6696437-1963_09_11.jpg
Digital In Arbeit

Bei Durchquerung eines Neulandes

Werbung
Werbung
Werbung

Die Verfasserin dieses in jeder Hinsicht anregenden Buches ist durch ihr erstes, in demselben schweizerischen Verlag erschienenes Werk „Der jüdische Witz“ weithin bekannt, ja berühmt geworden. Es liegt, nach zwei Jahren, in seiner fünften Auflage und im 44. Tausend vor, und es dankt diesen Erfolg drei Haupteigenschaften, die wir auch in dieser zweiten Veröffentlichung Salcia Landmanns wiedet-finden: einer ausgezeichneten Darstellung, die gleichwohl nicht an der Oberfläche haftet, und die journalistische, feuilletoni-stische Mätzchen vermeidet; einer profunden Sachkenntnis und endlich der heißen Liebe zu ihrem Volk, die nicht nur angenehm berührt, sondern auch den an sich innerlich weniger oder gar nicht Beteiligten beeinflußt, ihn besticht und mitreißt.

Zunächst gilt es Antwort datauf zu finden, ob das . Jiddische als eigene Sprache, als deutsche Mundart oder als was denn sonst angesehen werden soll. Frau Landmann entscheidet sich füt die völlige Eigenständigkeit. Was die Gegenwart und eine, in der Zeit bis zu sehr variablen und umfochtenen Grenzen zurückreichende, neuere Vergangenheit anlangt, durchaus mit Fug. Nur Unkenntnis oder das in halb-infantilen Komplexen wurzelnde Verlachen einer absonderlich anmutenden Redeweise können sich damit begnügen, den „Jargon“, das „Judendeutsch“ einfach als verdorbenes Deutsch anzusehen. Ernstzunehmen ist die Frage, ob es sich beim Jiddisch um ein völlig unabhängig gewordenes Idiom oder um eine Mundart dreht. Die glücklichste Lösung scheint mir in der vom hervorragenden Fachmann Beranek gewählten Bezeichnung, „Nebensprache“ des Deutschen, zu liegen. Wobei die Tendenz einwandfrei zutage tritt, eine jede Bindung ans Deutsche aufzugeben. Die Analogie zu zwei Tochtersprachen des Deutschen drängt sich auf. Das Niederländische ist aus einem westniederdeutschen Dialekt zur selbständigen Schriftsprache geworden; das Schwyzerdütsch ist vielleicht auf dem Wege, diesem Beispiel zu folgen. Das, worauf es ankommt, sind der Besitz erstens einer festgeprägten eigenen Grammatik, zweitens eines eigenen, alle Literaturzweige umfassenden, auch zu wissenschaftlicher Prosa fähigen Schrifttums. Ähnliche Vorgänge wie beim Holländischen und beim Schwyzerdütsch waren und sind an der Loslösung des Norwegischen vom Dänischen, dann an der des Bjelorussischen (Weißrussischen) und Ukrainischen vom Großrussischen zu verfolgen.

Das Jiddische hat sich aus dem Judendeutsch entwickelt, das nichts anderes als ein mit hebräischen und anderen nichtdeutschen Worten vermengtes Fränkisch oder Alemannisch gewesen war. Ob die in Deutschland lebenden Juden vor den Kreuzzügen wirklich, so meint die Verfas-serin, ein „reines Deutsch“, das heißt die Mundart ihrer örtlichen Umgebung, gesprochen haben, wage ich zu bezweifeln. Auch vor der Einschließung ins Ghetto wird das Deutsche im jüdischen Mund Besonderheiten aufgewiesen haben, zumal ob der Sprachmelodie, des Rhythmus und auch des Vokabulars. Reden nicht auch die amerikanischen Neger, die längst ihre ursprünglichen Idiome verlernt hatten, eine ihnen eigentümliche Form des Englisch-Amerikanischen?

In einem zweiten Stadium hört das Urjiddisch auf, Deutsch zu sein; es wird zu dessen Tochtersprache. Endlich geschieht der letzte Schritt. Das Jiddisch wird um 1900 zur vollgültigen, selbständigen Sprache, die zwar den überwiegend, etwa zu drei Vierteln, deutschen Wortschatz beibehalten hat und darin die slawischen, hebräischen und, in geringem Umfang, romanischen, griechischen Elemente noch immer in der Minderheit beharren, die jedoch vom Geist des Hebräischen, des Erbes aus dem Alten Testament, aus Talmud und Middrasch beherrscht wird. Eine feste Grammatik kristallisiert sich heraus, und eine sehr schätzbare Literatur erstreckt sich über alle Hauptzweige der Dichtung — erzählende Prosa, Lyrik und Drama. Über dieses Schrifttum berichtet Frau Dr. Salcia Landmann in ihrem stoffreichen Buch, dem sie den treffenden Untertitel gab: „Das Abenteuer einer Sprache“. Das Werk enthält auch ein ausgezeichnetes, obzwar bewußt nur auswählendes, Lexikon jiddischer Wörter und Redensarten samt etymologischer Erklärung, ferner hundert mit nebenstehender deutscher Übersetzung versehene Sprichwörter und Geschichtchen, eine witziger als die andere. Sodann eine eindringliche Untersuchung des Rotwelsch, der Gaunersprache, die überaus reichlich aus dem Jiddischen geschöpft hat. Der Band ist vor allem für einen breiten Leserkreis bestimmt. Doch der Fachgelehrte — Philologe, Historiker,

Soziologe — wird es seinerseitt mit Gewinn lesen. Es ist ein erster Führer durch Neuland, bei dessen Durchquerung wir allmählich mit Überraschung wahrnehmen, wie alt es ist, und wie wenig man davon, bis in die Kreise assimilierter Juden, von ihm gewußt hat.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung