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Lehrstücke

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Lehrstücke gibt es nicht erst seit Brecht, nur nannte man sie nicht so. Dazu gehört das „sittlich erziehende“ Volksstück „Das vierte Gebot“ von Ludwig Anzengruber, mit dessen Aufführung Leon Epp vor achtzehn Jahren seine für Wien beispielgebende Direktion am Volkstheater begann und das da nun wieder gespielt wird. Anlaß ist das achtzigjährige Bestehen dieser Bühne, mit der Anzengruber besonders verbunden war. Einst bot dieses Stück für Eltern eine heilsame Lehre, die dartat, welches Elend falsches Verhalten den Kindern gegenüber herbeiführt. Der Zeigefinger wird spürbar. Der Hausbesitzer Hutterer zwingt seine Tochter, den ungeliebten, reichen Stolzenthaler zu heiraten, sie gehorcht willenlos, der verkommene Drechslermeister Schalanter begünstigt bei seinen Kindern schlechte Anlagen. Das zeigt die Kehrseite einer damals noch bestehenden Beziehung zwischen den Generationen, die Kehrseite einer Zeit, da die Jugend noch nicht rebellierte. Ist die Schuld heutiger Eltern geringer? Sie hat sich nur verlagert, sie besteht nun sehr oft in übertriebener materieller Fürsorge bei völliger Vernachlässigung des Seelischen.

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Lehrstücke gibt es nicht erst seit Brecht, nur nannte man sie nicht so. Dazu gehört das „sittlich erziehende“ Volksstück „Das vierte Gebot“ von Ludwig Anzengruber, mit dessen Aufführung Leon Epp vor achtzehn Jahren seine für Wien beispielgebende Direktion am Volkstheater begann und das da nun wieder gespielt wird. Anlaß ist das achtzigjährige Bestehen dieser Bühne, mit der Anzengruber besonders verbunden war. Einst bot dieses Stück für Eltern eine heilsame Lehre, die dartat, welches Elend falsches Verhalten den Kindern gegenüber herbeiführt. Der Zeigefinger wird spürbar. Der Hausbesitzer Hutterer zwingt seine Tochter, den ungeliebten, reichen Stolzenthaler zu heiraten, sie gehorcht willenlos, der verkommene Drechslermeister Schalanter begünstigt bei seinen Kindern schlechte Anlagen. Das zeigt die Kehrseite einer damals noch bestehenden Beziehung zwischen den Generationen, die Kehrseite einer Zeit, da die Jugend noch nicht rebellierte. Ist die Schuld heutiger Eltern geringer? Sie hat sich nur verlagert, sie besteht nun sehr oft in übertriebener materieller Fürsorge bei völliger Vernachlässigung des Seelischen.

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Was aber das Lehrhafte bei Anzengruber — das Stück ist fast hundert Jahre alt — grundlegend von der massiven Penetranz heutiger szenischer Schulmeisteret unterscheidet, ist die keineswegs plakative, sondern überaus lebendige Zeichnung der Figuren in einer dramatisch gesteigerten Handlung, wodurch die Szenen bei guter Darbietung, auch noch heute wirken, Das zeigt sich im Volkstheater. Regisseur Gustav Man-ker und Bühnenbildner Georg Schmid rücken die Wiedergabe schon optisch durch den besonders niederen Bühnenausschnitt — etwa sechsmal so breit als hoch — bei sparsamem Einbau von Versatzstücken und Rückwänden vom allzu Konventionellen ab.

Gute Besetzung fast aller Rollen. Egon Jordan als drakonisch gebietender Hutterer, Margarete Fries als dessen larmoyante Frau, Herbert Probst als arbeitsscheuer, sauffreudiger Schalanter und Hilde Sochor als sein verschlamptes Weib, wie Friedl Czepa als deren tief bekümmerte Mutter verkörpern mit Gustav Dieffenbacher und Maria Englstorfer als Gärtnersleute die ältere Generation, Harry Fuss ist ein leichtlebiger, protzenhafter Stolzenthaler, Wolfgang Hübsch ein jähzornig aufbrausender junger Schalanter, Brigitte Swoboda macht das Leichtfertige seiner Schwester glaubhaft. Den stelzigen Text der Hutterertochter spricht Kitty Speiser stelzig, Eugen Stark hat das innerlich Aufrechte des Klavierlehrers, der von ihr abgewiesen werden muß.

Und nun Bertolt Brecht. Lehrhaftes steckt in fast allen seinen Stücken,die Nutzanwendung soll sich im politischen Verhalten zeigen. Erst recht gibt es bei ihm „Lehrstücke“ in aller tendenzhaften Prägnanz. Dazu gehört ,fiie Ausnahme und die Regel“, die derzeit von den „Komödianten“ im Theater am Börseplatz vorgeführt Wird. Menschlichkeit ist Ausnahme, Mißbrauch der Macht, Ausbeutung die Regel. Das prangert Brecht an den Kolonialmethoden an, womit er merkbar nicht nur sie meint

Ein Kaufmann, der einen Träger mit Peitschenhieben durch die Wüste treibt, erschießt ihn, weil er irrtümlich glaubt, der Mißhandelte habe die Absicht, ihn mit einem Stein zu erschlagen. Es ist aber kein Stein, sondern eine Feldflasche, aus dem ihm der Gepeinigte den letzten Rest Wasser reichen wollte. Penetrante Erfindungskraft Brechts: Zuspitzung des Gegensatzes im Verbrechen des Kaufmanns, in der Menschlichkeit des Ausgebeuteten. Übersteigerung in der spitzfindigen Niedertracht des Gerichts mit dem Ergebnis Frei-spruch des Totschlägers. Freche Herrenmoral implicite Nietzsche und Puritanismus wird in keimfreiem Schwarzweiß zu hohnvollem Triumph geführt. Das Stück ist nach wie vor aktuell, nur hat sich die Ausbeutung seit dem Entstehen dieses Stücks vor vierzig Jahren in andere Bereiche verlagert. Die „Komödianten“ bieten unter der Regie von Conny Hannes Meyer eine vollendete, überaus eindrucksvolle Aufführung. Pantomimische Mittel werden ohne jede Ubersteigerung signifikant verwendet, wobei das Schlagzeug — Friedrich Wolf — aufpeitschende Akzente setzt. Jede der Typen wirkt einprägsam, die Gesichter sind durch Schminkstriche, die Sprechweise wird durch interpolierte Pausen verfremdet. Dieter Hofinger als Kuli, Gunther W. Läm-mert als Kaufmann, Michael Ben als Richter haben die tragenden Rollen. Insgesamt: eine Meisterleistung an Präzision und Ausgeglichenheit.

Ein reizvoller Einfall war es von Franz Kafka in der Soloszene „Ein Bericht für eine Akademie“ — Aufführung im Theater im Palais Erzherzog Karl — einen Affen fiktiv vorhandenen gelehrten Zuhörern mitteilen zu lassen, wie er zum Menschen wurde. Bei Handke bedingt die Sprache die Menschwerdung, hier muß der Affe seine schrankenlose Freiheit vergessen, um ein menschenähnliches Bewußtsein, menschliche Intelligenz zu erlangen. Dachte Kafka damit an eine Abbreviatur der Menschheitsentwdcklung? Dazu bleibt das Mitgeteilte doch etwas zu beiläufig. Den Reiz bedingt die Darstellung dieses Geschöpfs, in dem der

Affe noch sehr spürbar ist, was Joachim Schmal als „der Berichtende“ zu nützen weiß. Das im Anschluß gespielte dramatische Fragment „Der Gruftwächter“ von Kafka um den Bewacher einer Fürstengruft, der nachts von den Abgeschiedenen bedrängt wird, konnte unter der Regie von Hartmut Baum kaum beeindrucken. Nur das Bühnenbild von .Axel Schmitt-Falckenberg wirkte beachtlich.

Im “Experiment am Lichtenwerd“ sieht man vier Einakter von H. C. Artmann, „nebel und blatt“, wie auch „lob der optik“ sind Wortduette, in denen der Spaß am Unsinnigen — spaßhaft mehr für den Autor als für uns — als Federball zwischen einem Sprecher und einer Sprecherin hin- und herfliegt. In den Mehrpersonenstücken „aufbruch nach amsterdam“ und „die mißglückte luftreise“ holt Artmann aus der Ahnentruhe verstaubter Effekte, aus den Raritätenkammern versunkener Jahrhunderte vergnüglich Abstruses, in dem man nur ja nach keinem Sinn suchen darf. Surrealistisch schiebt er Inkohärentes aneinander, er pinselt Arabesken ins Blaue, läßt Verschollenes geisterhaft neu erstehen, das Entlegene, Abwegige, Seltsame wird ihm zum ergiebigen Jagdrevier. Um diese Stücke zu voller Wirkung zu bringen, bedarf es profilierter szenischer Umsetzung. Sie gelingt dem Regisseur Peter Amt leider nicht, die Darsteller sind arg überfordert.

Verdienstvoll ist es, nicht nur stets nachzuspielen, sondern neue Autoren, unaufgeführte Stücke herauszustellen. Das geschieht in der „Tribüne“ mit den Farcen „Das Protokoll“ und „Halali“, mit der Groteske „Die Glocke“ des 30jährigen Wieners Peter Slavik. Es geht damit sarkastischem Witz gegen die Lust am Lüsternen, mit schwarzem Humor wird der Haß gegen die Hippies und frei nach Max Frisch, das unbedachte Einwirtschaften von Gefahren angeprangert. Ohne zu einer persönlichen Profüierung oder Weltsicht zu gelangen, bedient sich Slavik mit beachtlichem Geschick der heutigen Ausdrucksmittel des Stückeschreibens. So entstanden drei wirksame Einakter, die unter der handfesten Regie von Gottfried Schwarz mit gewandten Darstellern berechtigt Beifall finden.

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