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Lebendige Begegnungen mit Toten

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SINCLAIRS NOTIZBUCH. Von Hermann Hesse. Rascher-Verlag, Zürich und Stuttgart, 1962. Mit einer mehrfarbigen Tafel nach einem Aquarell des Verfassers. 114 Seiten. Preis 9.80 sFr. - BERT BRECHT. GESPRÄCHE UND ERINNERUNGEN. Von Günther Anders. Im Verlag der Arche, Zürich, 1962. Die kleinen Bücher der Arche, 356/357, 56 Seiten. Preis 3.80 DM. - WAS SIND MEISTERWERKE? Von Gertrade Stein. Geleitwort von Thornton Wilder. Im Verlag der Arche, Zürich, 1962. Die kleinen Bücher der Arche, 354/355. 67 Seiten. Preis 3.80 DM.

Hermann Hesse hat das Pseudonym Emil Sinclair mehrmals benützt: für den Roman „Demian“ (erschienen 1922), der ihn mit einem Schlag jener Jugend nahebrachte, die aus dem Feld zurückgekehrt war, sich im Chaos zurechtzufinden suchte und hier ihr Schicksal geistig gestaltet sah, und für einige Aufsätze, die er in den letzten Jahren des Krieges geschrieben hat. Sie erschienen 1923 unter dem Titel „Sinclairs Notizbuch“ und liegen nun in einer Neuausgabe vor. Gedacht zu seinem 85. Geburtstag am 2. Juli 1962 dürfte das Vorwort wohl das letzte sein, was der greise Dichter geschrieben hat; es trägt das Datum „Montagnola, im April 1962. Am 9. August ist er gestorben.

Hesse hat in den letzten Jahren manch harte Kritik seines Werkes hören müssen. Er schien so fem zu sein. Für Jene, die dem Glauben geschenkt haben, könnte dieses schmale Buch eine heilsame Lektüre sein. Denn es zeigt den Dichter in einem beklemmend harten, prophetischen, sich bis zur Groteske steigernden Zusammenprall mit den Tendenzen der Zeit. Es ist dies eine Seite Hesses, die man über dem Glasperlenspieler nicht vergessen sollte.

An den Gesprächen mit Brecht verstimmt, daß man den Ort und Zeitpunkt des letzten Zusammentreffens der Gesprächspartner erst durch Rückschlüsse ungefähr bestimmen kann (ein erstes fand 1932 in Berlin statt, das zweite ungefähr ein Jahrzehnt später in der Emigration). Auch hätte man si-h eine kurze Einführung, die Günther Anders in seiner Gesprächssituation vorstellt, gewünscht; dies um so mehr, als er sich nicht mit „Gesprächen und Erinnerungen“ begnügt, sondern zu einer Deutung Brechts (der in ihm eine Art „Kreuzung von Wagner und Agent“ sah) gelangt. deren gute Einzelzüge problematisch werden, wenn Anders etwa darzulegen sucht, „wie großartig Brecht sich von Kafka unterscheidet“, oder wenn er, nachdem er festgestellt hat, daß Brechts Dichtung nicht von seiner „Sache“ zu trennen ist, zu dem Schluß kommt: „Wer solche Lebendigkeit zu erfinden weiß, der hat wahrhaftig alles Recht darauf, sich als Diskutant falsch zu rechtfertigen und sich auf die ersten besten und schlechtesten und doktrinärsten Argumente zu berufen. Sogar auf positivistische.“

Die privaten Erinnerungen an Brecht bringen keine neuen Einzelzüge (Höflichkeit, Einsamkeit, verschlossenes Seelenleben, Direktheit und Distanz, Leidenschaft zur Diskussion, Ausweichen in Spott und Lachen); neu sind etliche lakonische Formulierungen Brechts zu sich und seinem Werk, in welchem er das „Experiment als literarische Gattung“ zu seinem Ziel gemacht hat. Brecht: „Der Unterschied zwischen dem üblichen und meinem Theater ist derselbe wie der zwischen beschreibender und experimenteller Physik. Episches Theater ist zugleich experimentelles Theater.“ Fazit: Bertold Brecht bleibt weiter der meist mystifizierte Schriftsteller unserer Zeit.

Anders als Brecht, dem seine Zuhörer jeweils nur „großes oder kleines Gemüse“ bedeuteten, war die nicht weniger egozentrische Gertrude Stein eine „leidenschaftliche Lebenszuhörerin“. Auch sie wirkte als Vorbild und Lehrerin neuer Haltungen und Perspektiven — „Die Mutter der Moderne“ nennt sie Wilder; nur daß sie den Standpunkt vertrat: „Künstler experimentieren nicht. Experimentieren ist Sache der Wissenschaftler. Ein Künstler legt nieder, was er weiß, und in jedem Augenblick ist es das, was er in Jenem Augenblick weiß.“ Schreiben ist für sie die „natürliche Folge des Oberlaufens“.

Der Verlag hätte nichts Sinnvollere tun können, als dem kurzen Vortrag Gertrude Steins, „Was sind Meisterwerke?“, einen Essay Thornton Wilders voranzustellen (es ist das Vorwort zum Werk „Four in America“, das erst nach dem Tode der Dichterin, 1947, erschienen ist). Wilder, den sie als Künstler und Mensch überaus schätzte, war „mit seinen festen Glaubenssätzen und seiner Genauigkeit“ für sie der vielleicht einzige Freund, der ihrem Schaffen gegenüber ganz aufgeschlossen war und ihre wegbereitenden Intentionen verstehen konnte. dem sie nie ihre eigene Anschauung aufzwingen wollte: „Ich führe ihn nicht, ich vertraue mich ihm an.“ So ist er der bis heute Berufenste, dem Leser Zugang zur nicht einfachen Welt Gertrude Steins (Wenn man ihr das eingestand, geriet sie jedesmal wieder darüber in Bestürzung: „Aber was ist daran so schwierig? Lesen Sie nur, was da steht I Es ist englisch. Lesen Sie es nurl Seien Sie natürlich, und Sie werden die Dinge verstehen.“) zu verschaffen und die Kluft verringern zu helfen, die zwischen ihrem ungeheuren Einfluß auf eine ganze Schriftstellergeneration und ihrem eigenen viel zitierten, doch wenig gekannten Werk gähnt.

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