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BEDINGUNGEN DES ERZÄHLENS

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Was dem erzählerischen Zustand zugrunde liegt, ist nichts geringeres als der Tod einer Sache, nämlich der jeweils in Rede stehenden, die ganz gestorben, voll vergessen und vergangen sein muß, um wiederauferstehen zu können. Das Grab der Jahre hat sie von allen Wünschbarkeiten und Sinngebungen gereinigt, die sie entlangspalieren mußte, solange sie lebte. Damit allein, mit dem vollständigen Absterben und Gleichgültigwerden eines ganzen Komplexes, ist die Gewähr gegeben, daß jede vernünftige, wägende, schätzende Beziehung dazu endgültig durchschnitten wird und daß wir nicht mehr die Ereignisse entlang in ihre vermeintliche oder sollende Fluß- und Zielrichtung blicken (und wir erkennen bei dieser Gelegenheit, daß, was die sogenannte „Tendenzliteratur“ von der Erzählkunst trennt, unmöglich nur die fehlende „Objektivität“ landläufiger Art sein kann). An solchem Faden werden wir das einmal aus unserem aktuellen Leben Abgeschiedene nicht mehr aus der Tiefe der Zeiten heraufzuziehen vermögen. Damit aber, mit dem Ausscheiden der Möglichkeit, den „Stoff“ aus irgendwelchen rationalen oder gar rationellen Motiven zu wählen und zu ergreifen, damit, daß jener sich außerhalb der Reichweite solchen Zugriffes befindet: damit ist seine spontane freisteigende Wiederkehr ermöglicht, sein Wiedererscheinen auf einer neuen und anderen Ebene: nämlich jener der Sprache. Ecrire, c’est la rėvė- lation de la grammaire par un Souvenir en choc. Wiederkehren kann nur, was vergangen war, wirklich vergangen war nur, was wiedergekehrt ist. Die Gegenwart des Schriftstellers ist seine wiederkehrende Vergangenheit; er ist ein Aüg’, dem erst sehenswert erscheint, was spontan in die historische Distanz rückt. Was man sonst und vorher schon Leben nennt, deckt ihm diese als Störung. Aber das ineinander gesunkene und verschobene Gemäuer in der braunen Tiefe der Jahre dort unten ist ihm kein Steinbruch, wo er hingeht, Baustoff zu holen. Sondern von selbst wird plötzlich ein Teil aufleuchten wie von innen erhellter Smaragd, grünglühend, und jedesmal wird dieser Teil als ein Eckstein erkannt werden, der verworfen war.

Damit erst sind die Bedingungen des Erzählens zustandegekommen. Das durch sein Sterben aus der Zeit und ihrem ständig sich verändernden Wandelteppich hinausgeratene Objekt ist immobil und überschaubar geworden. Erst das Überschaubare kann erzählt werden auch in der ganzen Zahl seiner Einzelheiten, mit aller Ausführlichkeit, die dem Erzähler keine Ungeduld macht, denn er ist kein Mitteilender, welcher hervorsprudelt und gegen den Hörer zu das Gleichgewicht verliert, weil er in diesen unbedingt den oder jenen Eindruck hineinpressen will. Des Erzählers Rede ist stabil, sie ruht in sich selbst, sie ist Monolog: wie aufsteigende Erinnerungen. Was er erzählt, ist ein Vermögen in schon gesichertem Besitze, welch letzteren scheinen zu machen, er keineswegs nötig hat. Daher die Unaufdringlichkeit dieses literarischen Verhaltens und am Ende auch seiner fertigenProdukte, die still in Paletottaschen oder Reisemappen wohnen und ersrt sprechen, wenn man sie hervoraieht, dann aber ohne weitere Zurüstung und sofort; und in diesem kompletten und stets bereiten Verhalten kann ihnen kaum ein Werk der bildenden Künste oder der Musik jemals gleichkommen.

Wenn ich etwas über die Technik des Romanes sagen darf, so wäre es vor allem dieses, daß sie jetzt erst im Begriff ist, ihre epische Schwester in der Musik, nämlich die große Symphonie, einigermaßen einzuholen. — Das bedeutet die Priorität der Form vor den Inhalten: in der Tat wird erst durch sie der Roman zum eigentlichen Sprachkunstwerk.

Praktisch wird damit das Bestehen eines dynamischen Gesamtbildes für ein gesamtes Werk verlangt — das heißt also, ein klarer Überblick über das ganze Gefälle der Erzählung mit all’ ihren Beschleunigungen, Stauungen und Entladungen — lange noch bevor deren jeweilige Inhalte fest- Btehen, entstanden nur aus rudimentären Keimen, oder sogar noch vor diesen. Ich machte solche Erfahrungen schlagartig bei der Konzeption einer Erzählung („Die Posaunen von Jericho") im Jahre 1951, von welcher ich nur ein sehr klares und ins einzelne gehendes dynamisches Gesamtbild besaß, gerade genug, um eine Konstruktionszeichnung davon auf ein Reißbrett zu bringen.

Diese verhielt sich dann praktisch dem Leben gegenüber wie ein leeres Gefäß, das man unter die Wasseroberfläche drückt: unverzüglich schossen die Inhalte ein und erfüllten integral die Form. An Inhalten besteht — wenn einmal ein gewisses Stadium der „Zugänglichkeit“ erreicht ist — nie ein Mangel...

Hält die Komposition, dann muß sie in allen ihren Teilen improvisiert werden. Dieses Schweben des Schriftstellers zwischen der klaren Konstruktion und deren ständiger Auflösung ist eine der größten Paradoxien innerhalb der Kunst des Romans. Es kommt aber nicht darauf an, eine endgültige Lösung für diese Paradoxie zu finden, sondern darauf, daß man sie aushält.

Demgegenüber sind wissenschaftliche Sachbearbeitungen mit ihrem Penetrieren der' Inhalte verhältnismäßig harmlose Jagdgründe, wo man sich getrost und mit Behagen ein wenig wichtig machen darf, sei’s gleich, daß man sodann kaum ein Zehntel der gewonnenen Kenntnisse oder gar Ergebnisse wirklich gebraucht: das Verschwiegene, wenn es nur reich und gründlich ist, gibt erst dem Vorgebrachten einen wirklich sonoren Klang.

Nur so vermag der Schriftsteller die Wissenschaften auf dam Boden der Universalität — und das ist der Roman — festzuhalten. Ein Romancier, der von sich sagt „Ich bin Kunsthistoriker (Paläontologe, Nationalökonom)“ verkennt sich selbst und kennt nicht seinen Ort und Stand: denn nichts ist er von alledem, mag er gleich sämtliche Diplome in der Lade haben. Was aber ist er denn nun wirklich, der Schriftsteller, dieser Mensch, dem nichts heilig ist, weil alles? Nichts ist er, gar nichts, und man suche nichts hinter ihm. Es ist ein Herr unbestimmten Alters, der einem dann und wann im Treppenhaus begegnet.

Aus: Grundlagen und Funktion des Romans (Glock & Lutz 1959).

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