vierteln der Reichen tu den teuren Friedhöfen der Vornehmen zu bringen. Für die Armen haben sie nur nächtens Zeit. Aber dafür ist der Weg zu den Friedhöfen der Armen kurz, zum Meer, unweit des Fischmarktes. Indes ist es oft schwierig und dauert längere Zeit, die Leichen der

Das ist aber nicht so miserabel, denn man hat sich daran gewöhnt, in Schichten zu leben, zu schlafen und zu sterben.

Nur werden die Schichten immer enger, denn aus Rotchina fliehen noch in jeder Woche Hunderte in die Slums von Hongkong. 600.000 Menschen leben in Slums. von den zwei Millionen Menschen in Hongkong.

In den Nächten sind die Slums hell erleuchtet von den Karbidlampen der Marktstände, und vor der Stadt breitet sich das Meer der Karbidlichter aus, bis es hinter dem Fischmarkt beim Friedhof ohne Übergang vor der Dunkelheit des Pazifiks abbricht. Von drüben, aus Kawloon, sieht man die farbigen Lichter des Nachtlebens von Hongkong; aber dazwischen ist die Bucht und ist der Gestank vom Fischmarkt. Das Nachtleben von Hongkong ist eben eine Sache, und der Nachtmarkt ist ei,ne andere.

Und dann sind die Reichen, und zwischen den Slums und den Reichen sind die Engländer. Darunter sind noch die Flüchtlinge, Hunderttausende, die von der UNO und den Engländern leben. Aber auf einen, der bei der Flüchtlingsbehörde angemeldet ist, kommen zehn, die aus irgendeinem Grund die Anmeldung scheuen und die von den Rationen der Angemeldeten mitleben müssen.

IN DEN ERSTEN STUNDEN IN HONGKONG glaubt man in einer Stadt des englischen Mittelstandes, der internationalen Touristik und des chinesischen Reichtums zu leben. Die Boulevards quer durch die Halbinsel sind breit und in der Nacht hell, erleuchtet. Touristen fallen in Ekstase, weil die Geschäfte so reich und die Waren so billig sind. Am Flugplatz, gleich hinter den Zollbeamten, bietet ein Chinese Anzüge aus englischem Stoff an; Wartezeit sechs Stunden — Preis 500 Schilling. Beides wird auch eingehalten. Vom Hotel wird man von Juwelieren, Schneidern, Kunsthändlern abgeholt und mitten in den Überfluß von Waren gebracht.

Hongkong hebt keine Zölle ein und nur ganz niedere Steuern. Nach Hong-

Am Abend sind es nicht die Juweliere und Schneider, die vor den Hotels warten oder ins Zimmer eindringen und einen herunterholen, sondern Rikschamänner; ausgelaugte, spindeldürre Kreaturen, die stundenlang neben einem sitzen oder neben einem hergehen und immer wiederholen: „Want a nice girl?“, in Asien eine international gewordene Frage, oder eine neue lokale Variante: „Want to meet a College girl?“ Das fragen sie in einer Betonung und mit einer Ehrfurcht, als ob sie einen zur letzten Prinzessin des Mandschu führen wollten. Fünf reichische Schilling. „For riding through town, for showing girl, what you want, Sir.“

ES LOHNT SICH, DEN RIKSCHAMANN 2u nehmen. Die Häuser, in die er einen führen will, zu den Mädchen, sind zerfallen und schmutzig, und auf den Stiegen wimmelt es von Kindern. Aber wenn man an den Häusern vorbeifährt, tiefer in die Slums, kommt man in die Nachtmärkte. Das Rikschafahren stellt den Europäer vor einen schweren sozialen Konflikt. Der ausgedörrte Kuli schleppt keuchend und nur noch im symbolischen Laufschritt bergauf. Es juckt einen, weil man aufstehen will, dem Mann zu helfen. Aber dann wäre der Mann unglücklich, denn er hätte sein Gesicht verloren.

So bleibt man schwer und unruhig sitzen und spürt am ganzen Körper jeden Lungenstoß des Rikschakulis.

Irgendwo im Nachtmarkt muß man aussteigen, weil der Kuli durch die Masse nicht weiter kann. Dann kommt der zweite Konflikt. Die Schicht aus Kinderköpfen über dem Pflaster: bewegt sich konzentrisch auf einen zu. Dutzende von Kinderhänden strecken sich entgegen. Legt man auch nur einen Penny in die kleinste und schmutzigste der Hände, so fallen die - anderen über einen her, die fürchten, leer auszugehen. Aus den ausgestreckten Händen werden Kinderfäuste, die boxen und stupsen. Um jedes Kleidungsstück, das man anbehalten will, muß man hart kämpfen und rettet es und sich selbst auf keinen Fall anders als zerrissen,' bespuckt und kotverschmiert aus dem Kampf. Also nichts geben. Nicht einen Penny. Aber nichts zu geben, wenn die Kinder ringsum nach Hunger stinken, erfordert mehr Kraft, als gegen einen ganzen Stadtteil wildgewordener BettW um den Rückzug zu kämpfen. „White man's dilemma“; Herr oder Heiliger muß man rein, will man hier als Europäer sein Leben leben.

DANN WÄCHST MAN IN DEN NACHTMARKT HINEIN. Man muß sich weit genug von den Shoppingcenters, von den Hotels entfernt ' haben, die Hände tief in die Hosentaschen stecken und einfach weitergehen. Ich ging so bis zwei Uhr nachts. Dann kam ich zum großen Markt am Fischerhafen. Zwischen den weißen Lichtern der Karbidlampen fluoreszierten die sterbenden Fische.

Aber vor dem Meer war ein Halbkreis dunkel, ohne den weißen Schein der Karbidflammen und das farbige Flimmern der verendenden Kreatur. Um diesen Halbkreis saßen Hunderte von Menschen und eine chinesische Operntruppe schminkte sich zum Auftritt auf dem Markt. Kinder, Erwachsene, pergamenten Vergreiste in den schmutzigen und zerrissenen Gewändern aus Seide der großen chinesischen Oper. Dort setzte ich nich hin. Und um 3 Uhr, als die Vorstellung am Höhepunkt war und die Komödianten sangen, jonglierten, balancierten, gab mir mein Nachbar seine Pfeife zum Rauchen.

Im kühlen Bewußtsein ihrer Aufgabe, kämpfen die Engländer gegen die Flut des Elends. Hongkong ist eine englische Kronkolonie und es wäre eine Hölle ohne Engländer. Die englische Verwaltung kämpft einen zähen Kampf gegen die chinesischen Geheimbünde, die die Chirtesenviertel beherrschen. Die englische Verwaltung baut Wohnblocks, um die Slums zu entlasten. Die Engländer kämpfen gegen den Wucher der reichen Chinesen, deren Geschäfte sich in der internationalen Konjunktur des legalen, haib-legalen und illegalen Handels überschlagen. Die Engländer kämpfen gegen die Korruption, und sie kämpfen gegen die rotchinesische Spionage, die sich von Hongkong über ganz Asien ausbreitet. Aber sie pflügen im Meer. Die chinesischen Geheimbünde sind unbesiegbar und regieren die Slums, die Nachtmärkte, die Bordelle. Geheimnisvolle Verbindungen laufen zwischen den Geheimbünden und Peking, Taipeh, den Chinesenvierteln in Afrika und Amerika. Die Wohnblocks sind tiefste Slums, kaum daß sie erbaut wurden. Aber die alten Slums lichten sich nicht. Die reichen Chinesen kaufe.ii immer neue Wohnviertel auf, und sie sind die Grundherren der großen internationalen Firmen und der Slumsbewohner. Die Rotchinesen infiltrieren in der Masse der Flüchtlinge immer wieder in die Nervenzentren des Lebens in Hongkong und breiten sich von dort aus. Die „Bank of China“ ist der mächtigste Wolkenkratzer in der City Kowloon, und Peking dirigiert von dieser exterritorialen Festung aus die Geschäfte der Kommunisten auf der ganzen Welt.

In Hongkong pflügen die Engländer im Meer, und sie sind kühl und distanziert, als ob es im Meer niemals Minen geben könnte.

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