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Lebensform Kaffeehaus

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DAS WIENER KAFFEEHAUS GLEICHT EINEM TREIBHAUS, in dem nur eine ganz bestimmte Spezies, der Kaffeehausmensch, die idealen Lebensbedingungen vorfindet und entsprechend gedeiht. Er führt denn auch ein ganz und gar pflanzenhaftes Dasein, und ein Marsmensch, bei der Landung auf der Erde in ein Wiener Kaffeehaus geraten, würde über die Bewohner unseres Planeten in sein Beobachtungsjournal schreiben: Sie sind festgewachsen, nähren sich von Wasser, Und ihre Lebensäußerungen bestehen darin, daß sie ihre Blätter dem Licht zukehren und von Zeit zu Zeit wenden.

Aber was dem flüchtigen Blick eines .Marsmenschen oder eines amerikanischen Touristen wie ein und dasselbe erscheinen mag, kann doch völlig verschiedene Lebensformen repräsentieren. Auch wenn im Augenblick beide unbeweglich in ihre Zeitungen starren und nur von Zeit zu Zeit einen Schluck Wasser nippen oder eine neue Zigarette anzünden, kann man den echten Kaffeehausmenschen doch nicht streng genug von seiner Pseudoform, dem gelegentlichen Kaffeehausbesucher, unterscheiden. Wessen Blick noch nicht genug geschärft ist, um sie sofort auseinanderzukennen, der braucht nur einige Stunden zu warten: Wer zahlt und geht, ist ein gelegentlicher Kaffeehausbesucher. Der echte Kaffeehausmensch bleibt sitzen.

WIE DIE MUSCHELN AUF EINER AUSTERNBANK, wenn sie sich vermehren, immer enger zusammenrücken, so werden beispielsweise im Wiener Cafe Hawelka die Gäste aufeinander-geschlichtet, wenn abends die Sessel knapp werden. Das Hawelka-Cafe repräsentiert die edelste Sorte unter den Wiener Kaffeehäusern, geistigen Hochlandkaffee sozusagen — das immer wieder totgesagte, immer wieder gleich einem Phönix strahlend dem ÄschenbecTftP9KWefPrfe Wieher Literatencafe. Zusammen mit der schräg gegenj-über gelegenen*Tristitution Trzesniewski, die sich in notorischer Tiefstapelei noch immer „Büffet“ nennt; obwohl sie längst zum kulinarisch-gesellschaftlichen Nabel der nachmittäglichen Innenstadt geworden ist, und wo die Demeline-rinnen des zwanzigsten Jahrhunderts denen des neunzehnten langsam, aber sicher die Mayonnaise abgraben, adelt das Cafe Hawelka die Dorotheerschlucht. Dort, wo sie sich vom winzigen Spalt zwischen Häuserwänden zögernd zur kümmerlichen Verkehrsfläche weitet, fordert sein schwarzer Schwingtürenschlund, der sommers immer offensteht, dezent zum Eintreten auf.

Man sitzt auf harten Stühlen, weil auf den zersessenen Polsterbänken die Gäste schon auf-einanderhocken, man bekommt seinen Einspänner unter einer biedermeierlichen, mit hölzernen Zierleisten eingefaßten Blümchentapete serviert, man wird aus Platzgründen von der ahnungslosen Dame des Hauses seinem • intimsten Feind an den Tisch gesetzt, man balanciert Zeitungsstöße über gefährdete Köpfe und bewundert die artistischen Künste eines Herrn Ali 'oder Franz, denn nach wenigen Jahren Abenddienst im Hawelka ist ein Ober sicherlich reif für den Rebernigg.

Zwei, drei, vier Kaffeehäuser sind hier auf winzigstem Raum ineinandergeschachtelt. Das „Hawelka“ der zeitunglesenden Pensionisten nimmt das „Hawelka“ der Maler und Dichter, das „Hawelka“ der Schauspieler das „Hawelka“ der Studenten nicht zur Kenntnis, das „Hawelka“ der Prominenten ignoriert das „Hawelka“ der Adabeis, das „Hawelka“ der nach Feierabend rasch noch einen Kaffee trinkenden Bardamen hat keine Berührung mit dem „Hawelka“ der alten Damen. Das „Hawelka“ ist somit ein Symbol für unsere Welt, die sich nicht für das Mit-, sondern für das Nebeneinander entschieden hat, ein Triumph der kühlen Koexistenz.

Seine bescheidenen Einrichtungsstücke sind schon heute vom milden Schein geliebter Tradition vergoldet. Die leiseste Andeutung einer bevorstehenden Restaurierung würde wahrscheinlich die mehr oder weniger modernistisch malenden und schreibenden Stammgäste samt ihrem Kometenschweif der Adabeis schnellstens vertreiben. Deshalb wird hier wohl noch lange alles so bleiben, wie es ist.ftt“h*niiyi is9idstfsd lim Ai . !iai2 nswdsil

WAS MAN LEIDER VON DER ECHTEN WIENER KAFFEEHAUSKULTUR im allgemeinen nicht sagen kann, denn hier hat sich manches gewandelt. Es gibt natürlich noch ein paar Inseln, auf denen sie gepflegt wird. Das Cafe Korb zum Beispiel, dem wahrscheinlich in einem Wettstreit um das stillste Kaffeehauslokal von Wien die Siegespalme zustehen würde, oder das Cafe Haag in der Herrengasse, wo die Gemütlichkeit noch nicht die Ärmel aufgekrempelt hat, sondern im Kellnerfrack auftritt und unaufgefordert Wasser bringt. In Hietzing gibt es noch ein paar Kaffeehäuser vom alten Schlag, wo die Zeit stillzustehen scheint - noch hat jeder Bezirk von Wien seine Kaffeehäuser, auch wenn sie zum Teil nur der Eingeweihte kennt. Aber immer mehr setzt sich die Damenbedienung durch, welche die Wiener Kaffeehauskultur, auch wenn's mancher nicht glaubt, in ihrem Wesen zu verändern droht, und auch dort, wo noch Plüsch und Blümchentapete regieren, ist die Espressomaschine eine Selbstverständlichkeit und der Häferlkaffee eine leichtes Erstaunen hervorrufende Bestellung. Aber warum soll auf einer Welt, auf der alles immer anders wird, nur das Kaffeehaus sein liebgewordenes Gesicht bewahren?

AUF DER GRENZLINIE ZWISCHEN KAFFEEHAUS UND ESPRESSO, geistig gesehen, geographisch jedoch am Ende der Neubaugasse, hat sich das Cafe Dreiviertel angesiedelt, in dem man so Manche „HaweJft^Stärnmgast *m* treffen kann, wenn er gerade nicht im „Hawelka“ sitzt - aber ansonsten * erinnert hier nichts an Plüsch und Blümchen. Das „Hawelka“ ist gewachsen, das „Dreiviertel“ hingegen wurde in der Retorte der modernen Architektur destilliert — seltsamerweise wirken seine leeren Wände, seine geraden Linien und seine kompromißlose Schmucklosigkeit gar nicht ungemütlich.

Ausgerechnet hier kann dem Gast, der noch nach 11 Uhr ein „Wiener Frühstück“ begehrt, die Antwort zuteil werden: „Das müssen Sie schon verstehen, mein Herr, aber .Wiener Frühstück' geht nur bis elf - so hab' ich's unterm Franz Joseph gelernt und so halt' ich's bis an mein End', sonst müßt ich mir ja von jedem sagen lassen, daß ich keinen Charakter hab' —, schließlich muß man seinen Prinzipien treubleiben!“

O seltsame Lebensform Kaffeehaus!

Wen wundert es da noch, daß auch die Architekten der Gruppe Vier, die das „Dreiviertel“ eingerichtet haben, einen vollen Sieg davontrugen, als sie, auf ihre Prinzipien pochend, allen, die Bilder an die leeren Wände hängen wollten, den Fehdehandschuh hinwarfen?

LEBENSFORM KAFFEEHAUS.' Die Lebensform ist lebendig wie eh und je, aber die Kaffeehäuser, welche diese Lebensform hervorgebracht hat, werden langsam, aber sicher rar. Früher haben die Kaffeehäuser zusperren müssen, weil die Leute kein Geld gehabt haben, um ins Kaffeehaus zu gehen, Heute stirbt ein Kafteehms mack*;-itm^mi^mn, w^^m-^mte zuviel Geld haben und weil viele große Firmen, auf-4er Suche naeh Idkalitäterf H* neue Filialen, für gute, große Eckgeschäfte Ablösen zahlen, welche die Halbmillionengrenze oft übersteigen.

Wo ist zum Beispiel das Cafe Kremser geblieben, das bestimmt nicht über Gästeschwund klagen konnte? Was ist aus dem Cafe Brillantengrund geworden, aus dem Cafe Central, was haben sie aus dem Kaffeehaus Ecke Landes-gerichtsstraße-Universitätsstraße gemacht? Vergangenheit, versunken wie das Cafe Fröhlich, dessen Stammgäste vor ein paar Monaten delogiert, einfach auf die Straße.gesetzt wurden. Es war das Stammlokal der Thimigs, der Hörbiger, eines Aslan, einer Wessely, eines Danegger.

Umgebaut in ein Delikatessengeschäft! Ein Beispiel für viele. Wir würden nicht fertig, alle Kaffeehäuser aufzuzählen, die in den letzten Jahren zugesperrt haben.

Wo die Geschäftsleute gemütlich ihren Kaffee trinken werden, wenn sie alle Kaffeehäuser fressen? Sie trinken ihren Kaffee nicht gemütlich. Sie trinken ihn im Rennen, Oder bestenfalls im Stehen. Der Kuckuck soll sie holen. Was machen sie aus unserem Leben!

UND WIE SEHEN SIE AUS, die paar Kaffeehäuser, denen das harte Schicksal einer gründlichen „Modernisierung“ doch noch zuteil wurde? Traurig sehen sie aus. Man macht Espressos aus ihnen, und das Wort vom Espressostil ist bekanntlich Synonym für etwas ganz Abscheuliches. Was die lieben Mitmenschen für modern und hypermodern haken, ist nichts anderes als maskierte Gründerzeit, ist übelstes 1880, bloß nicht aus Messing und Kristallglas, sondern aus billigem Plastik. Aber die gleiche Überladenheit, die gleichen Staubfänger, die gleiche Gefühllosigkeit für Form und Material — oder sind Nierentische, und vergrößerte Eierschalen für das Gesäß, und staubfangende Leistchen und was es da an Scheußlichem noch zu übersehen gibt, wirklich schöner, als der Protz unserer Großväter?

Genau das, was der Wiener Loos vor einem halben Jahrhundert für immer unschädlich machen wollte, verbreitet sich heute mit Hilfe industrieller Vervielfältigungsmethoden in seiner Vaterstadt wie das Unkraut über einen vernachlässigten Acker und beruft sich womöglich noch auf ihn. Wie revolutionär waren doch die gern belächelten Zwanziger jähre! Unsere heutigen Zeitgenossen <n'nd alles andere als mod-n

Sie haben es bloß eilig.

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